32
Es ist dieselbe Frau«, sagte Frieda.
»Zumindest sieht sie ihr ähnlich.« Karlsson rieb sich heftig mit der Hand übers Gesicht.
»Ja, meinen Sie?«
»Natürlich.«
Er betrachtete sie mit grimmiger Miene.
»Das ist die Frau, an die Rose sich erinnert hat«, erklärte Frieda.
»Rose hat sich nicht erinnert. Man hat sie per Multiple Choice durch eine Bilderserie gelotst, die am Ende auf dieses Gesicht hier reduziert wurde. Das ist nicht dasselbe wie sich erinnern.«
»Aber es ist trotzdem die Frau. Natürlich ist sie es. Fällt Ihnen dazu eine andere Erklärung ein?«
»Es bedarf keiner gottverdammten Erklärung! Durch eine Abfolge von vorgegebenen Bildern wurde einer gestörten jungen Frau ein Gesicht suggeriert, das sie unter Umständen vor zwanzig Jahren mal gesehen hat, das aber genauso gut auch ein Produkt ihrer Fantasie sein könnte. Und zufällig ähnelt dieses Gesicht ein wenig einem Frauenfoto aus dem Haus eines Mannes, der gerade ansatzweise verdächtigt wird, ein anderes Verbrechen begangen zu haben. Was glauben Sie, wie das vor Gericht ankäme?«
Frieda gab ihm keine Antwort.
»Von Matthew nach wie vor keine Spur. Und wenn ich sage, keine Spur, dann meine ich damit: nicht die geringste. Keinen Faden, keine Faser. In dem Haus gab es einen Raum, den sie gerade frisch gestrichen haben. Die Farbe war noch feucht. Mal angenommen, sie hätten ihn dort gefangen gehalten, dann wäre jetzt jede Spur von ihm überdeckt. Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, dass er längst tot ist und ich mich gerade für dumm verkaufen lasse. Es kommt mir vor, als wollte mich jemand in eine Welt aus Schatten und Hoffnungen locken. Wenn es die Eltern des Jungen wären, könnte ich es ja noch verstehen. Aber Sie steigen voll darauf ein.«
Frieda betrachtete das Foto so eindringlich, dass ihr davon fast schon der Kopf schmerzte. »Es ist ein altes Familienfoto«, stellte sie fest.
»Ja, wahrscheinlich.«
»Schauen Sie mal.« Frieda legte eine Hand über den oberen Teil des Bildes, sodass das Haar der Frau abgedeckt war.
»Was?«
»Sehen Sie denn nicht die Ähnlichkeit? Mit Dean Reeve, und auch mit Alan. Es muss seine Mutter sein. Ihre Mutter.« Frieda begann nachdenklich vor sich hin zu murmeln.
»Sollte ich jetzt verstehen, was Sie da von sich geben?«
»Wissen Sie noch, wie ich zu Ihnen gesagt habe, Joanna könnte von einer Frau entführt worden sein? Mit einem Mann wie Dean Reeve wäre sie bestimmt nicht mitgegangen. Aber vielleicht mit ihr. Meinen Sie nicht auch?«
»Tut mir leid«, antwortete Karlsson, »aber ich war in Gedanken wohl gerade bei anderen Dingen. Unter anderem muss ich eine Ermittlung leiten, Leute verhören, diversen falschen Spuren nachgehen und alle möglichen anderen Lappalien erledigen. Es gibt so etwas wie Regeln. Wir brauchen konkrete Anhaltspunkte, handfeste Beweise.«
Frieda ignorierte ihn. Sie fixierte das Foto, als könnte sie es auf diese Weise zur Herausgabe seiner Geheimnisse zwingen. »Ob sie wohl noch lebt? Rein vom Alter her wäre das durchaus denkbar.«
»Das lässt sich herausfinden«, sagte er.
