12

Josef mochte diese Art zu arbeiten. Die Kunden waren nicht da und schauten höchstens alle zwei Wochen mal vorbei. Die meiste Zeit konnte er in der Wohnung schlafen und auch dort essen, wenn er wollte. In der Vergangenheit hatte er hauptsächlich als Teil eines Teams gearbeitet. Das hatte er in vielerlei Hinsicht auch gut gefunden: all die Leute mit ihren verschiedenen Fachgebieten – der Verputzer, der Zimmermann, der Elektriker. Man kam sich vor wie in einer Art Familie, deren Mitglieder diskutierten und sich stritten, letztendlich aber doch miteinander auszukommen versuchten. Verglichen damit war das hier fast ein Urlaub. Er konnte arbeiten, wann er wollte, sogar mitten in der Nacht, wenn es draußen dunkel und still war, zumindest für städtische Verhältnisse. Dafür konnte er manchmal tagsüber, zum Beispiel an einem Tag wie diesem, wenn ihm gegen zwei Uhr nachmittags die Augenlider schwer wurden, sein Werkzeug weglegen und sich ein wenig ausstrecken. Er schloss die Augen und dachte eine Weile über das Problem mit dem Loch nach – darüber, wie weit er es vergrößern musste, um das beschädigte Holz und den gerissenen Putz zu entfernen. Plötzlich dachte er ohne besonderen Grund an seine Frau Vera und die Jungs. Er hatte sie seit dem Sommer nicht mehr gesehen und fragte sich, was sie wohl gerade taten. Dann verblasste ihr Bild allmählich, als tauchten sie in einen Nebel ein, aber nur ganz langsam, sodass er nicht genau sagen konnte, ab wann er sie nicht mehr sah. Ohne es zu merken war er eingeschlafen und träumte Dinge, an die er sich nicht mehr erinnern würde, wenn er aufwachte, weil er sich nie an seine Träume erinnerte.

Zuerst dachte er, die Stimme wäre Teil seines Traums. Es handelte sich um eine Männerstimme, und noch ehe Josef die Bedeutung der Worte begriff, spürte er ihre Traurigkeit – eine besondere, schmerzliche Art von Traurigkeit, die bei einem Mann fast seltsam anmutete. Nach einer Pause meldete sich eine andere Person zu Wort. Diese Stimme kannte Josef. Es war die Frau von unten, die Ärztin. Als Josef vorsichtig die Hand hob, spürte er unter seinen Fingern die raue Oberfläche der Spanplatte. Über ihm fiel Licht durch das Loch in der Decke. Obwohl er vom Schlaf noch ganz benommen war, dämmerte ihm allmählich, wo er sich befand: auf dem Boden ihres Praxisraums. Während er nebenan weiter die beiden Stimmen hörte – die unsichere des Mannes und die klare, ruhige der Frau –, wurde ihm immer mulmiger zumute. Er belauschte gerade eine Beichte, die nicht für die Ohren eines Dritten bestimmt war. Sein Blick fiel auf die Leiter. Wenn er jetzt versuchte hinaufzusteigen, hörten ihn die beiden bestimmt. Besser, er blieb einfach liegen, wo er war. In der Hoffnung, dass es bald vorbei sein würde.

»Meine Frau war böse auf mich«, berichtete der Mann. »Es kam mir fast so vor, als wäre sie eifersüchtig. Sie wollte genau wissen, was ich Ihnen erzählt habe.«

»Und? Haben Sie es ihr gesagt?«

»Mehr oder weniger«, antwortete der Mann. »Eine abgemilderte Version. Doch während ich es ihr erzählte, bekam ich plötzlich das Gefühl, dass ich Ihnen gar nicht alles gesagt habe.«

»Was haben Sie mir denn verschwiegen?«

Nun folgte eine lange Pause. Josef konnte seinen eigenen Herzschlag hören und den Alkohol in seinem Atem riechen. Wie war es möglich, dass die beiden ihn weder hörten noch rochen?

