24. KAPITEL

Natalie stolperte zurück und starrte hinunter auf den goldenen Dolch. Sie packte ihn, zog ihn heraus und ließ ihn fallen. Als sich unsere Blicke trafen, waren ihre Augen vor Schreck geweitet. Sie hatte geglaubt, dass sie schon gewonnen hätte. Hellrotes Blut quoll aus der Wunde und breitete sich auf ihrem Kleid aus.

„Es hätte nicht so kommen müssen. Du hättest mir freiwillig helfen sollen. Wir sind eine Familie.“

Ich hatte nicht gewollt, dass es so endet, aber mir war jetzt klar, dass es keinen anderen Weg gab. Doch etwas musste ich noch wissen. Der Köder, den sie die ganze Zeit benutzt hatte …

„Wie kann ich meinen Vater finden, Natalie?“

Sie lachte mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Ich bin mir sicher, du wirst ihn bald treffen. Er hat große Pläne für diese Welt … und für dich. Das hier ist noch nicht vorbei. Ich hätte dich beschützen können, und wir wären eine Familie gewesen. Jetzt musst du die Schuld bei dir selbst suchen, wenn sich alle gegen dich wenden. Und das werden sie. Das garantiere ich dir.“

Ihre Augen glühten für einen Moment feuerrot auf, und sie fiel auf die Knie. Hinter ihr öffnete sich der schwarze Strudel, begleitet von dem ohrenbetäubenden Lärm. Es machte mir Angst, dass er wieder genau in der richtigen Sekunde auftauchte, so als würde er den nahen Tod eines übernatürlichen Wesens spüren. Ich kroch so schnell ich konnte weg von ihr, und dann, bevor ich irgendetwas tun oder schreien konnte, streckte sich das Schwarz nach ihr aus und zog sie in seinen geöffneten Schlund.

Alles passierte in Sekundenschnelle.

Carly war an meiner Seite und griff nach meinem Arm, da der Sturm weiter vor mir wütete. „Was zur Hölle ist das?“

Ich starrte ebenfalls zutiefst schockiert auf die Stelle, an der Natalie verschwunden war, obwohl ich das erwartet hatte. „Du willst es nicht wissen, glaub mir.“

Carly befand sich zwischen mir und dem Strudel. „Geht es dir gut?“

„Nicht einmal annähernd.“ Ich zwang mich, sie anzuschauen. Sie hatte sich nicht vollkommen in ihr vorheriges Selbst zurückverwandelt. Nicht dass ich damit gerechnet hätte. Sie war noch immer eine Gray, daher war sie angesichts der Ereignisse nicht halb so entsetzt, wie es die alte Carly gewesen wäre. „Warum hast du das getan? Warum hast du mich gerettet?“

Ihre Miene verfinsterte sich. „Weil sie dir wehgetan hat.“

„Vielen Dank.“ Ich wurde von tiefer Dankbarkeit erfüllt, riss sie an mich und umarmte sie stürmisch. Vielleicht hatte ich sie doch noch nicht verloren. Ich lehnte mich zurück und sah in ihre strahlend blauen Augen.

„Gern geschehen.“ Sie lächelte. „Wir sind immer noch für immer beste Freundinnen, richtig?“

Sie war immer noch da. Unter alldem war sie immer noch Carly. Und ich konnte ihre Seele zurückbekommen und sie heilen. Das wusste ich. „Für immer“, bestätigte ich.

Plötzlich spürte ich, wie ein Paar starke Arme um meine Taille griff und mich von ihr wegzog. Es war Bishop, der mich jetzt fest umklammert hielt.

„Was tust du?“, fragte ich.

„Schau sie an“, war alles, was er sagte. Ich sah Carly an, und mein Schrei blieb mir in der Kehle stecken.

Düstere Ranken hatten begonnen sich über ihre Schultern zu bewegen wie schwarze Finger. Der Schlund hatte sich nicht geschlossen, nachdem das Schwarz Natalie geholt hatte. Es war näher gerückt, weil es noch ein weiteres übernatürliches Wesen spürte, und es hatte noch immer Hunger. Ich wurde von Entsetzen gepackt, das mir die Luft zum Atmen nahm.

Das Geräusch des Strudels wurde lauter – so laut, dass ich nicht mehr denken konnte.

Carly starrte mich mit schreckgeweiteten Augen an, während das Schwarz sich um sie herum immer weiter zusammenzog und sie mit seiner Dunkelheit umfing. Sie streckte eine Hand nach mir aus, und in ihrem Gesicht war die Verwirrung zu erkennen. „Sam?“, fragte sie und ihre Stimme zitterte.

Und dann verschlang das Schwarz sie ebenso wie Natalie.

„Nein!“ Mein Schrei drang durch den Lärm des Strudels hindurch.

Ich musste halluzinieren – so musste es sein. Der Schock erfüllte jede Zelle meines Körpers, aber ich wusste, dass ich etwas tun musste. Ich musste versuchen, sie zu retten. Sie war gerade erst verschwunden, und ich konnte es nicht akzeptieren. Ich würde das niemals akzeptieren können. Sie hatte gerade mein Leben gerettet, und jetzt musste ich das ihre retten.