Plötzlich fiel Frieda wieder ein, was sie ihn schon die ganze Zeit fragen wollte. »Ist mit Ihren Kindern alles in Ordnung?«
»Sie sind wieder bei ihrer Mutter, falls Sie das meinen.«
»Sind die beiden mit Josef klargekommen?«
»Er hat Pfannkuchen für sie gemacht und ihnen mit wasserfester Tinte Muster auf die Beine gezeichnet.«
»Gut«, meinte sie grinsend, wurde aber gleich wieder ernst. »Behalten Sie Dean im Auge?«
»Klar, auch wenn es nicht viel nützen wird«, gab Karlsson in grimmigem Ton zurück. »Selbst wenn Sie richtig liegen, weiß er jetzt ja, dass wir ihn auf dem Kieker haben.«
»Sie meinen, er wird Sie nicht zu Matthew führen, weil er davon ausgeht, dass Sie ihn beobachten?«
»Genau.«
»Aber wenn die beiden Matthew irgendwo anders versteckt haben, müssen sie ihm doch etwas zu essen und zu trinken bringen.«
Er zuckte mit den Achseln. Seine Miene wirkte düster. »Wahrscheinlich ist dieser Dean gar nicht unser Mann«, gab er zu bedenken, »und wenn doch, dann hat er den Jungen wahrscheinlich längst getötet. Sollte er sich damit aber wider Erwarten noch Zeit gelassen haben, dann hat er ihn vermutlich umgebracht, nachdem Sie an seine Tür geklopft hatten. Und wenn nicht… nun, dann braucht er jetzt nur auf seinem Hintern sitzen zu bleiben und zu warten.«
Karlsson beugte sich über Rose, die gerade das Foto studierte. In ihrer kleinen Küche war es kalt. Ein hässlicher brauner Fleck verunzierte die Decke des Raums. Der Heizkörper an der Wand gurgelte, und ein Wasserhahn tropfte.
»Und?«, fragte er schließlich.
Rose blickte zu ihm hoch. Ihm fiel auf, was für eine bleiche, zarte Haut sie hatte und wie deutlich man die feinen blauen Äderchen unter der Oberfläche sehen konnte.
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Aber Sie sind der Meinung, sie könnte es sein?« Am liebsten hätte er sie an ihren schmalen Schultern gepackt und geschüttelt.
»Ich weiß nicht«, wiederholte sie, »ich kann mich nicht erinnern.«
»Das Bild weckt bei Ihnen also keine Erinnerung?«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Damals war ich doch noch ein kleines Mädchen«, erklärte sie. »Ich habe das alles längst vergessen.«
Karlsson richtete sich auf. Sein Rücken schmerzte, und sein Nacken fühlte sich steif und wund an. »Natürlich«, sagte er. »Was habe ich eigentlich erwartet?«
»Es tut mir leid. Aber Sie wollen doch nicht, dass ich etwas sage, das Sie auf eine falsche Spur bringt?«
»Warum nicht?« Sie erschraken beide über sein plötzliches lautes Lachen. »Alle anderen tun das doch auch.«
Frieda saß an ihrem kleinen Schachtisch und spielte eine Partie aus ihrem Buch berühmter Spiele nach, Beliawski gegen Nunn aus dem Jahr 1985. Bedächtig ließ sie ihre Figuren, die an der Unterseite mit Filz überzogen waren, auf dem Brett vorrücken. Im Kamin flackerte ein Feuer. Die Uhr tickte vor sich hin, die Minuten vergingen. Ein Bauer nach dem anderen fiel, während die Königin weiter vorrückte. Frieda musste an Dean und Alan denken, an ihre dunkelbraunen Augen. Sie versuchte sich Matthews sommersprossiges, fröhliches Gesicht vorzustellen, und dann das von Joanna, mit ihrer Zahnlücke und dem ängstlichen Lächeln. Sie versuchte, sich nicht vorzustellen, wie die beiden mit schriller, angsterfüllter Stimme nach ihren Müttern riefen – in der Hoffnung, sie könnten kommen und sie retten. Frieda schien, als fiele ihr Gehirn zwischen die Ritzen des Schachbretts. Irgendetwas hatte sie übersehen, irgendeinen winzigen, verborgenen Schlüssel zu dem unlösbar scheinenden Rätsel. Egal, welche Gräuel dadurch ans Tageslicht kämen, alles wäre besser als dieser Zustand der Unklarheit. Sie rief sich ins Gedächtnis, wie Matthews Eltern bei der Pressekonferenz ausgesehen hatten – von Angst und Schrecken gezeichnet. Was mochten sie empfinden, wenn sie Nacht für Nacht schlaflos im Bett lagen und sich vorstellten, wie ihr Sohn nach ihnen rief? Wie hatten sich die Eltern von Joanna gefühlt, als schließlich Monate und dann Jahre ins Land zogen und sie nie Gewissheit bekamen – und auch kein Grab, auf das sie Blumen hätten legen können?