»Kann ich hier wirklich alles sagen?«, fuhr der Mann schließlich fort. »Ich frage das deswegen, weil mir bei meiner Diskussion mit Carrie klar geworden ist, dass ich sonst immer nur bestimmte Dinge zur Sprache bringen kann. Dass es immer eine Art Grenze gibt. Mit meiner Frau rede ich nur über Dinge, die man als Mann eben mit seiner Ehefrau bespricht, und wenn ich mit einem Freund auf ein Bier gehe, kann ich auch nur die Sorte Sachen sagen, die man halt unter Freunden so sagt.«

»Hier können Sie alles sagen. Es gibt keine Grenzen.«

»Sie werden sich bestimmt denken, dass das blöd von mir ist …«

»Es ist mir völlig egal, ob es blöd ist oder nicht.«

»Und Sie erzählen es wirklich niemandem?«

»Wieso sollte ich?«

»Versprechen Sie mir das?«

»Alan, ich bin beruflich verpflichtet, Ihre Privatsphäre zu respektieren. Es sei denn, Sie gestehen mir ein schlimmes Verbrechen. Oder planen eines.«

»Ich gestehe Ihnen schlimme Gefühle.«

»Erzählen Sie mir davon.«

Josef dachte, dass er sich jetzt eigentlich die Finger in die Ohren stecken sollte. Diese Worte waren nicht für ihn bestimmt.

Er sollte sie nicht hören. Trotzdem hielt er sich die Ohren nicht zu. Er konnte einfach nicht anders, er wollte es unbedingt wissen. Was spielte es letztendlich auch für eine Rolle?

»Ich habe nachgedacht«, erklärte der Mann. »Letztes Mal habe ich Ihnen doch erzählt, dass ich mir ein Kind wünsche, einen Sohn. Warum unterziehe ich mich nicht einfach einer Behandlung, die meine Spermienzahl erhöht, und nehme wegen meiner Potenzprobleme Viagra ? Es ist schließlich ein medizinisches Problem. Mit meinem Kopf hat das nichts zu tun.«

»Warum machen Sie dann nicht, was Sie gerade gesagt haben ?«

»Einerseits hatte ich in letzter Zeit oft dieses seltsame Gefühl im Zusammenhang mit meinem Sohn – diesem kleinen Jungen, der aussieht wie ich. Es ist wie eine Art Hunger. Zusätzlich plagen mich aber auch schlimme Anfälle, bei denen ich fast zusammenbreche, beinahe die Besinnung verliere und mich komplett zum Narren mache. Dabei geht es nicht nur um diesen Hunger. Da kommt noch etwas anderes ins Spiel.«

»Nämlich?«

»Schuld.«

Wieder folgte eine Pause.

»Was für eine Art von Schuld?«, hakte Frieda nach.

»Ich habe auch darüber nachgedacht«, erklärte der Mann, »und bin zu folgendem Schluss gekommen: Ich wünsche mir diesen Jungen. Ich sehe ihn vor mir, wie er mit mir Fußball spielt. Aber während ich hier sitze und mir nichts sehnlicher wünsche, als ihn um mich zu haben, ist er noch nicht da und hat seinerseits womöglich gar nicht den Wunsch, mich um sich zu haben. Ergibt das für Sie einen Sinn?«

»Nicht so ganz«, gestand Frieda, »zumindest noch nicht.«

»Es liegt doch eigentlich auf der Hand: Die Kinder fragen nicht danach, geboren zu werden. Wir wollen sie haben. Ich schätze mal, das ist ein angeborener Instinkt. Aber worin besteht der Unterschied zwischen diesem Kinderwunsch und einer krankhaften Sucht? Man nimmt Heroin, um nicht mehr nach Heroin zu lechzen. Man wünscht sich ein Kind und bekommt eines, um diesen Hunger zu stillen.«

»Sie haben also das Gefühl, dass es ein selbstsüchtiger Akt ist, ein Kind in die Welt zu setzen?«

»Natürlich ist es das«, erwiderte der Mann. »Schließlich fragt man das Kind nicht nach seiner Meinung.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie sich schuldig fühlen, weil Ihre Sehnsucht nach einem Kind selbstsüchtig ist?«

»Ja.« Eine lange Pause. »Außerdem…« Er brach gleich wieder ab. Sowohl Frieda als auch Josef waren gespannt, was nun kommen würde. Da steckte doch mehr dahinter. »Außerdem macht es mir Angst, wie heftig ich diesen Kinderwunsch empfinde. Vielleicht geht es mir dabei so wie sonst nur den Frauen.«

»Wie meinen Sie das?«

Er sprach mittlerweile im Flüsterton. Josef lauschte angestrengt, um ihn überhaupt noch zu verstehen. »Ich habe von Frauen gehört, die sich erst wie ein vollständiger Mensch fühlen, wenn sie ein Kind haben. Bei mir ist es fast noch schlimmer. Ich habe das Gefühl – schon immer gehabt –, dass bei mir ein Stück fehlt. Als würde in meinem Innern so etwas wie ein Loch klaffen.«

