2. KAPITEL

In meinem Traum bewegte sich unter mir etwas und schlängelte sich um meine Fußgelenke wie lange, kalte Finger. Ich wusste nicht, was es war, aber der Gedanke, hinunter in das schwarze, bodenlose Loch gezogen zu werden, erschreckte mich.

Bevor es mich komplett verschlingen konnte, ergriff jemand meine Hand.

Verzweifelt schaute ich hoch und entdeckte einen Jungen. Ich konnte ihn nicht sehr gut sehen, da es so dunkel war, doch es war definitiv nicht Stephen.

„Festhalten!“ Seine Augen waren blau – so blau, dass sie zu leuchten schienen. Er war der Einzige, der verhinderte, dass ich hinuntergerissen wurde.

Ich versuchte mich auf sein Gesicht zu konzentrieren, dennoch konnte ich ihn nicht deutlich sehen – nur seine Augen, deren seltsames Licht sich förmlich in mich hineinbrannte.

„Sie hatten unrecht, Samantha.“ Seine Stimme brach, als er meinen Namen sagte. „Ich hätte es niemals sein sollen. Das ist der Beweis.“

„Was?“

„Ich bin nicht stark genug hierfür.“ Sein Griff lockerte sich.

„Ich habe dich im Stich gelassen. Ich habe alle im Stich gelassen. Es … ist alles vorbei.“

„Nein, nicht loslassen! Nicht …“

Im nächsten Moment rutschte ich aus seiner Umklammerung und stürzte schreiend in die bodenlose Dunkelheit.

„Sam! Wach auf!“ Carlys Stimme war Millionen Meilen entfernt.

Meine Augenlider flatterten, und es dauerte einen Moment, bis ich etwas klar erkennen konnte. Ich lag auf einem der roten Sofas und starrte hinauf zu meiner besten Freundin.

Sie schlug gegen meine Schulter.

„Mach das nicht!“ Ihre dünnen Augenbrauen zogen sich zusammen. „Du hast mir einen höllischen Schrecken eingejagt! Hast du heute etwas gegessen? Ich habe ein Snickers in der Handtasche, wenn du magst.“

„Nein, ich … ich bin okay.“ Ich setzte mich auf und fuhr mit einer Hand durch mein Haar, das verknotet war. „Was ist passiert?“

„Stephen hat dich geküsst, und dann bist du für eine Minute total ohnmächtig geworden – kein Vorwurf! Das muss ein unglaublicher Kuss gewesen sein. Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“

Wie peinlich. Nachdem ich mit dem schärfsten Typen in Trinity rumgeknutscht habe, kippe ich vor den Augen aller anderen hier oben um.

Einige der Leute kamen näher, um mich anzusehen.

„Ich war nur eine Minute bewusstlos?“

„Ja. Noch länger, und ich hätte Hilfe gerufen.“

Sie hatte ihr Handy in der Hand, und das Display leuchtete. Es schien, als hätte sie gerade den Notarzt rufen wollen. Sie warf einen Blick auf die Umstehenden und sagte: „Es geht ihr wieder gut. Geht zurück und lasst ihr etwas Platz zum Atmen.“

Das taten sie. Ihre Neugierde über das ohnmächtige Mädchen verflüchtigte sich offenbar genauso schnell, wie sie entstanden war.

Ich beobachtete, wie sich die Leute zurück zu ihren Tischen verzogen und sich unterhielten. Dann schaute ich mich in der Lounge um, mit wachsendem Unbehagen darüber, dass ich in Ohnmacht gefallen war. Ich wurde niemals ohnmächtig.

„Hat Stephen mitbekommen, was passiert ist?“

Sie blickte über ihre Schulter. „Ich glaube nicht. Er ist gegangen. Worüber habt ihr beiden gesprochen?“

Nur undeutlich war mir unser kurzes Gespräch in Erinnerung . „Eigentlich über nichts. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, warum er mit mir reden wollte. Er hat mich nach oben gebracht, meinte, ich sei etwas Besonderes oder so, und dann hat er mich geküsst.“

Ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich von besorgt in freudig erregt. „Das ist unglaublich.“

Ich erschauerte. „Das ist keine große Sache.“

„Stephen Keyes küsst dich, du wirst ohnmächtig wie irgendein Mädchen in einem alten Film, und du willst mir erzählen, es sei keine große Sache?“

„Wenn es so eine große Sache gewesen wäre, dann wäre er nicht einfach gegangen.“ Ich hatte nicht vor, allzu enttäuscht davon zu sein, trotzdem hatte ich einen Kloß im Hals, und meine Augen brannten. Er hatte sich sogar entschuldigt. Vielleicht tat es ihm leid, dass er mich nicht besonders interessant oder attraktiv fand oder dass ich so schlecht küsste. Er hatte gesagt, dass ich zu jung sei.