Um Mitternacht klingelte das Telefon.
»Haben Sie schon geschlafen?«, fragte Karlsson.
»Ja«, log Frieda, die gerade einen Läufer vom Brett genommen hatte und ihn nun abwartend in der Hand hielt.
»Ich besuche morgen früh Mrs. Reeve in einem Altersheim in Beckton. Möchten Sie mitkommen?«
»Sie lebt also noch. Ja, natürlich komme ich mit.«
»Gut. Ich schicke Ihnen einen Wagen vorbei.«
Als Schülerin war Frieda mal in Beckton gewesen, um das Gaswerk zu besichtigen. Es war ihr damals vorgekommen wie eine riesige Ruine in der Wüste. Sie hatte sogar noch das Foto, das sie an dem Tag gemacht hatte. Inzwischen war das alles verschwunden. Nur ein grasbewachsener Schlackehügel erinnerte noch daran, wo es einmal gestanden hatte. Offenbar hatte man alles Alte und Befremdliche abgerissen, und an ihre Stelle waren nun Reihenhäuser aus den Achtzigern, Wohnblöcke, Einkaufszentren und kleine Gewerbegebiete getreten.
Beim River View Nursing Home – dessen Name höchst irreführend war – handelte es sich um ein großes modernes Gebäude aus nackten orangeroten Ziegeln. Der ganze Komplex war einstöckig und um einen Innenhof herumgebaut. In der Mitte befand sich eine kleine Rasenfläche mit etlichen kahlen Stellen. Bäume oder Büsche gab es keine. Die metallgerahmten Fenster waren mit Gittern versehen. Frieda fand, dass das Ganze an eine Kaserne erinnerte. In der überheizten Eingangshalle standen jede Menge Rollstühle, Gehhilfen und Gehstöcke herum. Die Dekoration beschränkte sich auf einen großen Krug mit Plastikblumen. Es roch, als würde gerade irgendwo Porridge gekocht, wobei zusätzlich auch der Kiefernnadelduft irgendeines Raumsprays in der Luft hing. Frieda hörte das leise Gedudel eines Radios, aber ansonsten war es sehr ruhig. Umso lauter hallten nun ihr Schritte durch den Eingangsbereich. Vielleicht lagen die meisten Bewohner noch im Bett. Im Aufenthaltsraum befanden sich nur zwei Personen. Bei der einen handelte es sich um einen sehr dünnen Mann mit glänzender Glatze und einer Brille, deren runde Gläser das Licht reflektierten, bei der anderen um eine dicke Frau, die in einen zeltähnlichen orangeroten Umhang gehüllt war. Ihr Hals steckte in einer Halskrause, ihre Füße in überdimensionalen Plüschhausschuhen. Auf den Tischen lagen jede Menge Puzzleteile herum.
»Hier geht es zu Mrs. Reeve«, erklärte die Frau, die sie in Empfang genommen hatte. Sie trug ihr graues Haar zu festen, gleichmäßigen Locken gewickelt und wackelte beim Gehen mit dem Hintern. Außerdem fiel Frieda auf, dass sie ausgesprochen muskulöse Waden und Unterarme besaß und sich ihre Mundwinkel selbst dann nach unten zogen, wenn sie lächelte. Ihr Name war Daisy, aber sie sah nicht aus wie eine Daisy.
»Ich sollte Sie vielleicht darauf vorbereiten«, erklärte sie, bevor sie die Zimmertür aufschob, an deren Außenseite ein kleiner Spion angebracht war, »dass sie Ihnen nicht viel erzählen wird.« Sie bedachte die beiden Besucher mit ihrem nach unten gezogenen Lächeln.
Sie betraten einen kleinen, rechteckigen Raum. Die Luft war drückend und roch nach Desinfektionsmitteln. Vor dem Fenster befand sich ein Gitter. Das Zimmer wirkte leer. Lief ein Leben am Ende darauf hinaus? Ein schmales Bett, ein Bild von der Seufzerbrücke an der Wand, ein kleines Bücherregal, in dem eine ledergebundene Bibel stand, ein Hündchen aus Porzellan, eine Vase ohne Blumen und ein großes, silbergerahmtes Foto von dem Sohn, den sie behalten hatte. In einem Sessel neben dem Schrank saß eine stämmige Gestalt, bekleidet mit einem Hauskleid aus Flanell und dicken braunen Stützstrümpfen.