Ich kämpfte gegen Bishop an, doch der umklammerte mich fest. Ich wand und wehrte mich. Ich war vollkommen auf den Wirbel konzentriert und musste mich aus seinem Griff befreien. Wenn ich das Schwarz erreichen konnte, bevor es seinen Schlund wieder schloss, könnte ich hineingreifen und ihre Hand fassen – ich konnte Carly nicht verlieren! Nicht so. Nicht nachdem ich gerade erfahren hatte, dass es noch Rettung für sie gab.

„Samantha, hör auf!“, schrie Bishop mich an, als ich ihn kratzte und nach ihm trat. „Sie ist fort!“

„Nein, das ist sie nicht. Ich muss ihr helfen!“

Endlich gelang es mir, mich zu befreien, und ich kroch von ihm fort. Meine Augen waren mit Tränen gefüllt, trotzdem versuchte ich, etwas zu erkennen. Ich hatte mich von Bishop losgerissen, um meiner Freundin zu helfen. Er hatte mich festgehalten , damit ich dem Schwarz nicht zu nahe kam und es mich spürte.

Und wie bei den Grays kannte sein Hunger kein Ende.

Der Sog seines Vakuums begann mich dichter an den Strudel heranzusaugen, und ich starrte ihn entsetzt an. Ich verlor meine Balance und krachte hart auf den Boden. Es war, als hätte sich die Welt auf den Kopf gedreht, und ich rutschte mit den Füßen voran auf den hungrigen Schlund des Schwarz zu. Mein Schock darüber, so plötzlich von Carly für immer getrennt zu sein, wurde von eiskalter Angst ersetzt. Ich hatte gedacht, ich könnte Carly retten und gegen diesen monströsen Strudel kämpfen, der nur wenige Handbreit von mir entfernt tobte. Doch ich hatte mich geirrt.

Bishop fasste nach meinem Handgelenk, bevor mich der Strudel verschlingen konnte, aber die dunklen Ranken griffen nach meinen Fußgelenken und wickelten sich darum. Dann zogen sie mich zu sich. Etwas an dieser Sache weckte meine Erinnerung durch den Schock und die Angst hindurch. Das hier war meine allererste Vision gewesen, die ich hatte, nachdem mich Stephen geküsst hatte und bevor ich Bishop überhaupt kannte. Ich hatte es so gedeutet, dass ich in die Dunkelheit stürzen würde, aber stattdessen wurde ich seitwärts in sie hineingezogen.

So würde es also für mich ausgehen. Ich würde im Schwarz enden, genau wie meine Tante, mein Vater, meine Mutter und … meine beste Freundin. Es war mein Schicksal – das unausweichliche Ende von allem, gegen das ich angekämpft hatte.

„Sie hatten unrecht, Samantha.“ Bishops Stimme überschlug sich, als er meinen Namen sagte. „Es hätte niemals ich sein sollen. Das ist der Beweis.“

„Was?“ Er hatte das schon einmal zu mir gesagt. Und in meinem Traum hatte er mich außerdem losgelassen. Er glaubte nicht, dass er es verdient hatte, der Anführer zu sein. Er dachte, dass jemand anderer einen besseren Job gemacht hätte – auch mit einem gefallenen Engel, dessen Seele die ganze Mission sabotierte.

„Ich bin nicht stark genug für das hier. Ich habe dich im Stich gelassen. Ich habe alle im Stich gelassen. Es ist alles verloren.“

Auch wenn er mit aller Kraft versuchte, mich festzuhalten, begann ich abzurutschen, und ich schrie. Das Schwarz war unfassbar stark, und ich hatte solche Angst, dass ich kaum noch denken konnte.

Bishop hatte die Hoffnung aufgegeben. Der Anblick von mir, wie ich ihm aus den Händen glitt, hatte ihn schließlich gebrochen.

Aber ich würde das nicht so hinnehmen. Es gab immer noch die Chance, das hier zu ändern. Ich fühlte es tief in meinem Inneren. Was ich gesehen hatte, war nur eine Möglichkeit – der schlimmstmögliche Ausgang. Visionen waren Aussichten auf die Zukunft, aber sie war noch nicht passiert. Es war immer Carly gewesen, die an Schicksal und Bestimmung glaubte, und nicht ich. Ich war die Realistin, die Zynikerin. Sogar jetzt. Ich wollte nicht aufgeben. Ich wollte nicht aufhören, zu kämpfen, noch nicht. Niemals.

