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Frieda war davon ausgegangen, dass sich der Trubel inzwischen gelegt hatte und sie in ein dunkles, fast menschenleeres Polizeirevier zurückkehren würde, aber dem war ganz und gar nicht so. Als sie es betrat, schlug ihr erneut Lärm entgegen. Metallstühle wurden scharrend zurückgeschoben, Türen geöffnet und wieder geschlossen. Telefone klingelten, irgendwo im Haus schrie jemand vor Wut oder Angst, und draußen auf dem Gang hörte man immer wieder eilige Schritte. Frieda ging durch den Kopf, dass auf einem Polizeirevier während der Weihnachtszeit wahrscheinlich besonders viel Betrieb herrschte, weil die Betrunkenen um diese Zeit noch betrunkener und die Einsamen noch einsamer waren. Die Traurigen und die Verrückten fanden ihr Los noch unerträglicher als sonst, und die ganze Qual und Scheußlichkeit des Lebens kam an die Oberfläche. Jeden Moment konnte jemand mit einem Messer in der Brust oder einer Nadel im Arm zur Tür hereintaumeln oder eine Frau mit einem blau geschlagenen Gesicht auf die Theke am Eingang zuschwanken und erklären, er habe ihr nicht wehtun wollen.

»Nichts Neues?«, wandte sie sich an Karlsson, der sie im Eingangsbereich in Empfang nahm. Wobei sich die Frage eigentlich erübrigte, weil ihm die Antwort ins Gesicht geschrieben stand.

»Uns läuft die Zeit davon«, erklärte er. »Am Ende muss ich die beiden wieder laufen lassen. Dann haben sie gewonnen. Kein Matthew Faraday, keine Kathy Ripon.«

»Was erwarten Sie sich von mir?«

»Keine Ahnung. Vielleicht könnten Sie mit ihnen reden. Ist das nicht Ihr Beruf?«

»Ich bin keine Hexe. Ich habe auch keinen Zauberspruch auf Lager, der sie zum Reden bringt.«

»Schade.«

»Ich spreche trotzdem mit ihnen. Wird das eine offizielle Sache?«

»Wie meinen Sie das?«

»Werden Sie dabei sein? Wollen Sie die Gespräche aufzeichnen?«

»Wie hätten Sie es denn gern?«

»Am liebsten würde ich alleine mit ihnen reden.«

 

Dean Reeve sah überhaupt nicht müde aus, ganz im Gegenteil. Er wirkte viel frischer als bei ihrer ersten Begegnung, fast als zöge er aus der Situation so viel Kraft, dass er sich inzwischen unangreifbar fühlte. Während Frieda sich einen Stuhl zurechtrückte, ging ihr durch den Kopf, dass er das Ganze richtig zu genießen schien. Er lächelte sie an.

»Jetzt sollen also Sie mit mir reden. Das ist nett. Eine hübsche Frau.«

»Ich soll nicht reden«, widersprach sie, »sondern zuhören.«

»Was wollen Sie denn hören? Vielleicht das hier?«

Er begann mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte zu klopfen. Auf seinem Gesicht lag immer noch die Andeutung eines liebenswürdigen Lächelns.

»Sie sind also ein Zwilling«, begann Frieda.

Tap, tap-tap, tap.

»Noch dazu ein eineiiger Zwilling. Wie fühlt sich das denn an?«

Tap, tap-tap, tap.

»Sie haben es nicht gewusst, oder?«

Tap, tap-tap, tap.

»Ihre Mutter hat es Ihnen nie gesagt. Was ist das für ein Gefühl, wenn man plötzlich erfährt, dass man nicht einzigartig ist? Dass es da draußen jemanden gibt, der so aussieht wie man selbst, so spricht wie man selbst und so denkt wie man selbst? All die Jahre dachten Sie doch, es gäbe nur einen von Ihrer Sorte.« Während er sie weiter liebenswürdig anlächelte, fuhr sie fort: »Sie sind wie ein Klon. Und haben nie etwas davon gewusst. Ihre Mutter hat Ihnen das all die Jahre verheimlicht. Fühlen Sie sich dadurch nicht irgendwie verraten? Schließlich hat sie Sie ganz schön für dumm verkauft.«

Er klopfte weiter mit seinem dicken Finger auf die Tischplatte, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von Frieda abzuwenden. An seiner lächelnden Miene veränderte sich nichts, aber Frieda spürte seine Wut auf ihrer Haut, die den ganzen Raum verpestete.