»Ein Loch in Ihrem Innern? Sprechen Sie weiter.«

»Und wenn ich ein Kind hätte, würde es dieses Loch füllen. Klingt das nicht gruselig?«

»Nein, aber ich möchte diese heftige Sehnsucht, die Sie auch als Hunger beschrieben haben, gern noch genauer unter die Lupe nehmen. Was würde denn Ihre Frau sagen, wenn Sie ihr davon erzählen würden?«

»Sie würde sich fragen, was für eine Art Mann sie geheiratet hat. Ich frage mich ja sogar selbst, wen sie da geheiratet hat.«

»Vielleicht gehört es zu einer Ehe, dass man manches für sich behält.«

»Ich habe von meinem Sohn geträumt.«

»Wenn Sie das so sagen, klingt es, als würde er tatsächlich existieren.«

»In meinem Traum war das so. Er stand da und sah genau so aus wie ich in seinem Alter. Rotes Haar, kleine Schuluniform. Aber er war weit weg, auf der anderen Seite irgendeiner großen Schlucht, ähnlich dem Grand Canyon. Wobei diese Schlucht ganz schwarz und unglaublich tief war. Ich stand am Rand des Abgrunds und blickte zu meinem Sohn hinüber. Ich wollte unbedingt zu ihm, wusste aber, dass ich in die Dunkelheit stürzen werde, sobald ich einen Schritt vortrat. Es war nicht gerade ein glücklicher Traum.«

Josef musste an seine eigenen kleinen Söhne denken. Auf einmal schämte er sich wirklich. Er schob die Knöchel seiner zur Faust geballten Hand zwischen seine Zähne und kaute darauf herum. Er wusste selbst nicht so recht, warum er das tat. Vielleicht als Bestrafung oder als Ablenkung, damit er weniger auf das achtete, was er hörte. Zwar bekam er es nach wie vor mit, ließ die Worte aber nicht mehr in seinen Kopf. Er versuchte, sie wie Musik an sich vorbeiplätschern zu lassen. Schließlich hatte er den Eindruck, dass die Sitzung sich ihrem Ende näherte. Die Stimmen klangen gedämpfter und weiter entfernt. Die Tür wurde geöffnet. Das war seine Chance. So leise er konnte, stand er auf und begann die Leiter hinaufzuklettern, wobei er sich bemühte, möglichst vorsichtig auf die Sprossen zu treten, damit sie auf keinen Fall knarrten. Plötzlich klopfte jemand gegen die Spanplatte.

»Sind Sie das?«, fragte eine Stimme. Wem sie gehörte, war klar: Es handelte sich um die Frau. »Sind Sie da drin?«

Einen verzweifelten Moment lang zog Josef in Betracht, sich einfach ganz still zu verhalten. Vielleicht ging sie dann wieder weg.

»Ich weiß, dass Sie da sind. Versuchen Sie ja nicht, mich für dumm zu verkaufen. Kommen Sie sofort herunter zu mir! Auf der Stelle!«

»Ich habe nichts gehört«, stammelte Josef. »Alles kein Problem.«

»Auf der Stelle!«

 

»Wie lange waren Sie da?«, wollte Frieda wissen, als sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Ihr Gesicht war vor Wut ganz weiß.

»Ich habe geschlafen«, antwortete Josef. »Erst habe ich gearbeitet, an dem Loch. Dann bin ich eingenickt.«

»In meinem Zimmer.«

»Hinter der Trennwand.«

»Sind Sie denn vollkommen verrückt geworden?«, rief Frieda. »Das war ein Gespräch unter vier Augen! Er hat mir ganz persönliche Dinge anvertraut. Was würde er wohl denken, wenn er davon erführe?«

»Ich werde es ihm nicht sagen.«

»Wie bitte? Natürlich werden Sie es ihm nicht sagen! Sie wissen doch gar nicht, wer er ist. Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?«

»Ich habe geschlafen, und dann bin ich durch die Stimmen aufgewacht.«

»Wie bedauerlich, dass wir Sie gestört haben.«

»Ich habe versucht, nicht zuzuhören. Es tut mir so leid. Ich werde es nicht wieder tun. Sie müssen mir sagen, wann ich drüben arbeiten kann, dann mache ich das Loch ganz schnell zu.«

Frieda holte tief Luft. »Nicht zu fassen, dass ich eine Therapiesitzung abgehalten habe, während sich ein Bauarbeiter im Raum befand. Aber gut, in Ordnung. Ändern kann ich es sowieso nicht mehr. Sehen Sie bloß zu, dass Sie dieses Loch schnell schließen.«

»Ich brauche nur noch einen Tag, höchstens zwei. Oder vielleicht ein klein bisschen länger. Nachdem es nun so kalt geworden ist, trocknet die Farbe bestimmt sehr langsam.«

»Machen Sie, so schnell Sie können.«

»Eines verstehe ich allerdings nicht«, verkündete Josef.