„Nein, Bishop! Hör mir zu. Du bist stark. Und du bist auch ein Anführer. Ich glaube an dich, und ich vertraue dir mein Leben an.“

Sein Gesicht sah angespannt aus. „Samantha, nein …“

Ich starrte in sein schmerzverzerrtes Gesicht. „Ja! Du bist wunderbar, und ich bin so froh, dass ich dich getroffen habe, egal, was jetzt geschieht. Hörst du mich? Ich kann dich nicht verlieren, nicht so. Wenn du mich jetzt loslässt, können wir nicht mehr meine Seele retten, und ich werde dich nie wieder küssen können. Also lass mich nicht los. Hörst du mich? Denn ich will dich wirklich wieder küssen!“

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und er blickte mich an, überrascht von dem, was ich gerade zu ihm gesagt hatte. Aber ich konnte sehen, wie in seinem Blick ein Funke von Entschlossenheit aufflackerte. „Dann halt dich gut fest. Ich werde nicht loslassen, wenn du es nicht tust.“ Was bedeutete, dass wir beide ins Schwarz gezogen würden, wenn dieses weiter so kräftig an mir zerrte. Doch meine Worte hatten Bishop die Kraft gegeben, mich festzuhalten. Lange genug, damit ein stark verspäteter Dämon seinen Arsch hier heraufbewegen konnte, um uns zu helfen. Durch meine tränengefüllten Augen entdeckte ich Kraven, der auf uns zulief. Sein Blick verriet das Entsetzen über das, was er hier sah.

„Braucht hier jemand Hilfe?“, fragte er. „Ja!“, schrie ich ihm zu. „Hilf uns!“ „Wie heißt das magische Wort?“ „Sofort!“

„Na ja, das sollte genügen.“ Er bewegte sich auf mich zu und beobachtete unsicher die kreisende Finsternis, die sich um meine Fußgelenke gelegt hatte.

„Geh nicht zu nah ran, sonst wirst du auch hineingerissen“, warnte ihn Bishop.

Kraven fluchte, als er die Situation einschätzte. „Dann klammere dich einfach an deine Freundin, kleiner Bruder.“

Ich war nur noch wenige Handbreit von dem dunklen Stru-del entfernt und spürte den extremen Sog, den ich mit dem bisschen Kraft, das ich noch übrig hatte, bekämpfte. Seinem Versprechen gemäß ließ Bishop mich nicht los, aber lange würde er mich nicht mehr halten können.

Kraven stellte sich hinter Bishop und packte dessen Fußgelenke. Dann zog er mit aller Kraft. Es fühlte sich an wie ein gespanntes Seil, mit Kraven an einem Ende und dem Strudel am anderen. Ich war in der Mitte und dabei, in Stücke gerissen zu werden. Bishop ließ nicht los, und Kraven zerrte an seinen Beinen, bis wir uns allmählich vom Strudel fortbewegten. Wir steigerten das Tempo, und die schwarzen Ranken, die sich um meine Beine gewunden hatten, wichen zurück in den Strudel. Ich blickte über meine Schulter zurück und hätte schwören können, dass das Schwarz mich böswillig anstarrte. Ich schauderte. Aber eine Sekunde später schloss sich die dunkle Spirale und verschwand, als hätte es sie nie gegeben.

Ich starrte auf den Punkt, wo sie eben noch gewesen war – ein hungriger Schlund mit einem unstillbaren Appetit. Er hatte Natalie und Carly direkt vor meinen Augen verschlungen und beinahe auch noch mich. Ich war ihm entkommen, aber meine beste Freundin nicht. Ich hatte sie genau da verloren, als ich herausgefunden hatte, dass es eine Möglichkeit gab, ihre Seele zurückzuholen. Sie hatte mich gerettet, aber umgekehrt hatte ich das nicht für sie tun können. Diese schmerzvolle Erkenntnis war wie ein Schlag ins Gesicht, der mir den Atem raubte und mein Herz in eine Million Teile zerspringen ließ.

„Carly, es tut mir leid“, flüsterte ich, und Tränen liefen meine Wangen herunter. Ich begann zu schluchzen, und Bishop drückte mich an seine Brust. Ich klammerte mich an ihn und weinte an seiner Schulter – keine Ahnung, wie lange. Obwohl ich sie schon verloren hatte, seit sie Stephen geküsst hatte, war das nun was anderes.

Dennoch blieb ein Hoffnungsschimmer. Ich war Realistin, okay, aber ich hatte in der vergangenen Woche schon einige Wunder erlebt. Sie war nicht getötet worden, sondern nur mitgerissen. Natalie hatte einen Weg herausgefunden. Wenn das möglich gewesen war, würde es Carly vielleicht auch gelingen. Schließlich blickte ich Bishop mit tränenverschleiertem Blick an.

Er hielt mein Gesicht in seinen Händen und sah mich besorgt an. „Es tut mir leid, Samantha.“

Ich schaute hinunter auf sein blutbeflecktes T-Shirt. Seine Wunden waren tief und bluteten noch immer. „Werden die heilen?“

Er verzog das Gesicht. „Ich werde Zachs Hilfe brauchen.“

Ich schaute mich in der Lounge um und war überrascht, dass nur noch wir drei dort waren. „Wo ist Stephen?“ Er war derjenige, der wusste, wo meine Seele war. Und Carlys.