Und dieser Fall-Traum, den ich hatte, und der Typ mit diesen unglaublich blauen Augen – das war sehr verstörend gewesen.

„Können wir gehen?“, fragte ich. „Sorry, aber ich fühle mich nicht gerade unwiderstehlich oder wie das heißeste Mädchen im Club.“ Genau genommen war mir eiskalt.

Sie öffnete den Mund, als wollte sie protestieren, schloss ihn dann allerdings wieder, und ein besorgter Ausdruck trat auf ihr Gesicht.

„Du siehst nicht so gut aus. Klar, wir können auf jeden Fall von hier verschwinden.“

„Danke“, sagte ich. Dann rutschte mir noch heraus: „Dieser dämliche Stephen Keyes. Wer braucht den schon?“

Denn ehrlich gesagt wollte ich diese ganze Erfahrung am liebsten aus meiner Erinnerung streichen. Dem düsteren, sexy Typen zu folgen und geküsst zu werden war kein Abenteuer gewesen. Es hatte nur zu den sehr vertrauten Gefühlen von Enttäuschung und Scham geführt. Stephen war der dritte Junge, den ich mochte und der dafür sorgte, dass ich mich furchtbar in meiner Haut fühlte. Drei Treffer. Ich war am Boden. Wenn ich die Sache objektiv betrachtete, war das hier vielleicht eine gute Lektion. Ich brauchte nicht noch mehr Schwierigkeiten in meinem Leben.

Ich verließ den ganzen Samstag und Sonntag den Großteil des Tages nicht das Haus und schlief bis in den Nachmittag hinein. Es war ungewöhnlich für mich, so lange im Bett zu bleiben. Ich nahm an, dass ich mir eine Erkältung eingefangen hatte. Das würde auch meine Ohnmacht und das Frieren erklären.

Am späten Sonntagnachmittag zwang ich mich jedoch, mit Carly ins Kino zu gehen. Obwohl es erst Mitte Oktober war und die Temperatur draußen bei über zwanzig Grad lag, kam es mir so war, als hätte es Frost gegeben. Carly holte mich mit ihrem roten VW ab, dem Geburtstagsgeschenk ihrer Eltern im letzten Monat.

Was Geschenke und mein wöchentliches Taschengeld betraf, zeigte mein Dad sich sehr großzügig, besonders seit meine Eltern sich vor zwei Jahren getrennt hatten und er von seiner Kanzlei nach England versetzt worden war. Allerdings waren ein paar Geschenke und etwas Bargeld nicht annähernd dasselbe wie ein Auto.

Carly und ich zahlten einen Haufen Geld, um uns Zombie Queen IV anzusehen, der sich als der wohl schlechteste Film in der Geschichte der Menschheit herausstellte.

Für eine selbst ernannte Horrorfilmliebhaberin wie mich mit einer Vorliebe für George A. Romero – brauchte es schon einiges, um mich zu beeindrucken.

„Ich habe so einen Hunger“, sagte ich beim Verlassen des Kinosaals, während auf der Leinwand vor dem Hintergrund des blutigen abgetrennten Kopfes des Helden der Abspann lief.

Auch nachdem ich eine große Portion Popcorn mit Butter verdrückt hatte, blieb der Riesenhunger. Es war merkwürdig. Ich hatte mich schon das ganze Wochenende vollgestopft. Normalerweise überkam mich nicht so ein Heißhunger.

„Vielleicht bist du schwanger“, scherzte Carly.

Ich warf ihr einen Seitenblick zu. „Sehr unwahrscheinlich.“

„Ich denke, du hast recht. Um schwanger zu werden, müsstest du es ja schon mit jemandem treiben.“

„Mit jemandem treiben?“, wiederholte ich. „Was für eine nette Umschreibung. Und außerdem, ich habe Hunger! Schwangere übergeben sich eher, oder?“

„Ich würde mich übergeben. Genau genommen wird mir schlecht, wenn ich nur daran denke.“

Carly erwähnte mit keinem Wort, was im Club passiert war – oder eher nicht passiert war. Dafür war ich ihr ausgesprochen dankbar. Wenn es eine Pille gegeben hätte, die alles nach dem Kuss aus meinem Gedächtnis löschen könnte, hätte ich sie sofort geschluckt. Meine Schwärmerei für Stephen war offiziell erledigt.