»Alle Ihre Pläne sind gescheitert. Jeder weiß, was Sie getan haben. Wie fühlt sich das an, wenn so eine Sache, die man klammheimlich machen wollte, plötzlich ans Tageslicht gezerrt wird? Der Junge sollte Ihr Sohn werden, stimmt’s? So war das doch geplant, oder?«

Das Klopfen wurde lauter. Frieda spürte den heimtückischen Rhythmus bis in ihr Gehirn.

»Wenn Sie sich vorkommen wie Matthews Vater, wie können Sie ihn dann in Gefahr bringen? Ihre Aufgabe ist es, ihn zu beschützen. Wenn Sie mir sagen, wo er ist, retten Sie damit nicht nur ihn, sondern auch sich selbst. Und Sie behalten die Kontrolle.«

Frieda wusste, dass er nichts sagen würde. Er würde sie nur weiter sanft anlächeln und mit dem Finger auf die Tischplatte klopfen. Er würde nicht zusammenbrechen, sondern einfach alle aussitzen, die kamen und ihm gegenüber Platz nahmen. Er würde jeden von ihnen anstarren, bis sein Gegenüber irgendwann den Blick abwandte. Er würde sein Schweigen nicht brechen. Und jedes Mal, wenn wieder jemand unverrichteter Dinge abzog, war das für ihn ein weiterer kleiner Sieg, der ihn stärkte. Als Frieda aufstand und ging, spürte sie sein triumphierendes Lächeln in ihrem Rücken.

 

Terry war anders. Sie schlief, als Frieda zu ihr in den Raum kam. Sie hatte den Kopf auf die gefalteten Hände gebettet, und aus ihrem offenen Mund drang leises Schnarchen. Ein wenig Speichel lief ihr übers Kinn. Selbst als sie schließlich hochschreckte und Frieda einen Moment verschlafen anstarrte, als wüsste sie nicht, wer sie war, richtete sie sich nicht auf, sondern behielt ihre hingelümmelte Haltung bei. Von Zeit zu Zeit legte sie sogar den Kopf auf die Tischplatte, als wollte sie weiterschlafen. Ihr Make-up war verschmiert, und an ihren Zähnen klebte Lippenstift. Ihr Haar wirkte fettig. Frieda hatte den Eindruck, dass sie weder Angst noch größere Wut empfand, sondern einfach nur sauer war, weil man sie zwang, stundenlang in diesem ungemütlichen Raum zu sitzen. Sie wollte zurück in ihr überheiztes Haus, zu ihren Katzen. Sie lechzte nach einer Zigarette, und sie fror. Außerdem hatte sie Hunger. Das Zeug, das sie ihr vorgesetzt hatten, war scheußlich gewesen. Müde war sie auch – was man ihr deutlich ansah: Ihr Gesicht wirkte aufgedunsen, ihre Augen waren gerötet. Hin und wieder schlang sie die Arme um ihren großen, erbärmlichen Körper, als wollte sie sich selbst zum Trost umarmen.

»Wie lange kennen Dean und Sie sich schon?«, fragte Frieda.

Terry zuckte mit den Achseln.

»Wann haben Sie geheiratet?«

»Vor einer Ewigkeit.«

»Wie haben Sie sich kennengelernt?«

»Das ist schon viele Jahre her, wir waren damals noch Kinder. Kann ich jetzt endlich eine rauchen?«

»Gehen Sie zur Arbeit, Terry?«

»Was genau sind Sie eigentlich? Sie gehören doch gar nicht zu denen, oder? Sie sehen nicht aus wie eine Polizistin.«

»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt. Ich bin so eine Art Ärztin.«

»Mir fehlt nichts. Abgesehen davon, dass sie mich hier festhalten.«

»Haben Sie das Gefühl, immer tun zu müssen, was Dean Ihnen sagt?«

»Ich brauche eine Zigarette.«

»Sie müssen nicht tun, was Dean Ihnen sagt.«

»Ja, schon klar.« Sie gähnte übertrieben. »Sind Sie jetzt fertig?«

»Sie müssen ihm nicht gehorchen. Erzählen Sie uns ruhig von Matthew. Erzählen Sie uns von Joanna und Kathy. Das wäre sehr mutig von Ihnen.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Sie bilden sich ein, über mein Leben Bescheid zu wissen, aber das tun Sie nicht. Leute wie Sie wissen nichts über Leute wie uns.«