„Fort. Er muss abgehauen sein, nachdem Natalie erstochen worden war. Die anderen sind auch weg.“ Er strich mir die Haare aus dem Gesicht. „Er kann die Stadt nicht verlassen, also kann er sich nur verstecken. Wir sind inzwischen ziemlich gut darin, in dieser Stadt Grays aufzuspüren. Ihn werden wir auch finden.“

Ich nickte und atmete stockend ein. „Also, ich nehme an, dass du an Wunder glaubst.“

Er schenkte mir ein Lächeln, das mich wärmte. „Das kommt so mit dem Job.“

Ich knabberte an meiner Unterlippe und blickte zu dem Fleck hinüber, an dem der Strudel verschwunden war. Mir war danach, mich irgendwo zu einer Kugel zusammenzurollen und zu weinen. Stattdessen wischte ich mit der Hand durch mein Gesicht und entschied, solange es mir noch gelang, stark zu bleiben. „Was jetzt? Natalie ist fort. Was passiert jetzt?“

„Himmel und Hölle haben ihre Präsenz vor etwa zwei Wochen gespürt. Sie werden auch jetzt bemerken, dass sie fort ist. Doch sie können die Stadt noch nicht von dem Schutzwall befreien. Die Grays stellen noch immer eine Bedrohung dar, allerdings sind sie nicht ansatzweise so stark, wie Natalie es war.“

Ich sah ihn an. „Als du also gemeint hast, dass du in einer Woche hier fertig sein würdest …“

„… war das wohl eher Wunschdenken.“ Er schnitt eine Grimasse. „Mir wurde ursprünglich gesagt, dass ich zurückgeholt würde, wenn die Quelle fort ist, damit ich geheilt würde, falls es irgendwelche Nebenwirkungen vom Durchqueren der Barriere gegeben hätte. Dann hätte ich versucht, einen Weg zu finden, dir zu helfen – während die anderen weiterhin nachts auf Patrouille gegangen wären. Aber das wird jetzt nicht mehr geschehen. Ich werde nirgendwohin gehen. Ich bin jetzt ganz offiziell ein gefallener Engel.“

„Und ganz offiziell verrückt, je nach Tagesform.“ Kraven tauchte neben mir auf. „Ganz nebenbei: Danke schön dafür, dass ich euch beiden die Ärsche gerettet habe. Können wir jetzt abhauen? Ich bin heute nicht in der Stimmung dafür, mit Teenagern zu tanzen. Vielleicht morgen.“

Natalie war fort, aber es gab immer noch Grays in Trinity. Und noch etwas anderes beschäftigte mich, etwas, das Seth gesagt hatte.

„Ich habe euch doch von dem Obdachlosen erzählt, dem anderen gefallenen Engel“, meinte ich zu den beiden. „Er sieht Dinge, hat Visionen, so ähnlich wie ich. Er hat davon gesprochen, dass der dunkle Schlund schon geöffnet sei. Nur einen Spalt, aber es würde trotzdem Gift herausrinnen. Redet er von dem Schwarz?“

Sie wechselten einen Blick. „Das klingt so“, antwortete Bishop und nickte. „Natalie hat deutlich gemacht, dass es sich verändert hat. Er ist kein Nichts mehr, sondern ein Ort. Und wenn von dort etwas nach außen dringt, dann ist es noch ein Grund mehr, den Schutzwall aufrechtzuerhalten.“

„Aber das setzt Trinity dann einer noch größeren Gefahr aus, oder?“, fragte ich, während es mir eiskalt den Rücken herunterlief.

„Na, dann ist es ja prima, dass wir hier sind“, erwiderte Kraven grinsend. „Mehr potenzielles Zeug zum Umbringen. Nichts als Spaß.“

Wenn das Schwarz ein Leck hatte und Natalie auf diese Weise entkommen war, bedeutete es, dass andere das auch konnten . Das war ein sehr Furcht einflößender Gedanke. Dennoch gab er mir ebenso die Hoffnung, dass Carly zurückkehren konnte. Bis dahin war alles Übernatürliche auf unbestimmte Zeit in der Stadt gefangen.

Der Dämon hob den goldenen Dolch vom Boden auf und warf einen Blick auf Bishop. „Du siehst nicht besonders gut aus, Bruder.“

„Mir geht’s gut.“

Bishop war so stark gewesen, nachdem er sich entschieden hatte, mich nicht loszulassen, damit ich nicht vom Schwarz verschlungen wurde. Mir war aber klar, dass er furchtbare Schmerzen haben musste, nachdem zweimal brutal auf ihn eingestochen worden war. Ich sah den Dolch in Kravens Hand an. Unwillkürlich stieg der Anblick, wie Carly ihn in Natalies Brust gestoßen hatte, vor meinen Augen auf – sie hatte sie getötet, um mich zu retten. Ich kannte Carly seit dem Kindergarten und hatte jeden Tag meines Lebens mit ihr gesprochen, hatte alles mit ihr geteilt – die guten und die schlechten Dinge. Geheimnisse, die ich niemandem sonst erzählt hätte, Tränen, Herzschmerz, Träume und Wünsche. Jetzt war sie fort, und ich hatte keine Garantie dafür, dass ich sie je wiedersehen würde.

Bishop ging zuerst die Stufen hinunter. Ich folgte langsam und kam auf dem Weg an Kraven vorbei.