„Hey, Samantha!“

Ich drehte mich um und entdeckte einen Jungen aus meinem Jahrgang, der mir zuwinkte.

Noah hieß er. Er stand in der Warteschlange für die nächste Vorstellung von Zombie Queen IV.

„Der Film ist grauenhaft schlecht“, warnte ich ihn, als wir auf dem Weg in die Lobby an ihm vorbeigingen.

„Werd ich ja gleich rausfinden“, erwiderte er grinsend. „Du siehst heiß aus heute.“

„Oh … hm, danke!“

Seltsam, dass er das sagte. Wir hatten uns vorher nie wirklich unterhalten. Aber vielleicht war er nur besonders gut drauf gerade.

Carly kommentierte den Spruch nicht, bis wir außer Hörweite waren. „Warum machen dich heute alle an? Das ist schon das zweite Mal, seit wir hier sind. Bin ich plötzlich unsichtbar?“

Der Erste war ein Typ namens Mike gewesen – noch jemand, mit dem ich in der Schule kaum ein Wort wechselte. Er hatte im Kino neben uns gesessen und mir etwas von seinem Popcorn angeboten, nachdem meines alle gewesen war. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, doch Carly hatte es bemerkt.

„Wer war das? Ich könnte schwören, ich hätte gerade eine Stimme gehört, allerdings weiß ich nicht, woher die kam.“

„Du bist ja so witzig“, entgegnete sie lächelnd.

„Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was los ist. Außerdem hat er nur Hallo gesagt. Das hat nicht wirklich was mit Anmachen zu tun.“

„Gut, aber falls deine Glückssträhne weiter anhält, vergiss nicht, deiner besten Freundin was abzugeben.“

Ich nickte feierlich. „Verstanden. Ich schwöre, mit dir die Massen männlicher Bewunderer zu teilen, die sich zu meinen unwiderstehlichen Füßen niederwerfen.“

Unwiderstehlich. Nee, ist klar. Ich hatte inzwischen auch schon so eine Ahnung, warum Stephen mich geküsst hatte. Bestimmt steckte so eine Art Pflicht-oder-Wahrheit-Spiel mit seinen Freunden dahinter. Stephen ist dran und muss die komische Kleine mit der Vorliebe für Zombiefilme küssen.

Mein Magen knurrte.

Korrektur: Die komische Kleine mit einer Vorliebe für Zombiefilme, die sich jetzt durch die ganze Stadt hätte fressen können. Was aber nicht weiter schlimm war, bei meiner unterentwickelten Figur. Meine Schulnoten mochten großartig sein, meine BH-Größe hingegen war demütigend.

Tägliche achttausend Kalorien würden dieses im wahrsten Sinne des Wortes kleine Problem definitiv lösen. Okay, kleiner Scherz.

Irgendetwas duftete köstlich, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich schloss die Augen und atmete genießerisch ein.

Carly stöhnte. „Oh Gott, den brauche ich jetzt gar nicht. Ich warte hier drüben, okay?“

„Was?“ Ich öffnete meine Augen wieder und sah nur noch, wie sie in Richtung eines Getränkestandes verschwand.

In ihrer Aufregung stieß sie gegen einen Aufsteller mit Servietten und Strohhalmen.

„Ich hoffe, sie ist nicht meinetwegen weggerannt“, hörte ich eine mir wohlbekannte Stimme.

Ups.

„Wie hast du das erraten?“ Ich musterte Colin Richards, Carlys Exfreund, mit hochgezogenen Augenbrauen.

Colin saß in Englisch hinter mir, und seit Beginn des neuen Schuljahrs im letzten Monat waren wir befreundet. Keine ganz einfache Situation, weil Carly ihn abgrundtief hasste. Er hatte sie diesen Sommer auf einer Poolparty betrogen, was sie verständlicherweise völlig fertiggemacht hatte. Wenn Colin betrunken war, baute er allen möglichen Mist. Darunter fiel auch Julie Travis, die schon in der Grundschule ein Auge auf Colin mit seinen kurzen blonden Haaren, seinen breiten Schultern und seinem schwarzen Humor geworfen hatte.