June Reeve war so klein, dass ihre Füße im Sitzen kaum den Boden berührten, und ihr Haar war zum gleichen Grauton verblasst wie das von Alan und Dean. Als sie ihnen den Kopf zuwandte, konnte Frieda zunächst keine Ähnlichkeit mit dem Foto erkennen. Ihr Gesicht war breiter geworden und schien dabei seine ursprüngliche Form verloren zu haben. Übrig geblieben waren nur noch ein paar in Fleisch gebettete Gesichtszüge: ein ehemals markantes Kinn, ein kleiner Mund mit trockenen Lippen und trüb gewordene braune Augen, die trotzdem noch an die ihrer Söhne erinnerten. Es war schwer zu sagen, wie alt sie war. Siebzig? Hundert?
»Besuch für Sie«, verkündete Daisy laut.
»Was hat sie mit ihren Händen gemacht?«, fragte Karlsson.
»Sie kaut an ihren Fingern herum, bis sie bluten, deswegen haben wir ihr diese Mullfäustlinge verpasst.«
»Hallo, Mrs. Reeve«, sagte Frieda.
June Reeve gab ihr keine Antwort, reagierte aber mit einer seltsamen, ruckartigen Bewegung ihrer Schultern. Sie taten ein paar Schritte in den Raum hinein, der für vier Personen kaum groß genug war.
»Ich lasse Sie dann mal allein«, meinte Daisy.
»Mrs. Reeve?«, wandte Karlsson sich an sie. Dabei schnitt er eine Grimasse und zog den Mund in die Breite, als könnte eine möglichst klare Aussprache den Sinn seiner Worte verdeutlichen. »Mein Name ist Malcolm Karlsson, und das hier ist Frieda.«
Der Kopf von June Reeve fuhr herum. Sie richtete ihren glasigen Blick auf Frieda.
»Sie sind Deans Mutter.« Frieda ging neben ihr in die Knie. »Dean? Erinnern Sie sich an Dean?«
»Wer will das wissen?« Ihre Stimme klang undeutlich und heiser, als wären ihre Stimmbänder beschädigt. »Ich mag keine neugierigen Wichtigtuer.«
Frieda betrachtete ihr Gesicht und versuchte aus den Falten und Furchen eine Geschichte herauszulesen. War dieses Gesicht vor zweiundzwanzig Jahren am Schauplatz von Joannas Entführung gewesen?
June Reeve rieb ihre behandschuhten Hände aneinander. »Ich mag meinen Tee stark, mit viel Zucker.«
»Ein hoffnungsloser Fall«, meinte Karlsson.
Frieda beugte sich so weit vor, dass ihr der säuerliche Geruch der alten Frau in die Nase stieg. »Erzählen Sie mir von Joanna«, sagte sie.
»Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram.«
»Joanna. Das kleine Mädchen.«
June Reeve gab ihr keine Antwort.
»Haben Sie sie entführt?«, fragte Karlsson in grobem Ton. »Sie und Ihr Sohn? Erzählen Sie uns davon.«
»So wird das nichts«, ermahnte ihn Frieda. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Es war vor dem Süßwarenladen, stimmt’s?«
»Warum bin ich hier?«, fragte die alte Frau. »Ich möchte nach Hause.«
»Haben Sie ihr Süßigkeiten gegeben?«
»Zitronenbrause«, antwortete sie, »Gummibärchen.«
»Die haben Sie ihr gegeben?«
»Wer will das wissen?«
»Und dann haben Sie sie in einen Wagen gesetzt«, fuhr Frieda fort. »Zu Dean.«
»Warst du ein unartiges Mädchen?« Ein fast schon obszönes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der alten Frau aus. »Hast dir wohl in die Hosen gemacht, was? Und dann auch noch beißen. Wie unartig von dir.«
»War Joanna unartig?«, hakte Frieda nach. »Erzählen Sie uns von Joanna, June.«
»Ich möchte meinen Tee.«
»Hat sie Dean gebissen?« Sie schwieg einen Moment, ehe sie hinzufügte: »Hat er sie getötet?«
»Wo bleibt mein Tee? Mit drei Stück Zucker!« Sie verzog das Gesicht, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
»Wohin haben Sie Joanna gebracht? Wo liegt sie begraben?«
»Warum bin ich hier?«
»Hat er sie gleich getötet, oder habt ihr sie erst irgendwo versteckt?«