Er sah mich misstrauisch an. „Du hast mich k. o. geschlagen, Gray-Mädchen.“

Ich atmete stockend aus. „Ich hatte keine andere Wahl. Aber ich habe es im Nachhinein bereut, als ich hier ankam. Wir hätten deine Hilfe brauchen können.“

„Offensichtlich. Doch ich muss dich gut im Auge behalten. Ich kann deine Fähigkeiten blockieren, wenn ich mich konzentriere.“

„Ich weiß.“ Ich schluckte. „Hör mal, wir hatten unsere Probleme , aber danke dafür, dass du Bishop und mich gerettet hast.“

Ich drehte mich um und wollte die Stufen hinuntersteigen, doch Kraven hielt mich am Arm fest und wirbelte mich wieder zu sich herum. Seine Miene war angespannt, als sich unsere Blicke trafen. „Wer hat gesagt, dass ich versucht habe, ihn zu retten?“

Er ließ mich los, und ich ging die Treppe hinunter, unsicher, was er meinte. Er hatte nicht ausdrücklich vorgehabt, Bishop, seinen Bruder, zu retten, mit dem ihn eine unangenehme Geschichte verband. Keiner von beiden wollte darüber reden. Aber er war hierhergekommen, nachdem ich ihn niedergeschlagen hatte, und er hatte uns gerettet und nicht ins Schwarz hineingestoßen. Er hatte mich gerettet. Was auch immer seine Beweggründe waren, ich war ihm dankbar dafür und würde es nicht vergessen. Dennoch war ich mir sicher, dass ich ihm niemals vollkommen vertrauen würde.

Nach dem, was gerade im oberen Stockwerk passiert war, überraschte es mich, festzustellen, dass unten alles nach einem ganz normalen Freitagabend aussah. Der Schutzschild um die Lounge hatte offensichtlich perfekt funktioniert. Die Musik spielte ganz normal, und das mehrfarbige Licht glitt über die fröhlichen Leute auf der Tanzfläche. So war auch ich noch vor einer Woche gewesen. Das schien mir eine Ewigkeit her zu sein.

Stephen war nirgendwo zu entdecken. Ich wollte daran glauben, dass das, was sie über meine Seele gesagt hatten, keine Lüge war, allerdings war ich in dieser Woche so oft belogen worden, dass ich nicht mehr wusste, was wahr oder falsch war. Am besten höre ich wohl auf mein Bauchgefühl, dachte ich. Und das sagte mir, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Meine Seele existierte noch – irgendwo. Also würde ich sie eines Tages in der nahen Zukunft finden.

Außerdem würde ich niemals den Gedanken aufgeben, Carly aus dem Schwarz zu befreien, jedoch musste ihre Abwesenheit erst mal erklärt werden. Auch da würde die Wahrheit keine große Hilfe sein.

Zuerst trafen wir uns mit den anderen. Zach kümmerte sich um Bishops Wunden und heilte sie durch seine Berührung. Dann begleitete Zach mich zu Carlys Haus. Ich versuchte stark zu sein, fühlte mich aber schwach und müde und außerdem krank vor Trauer, als Zach Mrs Kessler sanft beibrachte, dass Carly mit einem Jungen, den sie im Crave getroffen hatte, abgehauen war. Ein Teenager, der fortlief. Nicht gerade eine neue Geschichte, doch dank Zach und seinen Engelskräften kaufte sie uns alles, was wir sagten, ab. Sie umarmte mich fest, denn sie wusste, dass ich Carly genauso vermissen würde wie sie, während sie ihr rebellisches, romantisches Abenteuer erlebte.

„Es tut mir so leid“, brachte ich hervor, während sie mich an sich drückte. „Es tut mir so leid.“

„Es ist nicht deine Schuld, Schatz.“ Sie ließ mich los und wischte sich die Tränen aus ihren Augen. „Sie wird zurückkommen. Da bin ich mir sicher.“

Ich hoffte, dass sie damit recht behalten würde.

Als wir schließlich Carlys Haus verließen, gingen Zach und ich zu den anderen, die sich an der nördlichen Stadtgrenze aufhielten. Ich wollte mit meinen eigenen Augen diese magische Barriere sehen, die um die Stadt herum verlief und sich wie eine silberne Kuppel über Trinity spannte. Dieser Schutzwall war größtenteils unsichtbar, aber an einigen Stellen, wie hier, konnte man wahrnehmen, wie eine schimmernde, transparente Wand in der Dunkelheit verschwand.

„Geh nicht zu nah ran“, warnte Kraven. „Sonst bekommst du einen gewaltigen Schlag. Erinnert mich an das, was du so machen kannst.“

„Hast du es versucht?“

„Ich versuche so oft wie möglich, meine Grenzen auszutesten.“

Bishop stellte sich neben mich und nahm meine Hand. Bei seiner Berührung glitt ein Funken meinen Arm hinauf. Es hielt ihn bei Verstand und mich warm. Er fühlte sich toll an, und er duftete gut. Zu gut. Die Hitze seiner Haut drang in mich ein. Ich vermied es, auf seinen Mund zu schauen. Der war auch jetzt noch zu verführerisch.