Kaum dass er wieder nüchtern gewesen war, wollte er die Sache mit Carly wieder geradebiegen und war damit phänomenal gescheitert. Carly verkraftete es nicht so leicht, wenn man sie ernsthaft verletzte. Darin waren wir uns sehr ähnlich. Äußerlich tat sie cool. Doch ich wusste, wie mies sie sich fühlte.

„Neuer Haarschnitt?“

„Eigentlich nicht.“

„Sieht gut aus.“ Als er lächelte, fiel mein Blick auf Colins Mund. Mir war nie aufgefallen, was für schöne Lippen er hatte. Carly hatte oft geschwärmt, dass er unglaublich gut küssen konnte. Mehr als Knutschen war zwischen den beiden allerdings nicht gelaufen und ja – ich hätte es sonst auf jeden Fall gewusst.

„Benutzt du ein neues Aftershave?“ Ich machte einen Schritt auf ihn zu.

Er zuckte die Achseln. „Nee, ist nur Seife.“

Ich schaute über die Schulter zu Carly hinüber, die mich missbilligend beobachtete. Ich räusperte mich. „Ich muss los. Ähm, dann bis morgen im Unterricht, okay?“

Er nickte. „In alter Frische.“

Ich drehte mich um und ging zu Carly. Man merkte an ihren roten Wangen, dass sie sich ärgerte, aber sie versuchte, es nicht zu zeigen.

„Tut mir leid“, sagte ich.

„Muss dir nicht leidtun.“ Sie warf einen verächtlichen Blick zu Colin hinüber, der sich gerade wieder zu seinen Kumpels auf der anderen Seite des Foyers gesellte.

„Dass der Kerl noch unter den Lebenden weilt, ist ja nicht deine Schuld.“

„Er hofft ehrlich, dass du ihm verzeihst.“ „Hat er das gesagt?“

„Na ja, nicht direkt, aber doch so ungefähr.“

Ihre Lippen wurden schmal. „Wenn er den Löffel abgibt, lege ich Blumen auf sein Grab. Okay?“

„Wäre ein Anfang.“

Ich war mir nicht sicher, ob Carly wütend war, weil sie Colin wirklich liebte, oder ob dahinter etwas anderes steckte.

Ich persönlich glaube, dass ihr die Sache mit Colin so wehtat, weil er ihr erster richtiger Freund gewesen war. Sie hatte sich oft sehr im Hintergrund gehalten, weil sie sich dick fühlte – was absolut nicht der Realität entsprach –, und angenommen, sie wäre für die scharfen Typen nicht gut genug. Aber ich wusste von mindestens zwei anderen Typen, die liebend gern was mit ihr angefangen hätten, wenn sie ihnen nur eine Chance gegeben hätte. Doch stattdessen badete sie sich in Selbstmitleid. Was okay war, denn ich tat das auch ganz gern.

Plötzlich verzog Carly das Gesicht und fixierte etwas hinter mir. „Bereite dich auf das Schlimmste vor. Jordan ist im Anmarsch, und sie scheint richtig sauer zu sein.“

Meine Anspannung stieg.

Jordan Fitzpatrick und ich waren in der Theaterklasse in der Neunten ganze drei Wochen lang befreundet gewesen, bis wir uns in denselben Jungen verliebt hatten. Tragischerweise hatte er nichts für mich übriggehabt und mich noch dazu ausgelacht, sowie er von meinen Gefühlen erfuhr. Allerdings hatte er Jordan genauso wenig gewollt, woran sie mir die Schuld gab. Und deshalb hatte sie beschlossen, mich von da an zu hassen. Klar, total logisch.

Sie hatte gerade mit einigen ihrer bescheuerten Freunde das Theater, welches neben dem Kino lag, verlassen und kam auf uns zu.

Mit ihrer Größe von einem Meter achtzig, den flammend roten Haaren und ein paar Sommersprossen auf der Nase war sie mit Abstand das hübscheste Mädchen der Schule und beabsichtigte, Model zu werden. Ein Topmodel natürlich, genau wie ihre Mutter.

Die lebte in Los Angeles und war der Star einer Seifenoper in Los Angeles, während Jordan bei ihrem Vater hier in Trinity geblieben war, um die Schule zu beenden.

In jeder freien Minute bastelte Jordan an ihrer Modelkarriere und war bisher dennoch kläglich gescheitert. Nur weil man groß und wunderschön war, bedeutete das noch lange nicht, auch fotogen und talentiert zu sein.

Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass sie mich hasst?

„Ich weiß, was du Freitagnacht im Crave getrieben hast, du Schlampe“, legte sie los.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Jordan“, erwiderte ich.

„Julie hat gesagt, dass du dich ihm an den Hals geworfen hast.“

Mir drehte sich der Magen um, trotzdem bemühte ich mich, die Ahnungslose zu spielen. „Und wem, bitte?“

Sie kniff die grünen Augen zusammen. „Meinem Freund.“

„Stephen Keyes ist nicht dein Freund“, warf Carly ein. „Nicht mehr.“

Jordan klappte die Kinnlade runter. „Bitte?“

Oh verdammt. Ich hatte komplett vergessen, dass Jordan und Stephen im Sommer gerüchteweise ein Paar gewesen sein sollten.

Wegen ihres mangelnden Selbstbewusstseins ließ Carly sich eine Menge gefallen, aber wenn es um mich ging, verwandelte sie sich in einen blonden Pitbull. „Nach meinen Informationen hat er dich letzte Woche abserviert, Jordan. Offenbar ist er jetzt an jemand anderem interessiert. Und zu deiner Info, Sam hat sich nicht an ihn rangeschmissen, sondern er sich an sie. Also, wenn du irgendjemandem die Schuld daran geben möchtest, dass das Objekt deiner Begierde seine Lippen woanders einsetzt, dann bitte Stephen selbst.“

Jordan ignorierte Carly, als sei sie ein lästiges Insekt, und konzentrierte sich lieber auf mich. „Ich kann einfach nicht verstehen, warum Stephen mit einem Niemand wie dir überhaupt was zu tun haben will.“

Ihre Worte trafen mich.

In der darauf folgenden Stille knurrte mein Magen wieder. Sehr laut.

Jordans Gesichtsausdruck wurde noch angewiderter. „Du bist ekelhaft.“

„Und du bist …“

„Fahr zur Hölle, Klepto.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und dampfte ab.

Den Klepto-Spruch kannte ich schon von ihr, trotzdem zuckte ich zusammen, als hätte sie mir eine Ohrfeige verpasst. Jordan war am Tag, an dem ich erwischt wurde, im Einkaufzentrum gewesen und hatte meine Demütigung live und in Farbe miterlebt.

„Was für ein Miststück!“, rief Carly. „Beachte sie einfach nicht.“

„Ich werd’s probieren.“

„Meinetwegen kann sie Stephen behalten. Allerdings scheint er nichts mehr für rothaarige Giraffen übrigzuhaben“, erwiderte ich schnaubend.

„Hältst du das etwa für eine angemessene Beschimpfung?“

„Gib mir eine Minute. Mir fällt bestimmt noch eine bessere Beleidigung ein.“ Jordan war es gelungen, mir meine halbwegs gute Laune komplett zu vermiesen. „Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Du musst mich nicht fahren. Ich brauche ein bisschen frische Luft.“

„Bist du sicher?“

„Absolut. Außerdem muss ich mir dringend ein Sandwich besorgen. Vielleicht auch zehn, ich bin nämlich kurz vorm Verhungern.“

„Wenn du nicht zunimmst, dreh ich durch. Ich hasse meinen miserablen Stoffwechsel.“ Sie stemmte die Hände in ihre kurvigen Hüften. „Na schön, dann stopf du dich zu Hause voll. Wir sehen uns morgen. Und, Sam?“

„Ja?“

„Vergiss, was Jordan gesagt hat. Sie versucht nur, dich zu provozieren, um sich aufzuspielen. Und vergiss Stephen auch gleich. Ernsthaft. Es spielt keine Rolle, wie scharf er ist. Wenn er nicht kapiert, wie toll du bist, braucht den Versager eh niemand.“

Ich schüttelte den Kopf, brachte allerdings ein Lächeln zustande. „Was würde ich nur ohne dich machen?“

Sie grinste zurück. „Eine exzellente Frage.“ Sogar wenn sie mit ihrem eigenen Liebeskummer beschäftigt war, versuchte Carly noch alles Menschenmögliche, damit es mir mit dem meinen besser ging. Und das half mir auf jeden Fall.

Mein Magen knurrte schon wieder, und ich hetzte nach Hause. Warum ich so ausgehungert war, begriff ich nicht. Ich ahnte jedoch, dass auch zwanzig Sandwiches wahrscheinlich nicht viel daran ändern würden.