»Ich habe ihn in ein Handtuch gewickelt«, erklärte die alte Frau in kampflustigem Ton. »Bestimmt hat ihn jemand gefunden und mitgenommen. Woher nehmen Sie das Recht, über mich zu urteilen?«
»Sie spricht von Alan«, wandte Frieda sich leise an Karlsson. »Er wurde in einem kleinen Park nahe einer Wohnsiedlung gefunden. Eingehüllt in ein Handtuch.«
»Wer sind Sie überhaupt? Ich habe Sie nicht hereingebeten. Jeder soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.«
»Wo ist die Leiche?«
»Ich will meinen Tee. Ich will meinen Tee!« Sie wurde so laut, dass ihre Stimme kippte. »Tee!«
»Lassen Sie uns von Ihrem Sohn Dean sprechen.«
»Nein.«
»Dean hat Joanna irgendwo versteckt.«
»Von mir erfahrt ihr gar nichts. Er wird sich um mich kümmern. Ihr seid doch nur sensationsgeile Zeitungsfritzen! Neugierige Schnüffelnasen! Rotzarrogante Weicheier!«
»Sie ist schon ganz durcheinander.« Daisy war hinter ihnen in der Tür aufgetaucht. »Nun werden Sie nichts mehr aus ihr herausbekommen.«
»Sie haben recht.« Frieda erhob sich. »Wir lassen sie besser in Ruhe.«
Sie gingen mit Daisy auf den Gang hinaus. »Hat sie je etwas über ein Mädchen namens Joanna gesagt?«, fragte Karlsson sie.
»Sie ist ziemlich verschlossen«, antwortete Daisy. »Die meiste Zeit bleibt sie in ihrem Zimmer. Sie redet grundsätzlich nicht viel, außer, um sich zu beschweren.« Sie verzog das Gesicht. »Darin ist sie ziemlich gut.«
»Hatten Sie jemals das Gefühl, dass sie wegen irgendetwas Schuldgefühle plagen?«
»Die? Die ist höchstens mal wütend. Oder entrüstet.«
»Worüber denn?«
»Sie haben es doch gerade gehört. Über Leute, die sich in ihre Angelegenheiten einmischen.«
Während sie in Richtung Ausgang liefen, sagte Karlsson kein Wort.
»Und?«, fragte Frieda schließlich.
»Was, und?« Karlsson klang verbittert. »Erst habe ich es mit einer Frau zu tun, die ein Gesicht zu rekonstruieren versucht, an das sie sich vorher zweiundzwanzig Jahre lang nicht erinnern konnte. Dann schlage ich mich mit einem eineiigen Zwilling herum, dem beunruhigende Träume und Fantasien im Kopf herumspuken, und zu guter Letzt befrage ich jetzt auch noch eine Frau, die unter Alzheimer leidet und von Zitronenbrause faselt.«
»Sie hat durchaus ein paar interessante Dinge von sich gegeben. Auch wenn es nur Bruchstücke waren.«
Karlsson verpasste der Tür einen solchen Stoß, dass sie laut gegen die Wand knallte.
»Bruchstücke. O ja! Nichts als Unsinn, schattenhafte Erinnerungen, eigenartige Zufälle, seltsame Gefühle, unausgegorene Eingebungen. Darauf läuft dieser ganze gottverdammte Fall doch letztendlich hinaus. Womöglich versaue ich mir damit meine ganze Karriere, genau wie der Detective vor zweiundzwanzig Jahren im Fall von Joanna.«
Sie traten in die Kälte und erstarrten.
»Morgen!«, grüßte Dean Reeve. Er war frisch rasiert und trug das Haar aus dem Gesicht gekämmt. Sein freundliches Lächeln hatte etwas Provozierendes.
Frieda brachte kein Wort heraus. Karlsson nickte verhalten.
»Wie geht es meiner Ma denn heute?« Er hielt eine braune Papiertüte hoch, die ein paar Fettflecken zierten. »Ich bringe ihr einen Doughnut. Sonntags isst sie immer gerne einen Doughnut. Ihr Appetit ist das Einzige, was sie nicht verloren hat.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Karlsson mit heiserer Stimme.
»Ich bin mir sicher, dass wir uns bald wiedersehen werden«, gab Dean freundlich zurück. »So oder so.«
Als er an ihnen vorbeiging, zwinkerte er Frieda von der Seite zu.