Er drückte meine Hand. „Wie kommst du klar?“

„Ich bin noch hier.“ Ich lächelte tapfer. „Das ist ein Anfang. Was ist mit dir?“

„Besser. Meine Wunden sind geheilt. Aber mein Geist ist nicht so klar, wie er es war, bevor ich hierhergekommen bin. Ich denke, ich sollte mich daran gewöhnen.“ Er sagte das ruhig, aber ich konnte den Schmerz in seinen Augen lesen. Ich wünschte, ich könnte dafür sorgen, dass er vollständig verschwand.

„Also nerven die Dinge hier immer noch“, brachte Kraven knirschend hervor. „Und wir hängen hier immer noch fest, um zusammenzuarbeiten. Aber wir haben die Quelle erledigt, und wir wissen, dass irgendetwas Seltsames mit dem Schwarz geschieht. Und niemand von uns wandert durch die Stadt und durchwühlt Mülltonnen. Es hätte verdammt schlimmer kommen können.“

„So ein Optimist.“ Bishop warf ihm einen Seitenblick zu. „Welch eine Überraschung.“

„Du kannst mich mal, kleiner Bruder.“

„Ich kapiere noch immer nicht, dass ihr beiden Brüder seid. Mal abgesehen von dem Engel-Dämonen-Ding seht ihr euch nicht besonders ähnlich.“

„Die gleiche Mutter“, sagte Kraven. „Verschiedene Väter. Sehr verschiedene Väter. Aber genug davon.“ Er schaute zu mir herüber. „Sieht so aus, als hättest du deinem Freund heute den Arsch gerettet, Süße. Vielleicht solltest du ihm einen dicken, feuchten Siegerkuss geben.“

Ich warf ihm einen Blick zu, mit dem ich ihm das Grinsen aus dem Gesicht wischen wollte. Es funktionierte nicht. Nett von ihm, darauf herumzureiten. Wenn ich Bishop nicht komplett vernichten und dem Schwarz auf dem Präsentierteller servieren wollte, konnte ich es nicht riskieren, ihn zu küssen. Jedenfalls nicht, bevor ich nicht meine Seele zurückbekommen hatte.

„Was also jetzt?“, sagte Roth und starrte den Schutzwall an. „Hängen wir hier für alle Ewigkeiten fest? Ich glaube, ich werde auch wahnsinnig.“

„Ach komm schon, es ist doch gar nicht so schlecht.“ Connor klopfte Roth auf den Rücken, und der Dämon zuckte bei der freundschaftlichen Geste zusammen. „Es ist eine große Stadt. Und wir sind hier, um alle zu bewachen und sie nachts zu schützen, wenn sie friedlich in ihren warmen Betten schlafen. Das klingt für mich sehr nobel, auch wenn es für immer so sein sollte. Doch ich bin mir sicher, das wird es nicht.“

„Ich habe nicht für nobel unterschrieben“, erwiderte Roth knurrend. „Und was ist mit ihr? Sie ist immer noch eine Gray. Müssten wir sie nicht töten? Eine Gray weniger, und wir sind der Möglichkeit, von hier verschwinden zu können, einen Schritt näher.“

„Wenn du Samantha irgendein Haar krümmst“, drohte Bishop, „wäre es mir ein Vergnügen, dieses Team wieder auf vier Mitglieder zu reduzieren.“

Roth rollte mit den Augen. „Wie auch immer. Sie ist dein Problem, nicht meins. Ich bin weg“, verkündete er und drehte sich um.

Connor zuckte mit den Schultern. „Ich sollte vielleicht ein Auge auf ihn haben. Dämonen, ihr wisst schon.“ Er ging ebenfalls.

„Ich lasse euch zwei Turteltauben mal alleine, falls ihr wieder rummachen wollt. Komm, Zach.“ Kraven verschwand in einer anderen Richtung, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben und ohne einen Blick zurückzuwerfen.

„Bleib immer in seiner Nähe“, sagte Bishop zu Zach.

„„Worauf du dich verlassen kannst.“ Zach grinste mich an. „Ich bin froh, dass du zum Team gehörst, Samantha.“

„Ist das so?“, fragte ich überrascht.

„Klar, du bist unser sechstes Ehrenmitglied, mit rätselhaften Fähigkeiten und Visionen über die Zukunft. Das Schneewittchen zu unserer zusammengewürfelten Crew aus Zwergen. Dazu kommt, dass du wesentlich besser aussiehst als der Rest des Teams.“

Wenn mir in diesem Moment nach Lachen zumute gewesen wäre, hätte ich es getan. „Danke, glaube ich.“

„Wir sehen uns.“ Er rannte hinter Kraven her.

Der Heimweg mit Bishop war sehr schweigsam, da wir beide unseren Gedanken nachhingen. Das Geschehene verfolgte mich. Es würde lange dauern, bis ich mir auf all das einen Reim machen könnte. Als wir schließlich an meinem Haus ankamen, drehte ich mich um und sah Bishop an.

Eindringlich erwiderte er meinen Blick. „Du hast sie verändert“, sagte er.

„Was verändert?“

„Die Zukunft. Du hast mich dazu gebracht, nicht loszulassen. Du hast mir erzählt, dass ich dich in der ursprünglichen Version losgelassen habe.“

„Das stimmt.“

Er sah gequält aus, aber im Moment nicht durch seinen Wahnsinn. Sein Verstand war gerade vollkommen klar.