»Und das wäre?«

»Wenn man sich als Mann ein Kind wünscht, dann unternimmt man doch etwas. Man redet nicht nur darüber, sondern begibt sich hinaus in die Welt und versucht, das Problem zu lösen. Man geht zu einem Arzt und tut, was nötig ist, um einen Sohn zu bekommen.«

»Ich dachte, Sie haben geschlafen!«, schnaubte Frieda. Aus ihrem Blick sprach fast so etwas wie Entsetzen.

»Ich habe geschlafen, aber durch die Geräusche bin ich aufgewacht. Deswegen habe ich ein wenig von dem Gespräch gehört. Er ist ein Mann, der einen Sohn braucht. Ich musste an meine eigenen Söhne denken.«

Auf Friedas eben noch so wütendem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Sie konnte nicht anders. »Sie wollen mit mir über meinen Patienten diskutieren?«

»Mir ist nur durch den Sinn gegangen, dass Worte allein nicht reichen. Er muss sein Leben ändern. Einen Sohn zeugen. Wenn er kann.«

»Haben Sie, als Sie uns belauschten, zufällig auch mitbekommen, wie ich ihm erklärt habe, dass ich beruflich zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet bin? Und dass niemand je erfahren wird, was er mir erzählt hat?«

»Aber was ist der Sinn von dem ganzen Gerede, wenn er nichts tut?«

»Sie meinen, wie ein Mann, der es vorzieht zu schlafen, statt das Loch in der Decke zu schließen, durch das er gefallen ist?«

»Ich schließe es schon noch. Es dauert gar nicht mehr lang, dann bin ich fertig.«

»Ich weiß nicht, wieso ich überhaupt mit Ihnen über dieses Thema rede«, meinte Frieda, »aber ich sage es trotzdem: Ich kann Alans Leben nicht in Ordnung bringen. Es steht nicht in meiner Macht, ihm einen rothaarigen Sohn zu besorgen. Die Welt ist ein chaotischer, unberechenbarer Ort. Vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, kann ich ihm mit meinem Gerede, wie Sie es nennen, ein klein wenig helfen, besser mit alledem umzugehen. Das ist nicht viel, ich weiß.«

Josef rieb sich die Augen. Er wirkte noch immer nicht richtig wach. »Darf ich Ihnen als Wiedergutmachung ein Glas Wodka spendieren?«

Frieda warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Es ist drei Uhr nachmittags«, gab sie zu bedenken. »Sie dürfen mir als Wiedergutmachung eine Tasse Tee machen.«

 

Als Alan Frieda verließ, dämmerte es bereits. Der Wind hatte Regen im Schlepptau und wehte mit seinen kleinen Böen abgestorbenes Laub von den Bäumen. Der Himmel wirkte grau und düster. Die Pfützen auf dem Asphalt schimmerten dunkel. Ziellos stolperte er durch irgendwelche Nebenstraßen, vorbei an unbeleuchteten Gebäuden. Er konnte noch nicht zurück nach Hause. Er war nicht bereit für Carries ängstliche Blicke, ihre sorgenvolle Nervosität. In dem warmen, hellen Praxisraum war es ihm ein wenig besser gegangen. Das kribbelige Flattern in seinem Innern hatte sich gelegt. Er hatte nur noch gespürt, wie müde er war, wie erschöpft. Fast hätte er einschlafen können, während er ihr gegenüber auf dem kleinen grauen Sofa saß und Dinge aussprach, die er zu Carrie nie sagen könnte, weil Carrie ihn liebte und er dem kein Ende setzen wollte. Er konnte sich genau vorstellen, wie seine Frau reagieren würde: wie sie einen Moment lang vor Kummer das Gesicht verziehen, diese Regung dann aber schnell unterdrücken würde. Diese Frau dagegen verzog nie eine Miene. Sie fand nichts von dem, was er sagte, verletzend oder abstoßend. Wenn sie schwieg, wirkte sie still und stumm wie ein Gemälde. Das war er nicht gewöhnt. Die meisten Frauen ermunterten einen durch zustimmendes Nicken oder Gemurmel zum Weitersprechen, achteten gleichzeitig aber darauf, dass man nicht zu weit ging. Sie hielten einen in der richtigen Spur. Zumindest war seine Mutter so gewesen, und seine Kolleginnen Lizzie und Ruth waren auch so. Und natürlich Carrie.