Ich drückte seine Hände. „Ich habe es so gemeint, weißt du. Alles, was ich gesagt habe. Ich glaube an dich.“

„Ich wurde von dem Torwächter so auf die Mission vorbereitet , dass ich scheitern sollte. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte Schmerzen und Orientierungslosigkeit durch das Schutzschild erwartet, aber nicht so etwas. So fühlt sich also ein gefallener Engel – es ist eine Strafe. Ich verstehe das jetzt.“

„Das hätte nicht mit dir geschehen dürfen, doch du bist immer noch hier und ich ebenfalls. Das bedeutet, dass sich die Dinge für uns immer noch zum Besseren wenden können. Es war eine Höllenwoche, Bishop. Aber ich bin froh, dass ich dich getroffen habe.“

Er schaute vom Boden hoch, und unsere Blicke trafen sich. „Bist du das?“

Mir stockte der Atem. „Ich gebe zu, dass die Dinge zwischen uns im Moment ein wenig kompliziert sind.“

„Da sind wir uns einig.“ Er runzelte die Stirn. „Wie hast du mich heute Nacht gefunden? Woher wusstest du, was ich vorhatte?“

Ich zögerte und überlegte, wie ich es ihm sagen könnte. „Ich scheine eine neue Fähigkeit entwickelt zu haben. Ich kann manchmal durch deine Augen sehen, als sei ich in deinem Kopf.“

Seine Augenbrauen zogen sich noch dichter zusammen. „In meinem Kopf?“

„Ich scheine es nicht kontrollieren zu können, und es passiert nur mit dir. Es hat allerdings ausgereicht, um mir heute Nacht zu zeigen, wo du bist. Ich habe jedoch nicht die geringste Ahnung, warum ich das jetzt kann.“

„Ich weiß es“, entgegnete er. „Du hast meine Seele berührt, als wir uns geküsst haben. Das hat uns miteinander verbunden.“

Mein Herz schlug schneller. Das ergab Sinn. „Also sind wir

jetzt Seelenverwandte?“ Nachdem ich es ausgesprochen hatte, röteten sich meine Wangen. „Ich meine, du weißt schon. Du bist ein Engel, und ich, ähm, ich bin …“

„„Etwas Besonderes.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Etwas ganz Besonderes.“ Während wir einander so intensiv ansahen, wurde unsere Verbindung sogar noch stärker.

„Du solltest jetzt vielleicht besser gehen.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Ja?“

Ich nickte, und mein Blick glitt zu seinen Lippen. „Ich spüre den Hunger wieder sehr extrem.“

„Das klingt gefährlich.“ Er bewegte sich kein bisschen, und er fragte auch nicht, ob ich vielleicht etwas zu essen meinte. Natürlich meinte ich das nicht.

„Auf jeden Fall gefährlich.“ Ich schluckte. „Es tut mir so leid, was gestern geschehen ist. Es tut mir leid, dass ich dir das angetan habe.“

„Du musst dich nicht entschuldigen.“ Sein Blick blieb ernst. „Glaub mir, Samantha, dieser Kuss – er hat ausgereicht, um mir etwas sehr Wichtiges zu zeigen.“

„Was?“

„Dass ich alles dafür tun werde, einen Weg zu finden, um dich wieder küssen zu können.“ Er beugte sich vor und drückte seine Lippen sanft auf meine Stirn. Mein Puls beschleunigte sich von Neuem. Es war kein richtiger Kuss, aber er musste reichen. Bevor er ging, musste ich ihm noch eine Frage stellen.

„Bishop, ich weiß, du willst mir nicht so viel aus der Zeit erzählen, als du noch ein Mensch warst. Noch nicht einmal deinen damaligen Namen, aber … ich muss etwas wissen. Wirst du mir nur eine Frage beantworten?“

„Eine Frage?“, wiederholte er und schaute mir in die Augen. Ich nickte.

„Nur eine Frage“, sagte er. „Du versprichst es?“ „Ich verspreche es.“ Vorerst, dachte ich.

Er schwieg einen Moment. „In Ordnung. Stell deine Frage.“

„Kraven erzählte mir, dass du ein Engel bist und er ein Dämon, weil du bereit warst, etwas zu tun, das er niemals tun würde.“ Ich atmete tief ein. „Was war das?“ Es folgte eine lange Stille, und ich dachte schon, er würde mir nicht antworten.

„Was war ich bereit zu tun, um ein Engel zu werden, wenn ich in meinem Leben schon mehr als genug verbrochen hatte, damit ich eigentlich zum Dämon hätte werden müssen?“, fragte er ruhig.

Mein Mund war staubtrocken, und ich nickte nur.

Er sah mich aus seinen blauen Augen an und wirkte gequält.

„Ich habe meinen eigenen Bruder getötet und ihn in die Hölle geschickt. Das habe ich getan, um zu einem Engel zu werden.“

Ich sagte kein Wort. Ich konnte nicht. Diese neue Information wirbelte in meinem Kopf herum. Ich weiß nicht, welche Antwort ich erwartet hatte, aber mit Sicherheit nicht diese. Wie gelähmt beobachtete ich, wie er in der Nacht verschwand, dann zwang ich mich, zum Haus zu gehen. Meine Mutter stand in der geöffneten Eingangstüre und betrachtete mich neugierig.

„Ein neuer Junge?“

Ich räusperte mich. Zum Glück hatte sie nicht mitbekommen, worüber wir gesprochen hatten. „Ziemlich neu.“

„Er ist süß. Magst du ihn?“

„Ja.“

„Sehr?“

Ein gefallener Engel. So gefährlich wie ein Dämon. War einmal einer der bösen Jungs. War verantwortlich für die Ermordung seines eigenen Bruders.

„Mehr als ich wahrscheinlich sollte“, entgegnete ich.

Ihr Gesicht war angespannt, und das wahrscheinlich nicht wegen meines komplizierten Liebeslebens. „Es nimmt mich mit, was geschehen ist. Ich hätte dir die Wahrheit schon vor Jahren erzählen sollen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Jetzt weiß ich, dass ich adoptiert bin.“

Sie schniefte und fuhr mit der Hand unter ihrer Nase entlang. Sie trug ihr blondes Haar offen, und statt ihrer üblichen Büroklamotten trug sie Jeans und ein T-Shirt. Bequeme No-Name-Kleidung als Abwechslung. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Mir gefiel es.

„Ich kann nur sagen, dass es mir so leidtut. Mir ist bewusst, dass wir in letzter Zeit unsere Probleme hatten, aber ich denke, wir können sie überwinden, wenn wir daran arbeiten. Ich liebe dich, mein Schatz. Das habe ich von dem Augenblick an, als ich dich in meinem Leben willkommen heißen durfte. Wir müssen alle schwere Zeiten durchstehen, damit uns klar wird, welche Dinge wirklich wichtig sind. Meine Arbeit ist nicht wichtig. Du bist wichtig. Hörst du? Und ich möchte, dass wir wieder eine richtige Familie sind, wenn du es erlaubst.“

Sie wirkte erschöpft von all dem, was sie gerade gesagt hatte. Darüber musste ich etwas lächeln. „Hast du die Rede die ganze Nacht geübt, während du darauf gewartet hast, dass ich nach Hause komme?“

Sie atmete stockend aus. „Genau genommen den ganzen Tag.“

Ich dachte darüber nach, was sie gesagt hatte. Ich glaubte ihr jedes Wort davon. „Es war eine gute Rede, und ich bin deiner Meinung. Klar, wir hatten unsere Probleme, aber bei einer Familie geht es nicht nur um die Gene, sondern um Liebe und Unterstützung in guten wie in schlechten Zeiten. Du hast mich vielleicht nicht geboren, aber du bist meine Mutter, und ich liebe dich auch.“

Ein Lächeln erstrahlte auf ihrem Gesicht. „Wann bist du so weise geworden?“

„Erst seit Kurzen.“ Ich nahm sie fest in die Arme. Natalie hatte gemeint, dass Hass mich stärker und Liebe schwächer machen würde. Ich hätte ihr nicht weniger zustimmen können.

„Also gut.“ Ihre Stimme zitterte, während sie mein Haar streichelte. „Das hätte auch ganz schlimm enden können. Ich hatte mir mehrere Möglichkeiten vorgestellt, weißt du.“

„Das ist ein gutes Ende“, sagte ich.

Sie nickte und umarmte mich noch einmal, dann betraten wir das Haus. Ich schloss die Tür hinter uns.

„Wie wäre es mit Pizza? Ich bestelle eine, es ist noch nicht so spät.“

„Eine große? Und Wings dazu?“

„Kein Problem. Pizza und Chicken Wings.“ Sie drehte sich zur Küche um und griff nach dem Telefon. Anschließend sah sie mich über die Schulter hinweg an. „Mach lieber die Tür zu, während wir warten. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Diese Stadt wird jeden Tag gefährlicher.“

Mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als ich zur Haustür ging. Ich schloss ab und legte die Sicherheitskette vor. „Du hast recht, man kann nicht zu vorsichtig sein.“

Sie hatte keine Ahnung, was da draußen so herumrannte und um was es sich bei ihrer Adoptivtochter tatsächlich handelte. Aber sie war vor mir sicher. Für alle anderen gab es da keine Garantie. Ich brauchte Zeit, um damit fertigzuwerden, was mit Carly passiert war. Ich musste Stephen aufspüren und die Möglichkeit bekommen, meine Seele zu retten – und Carlys.

Und ich musste herausfinden, was es bedeutete, ein Mitglied der Gruppe von Engeln und Dämonen zu sein, die zurzeit in Trinity gefangen waren und die Aufgabe hatten, die Stadt zu beschützen. Außerdem musste ich damit zurechtkommen, dass ich mich in einen gefallenen Engel mit einer extrem Furcht einflößenden und tödlichen Vergangenheit verliebt hatte, den ich mit nur einem weiteren Kuss vollkommen vernichten konnte.

Ja, das waren einige ernsthafte Probleme, mit denen ich es in der nächsten Zeit zu tun haben würde. Aber das Einzige, woran ich im Augenblick wirklich denken wollte, war Pizza.

– ENDE –