Nun, nachdem er die Praxis verlassen hatte, fühlte er sich allerdings nicht mehr so gut. Die beunruhigenden Gefühle brachen wieder über ihn herein oder stiegen in ihm hoch. Er wusste nicht, woher sie kamen. Am liebsten wäre er in das Sprechzimmer zurückgekehrt – wenigstens so lange, bis diese Gefühle sich wieder beruhigt hatten. Wobei allerdings zu befürchten war, dass Frieda darüber gar nicht begeistert wäre. Ihm fiel wieder ein, wie sie zu ihm gesagt hatte, jede Sitzung dauere genau fünfzig Minuten. Sie war streng, dachte er und fragte sich, was Carrie wohl von ihr halten würde. Sie würde Frieda wahrscheinlich als »harte Nuss« bezeichnen. Eine harte Nuss, die schwer zu knacken war.

Zu seiner Linken befand sich eine kleine, umzäunte Grünfläche mit je einer Bank an beiden Seiten. Auf der einen saßen ein paar Saufbrüder und tranken Cider aus Dosen. Alan stolperte über den Rasen und ließ sich auf der anderen Bank nieder. Das leichte Nieseln wuchs sich allmählich zu einem richtigen Regen aus: Alan spürte die Tropfen bereits auf dem Kopf und hörte sie auf das feuchte Laub platschen, das in Häufchen auf dem Boden lag. Er schloss die Augen. Nein, dachte er, Carrie verstand ihn nicht. Frieda im Grunde auch nicht. Er war allein. Das war das Grausamste. Allein und unvollständig. Schließlich stand er wieder auf.

 

Es war, als hätte es so sein sollen. Man konnte es nennen, wie man wollte: Bestimmung, Schicksal, irgendetwas in den Sternen. Der kleine Junge mit dem roten Haar und den Sommersprossen war ganz allein. Seine Mutter kam wieder zu spät. Sie würde schon sehen, wozu das führte. Nun blickte der Kleine sich um. Er starrte auf das offene Tor, hinaus auf die Straße. Komm. Komm schon, mein Kleiner. Komm durch das Tor. Ja, genau. Das ist die richtige Richtung. Nicht so hastig. Schau dich nicht um. Komm zu mir. Ja, komm. Jetzt gehörst du mir.

 

Seine Mutter hatte einen leuchtend blauen Regenmantel und rotes Haar. Sie stach aus jeder Menge hervor. Heute aber hatte sie nicht mit den übrigen Müttern am Tor gestanden, und die meisten anderen Kinder waren schon weg. Er wollte nicht, dass Mrs. Clay ihn im Klassenzimmer warten ließ. Nicht schon wieder. Ihm war klar, dass er eigentlich nicht allein nach Hause gehen durfte, aber er kannte den Weg. Außerdem würde ihm seine Mutter sowieso irgendwo entgegenkommen – im Laufschritt und mit halb aufgelöster Frisur, weil sie so spät dran war. Unauffällig schob er sich in Richtung Tor. Anfangs hatte Mrs. Clay ihn noch im Auge, aber dann musste sie sich die Nase putzen. Dabei bedeckte sie ihr ganzes faltiges Gesicht mit einem großen weißen Taschentuch. In dem Moment entwischte er. Niemand sah ihn hinausschlüpfen. Draußen auf der Straße entdeckte er in einer flachen Pfütze eine Pfundmünze. Nachdem er sich umgeschaut hatte, um sicherzugehen, dass sich niemand einen Scherz mit ihm erlaubte, hob er die Münze auf und rieb sie mit einem Zipfel seines Hemds trocken. Wenn seine Mutter ihm nicht vorher entgegenkam, würde er sich im Laden an der Ecke Süßigkeiten oder eine Tüte Chips kaufen. Er ließ den Blick die Straße entlangwandern, konnte sie aber immer noch nicht sehen.