10. KAPITEL

Samantha!“, rief Bishop hinter mir her, nachdem ich fast einen Block gelaufen war.

„Bleib stehen!“

Schließlich hielt ich an. Meine Lungen fühlten sich an, als würden sie sich bei jedem Atemzug mit Eis füllen. Ich wusste, was geschehen würde und warum es getan werden musste, also konnte ich mir nicht genau erklären, was mich so panisch gemacht hatte. Vielleicht lag es daran, dass ich diesmal in der ersten Reihe gestanden hatte, statt nur um die Ecke zu schauen.

Ich war durch eine Seitenstraße gerannt. Hier gab es keine Bäume. Nur Beton und große Bürogebäude, hinter deren Fenstern nach einem langen Arbeitstag kein Licht mehr brannte. Ein Auto fuhr aus der Tiefgarage herauf und trennte Bishop und mich für einen Augenblick. Das wäre meine Chance gewesen, abzuhauen, doch ich rührte mich nicht. Meinem Eindruck nach würde ich nicht weit kommen. Bishop überquerte die Straße und blieb ein paar Schritte von mir entfernt stehen. Über uns leuchtete eine Straßenlaterne, die mir mit ihrem Licht die Illusion von Sicherheit vermittelte.

„Du weißt, dass ich das tun musste, oder?“ Ich seufzte zitternd und nickte.

„Ich habe Kraven gesagt, er soll dort warten, bis der Engel aufwacht, und das wird er. Es wird ihm gut gehen – besser als vorher. Und vor allem wird er sich daran erinnern, warum er hier ist.“

„Um dir dabei zu helfen, Monster wie mich zu jagen und zu töten.“

Bishop sah mich ernst an. „Wir werden vor allem nachts durch die Stadt patrouillieren – das ist die Zeit, in der die meisten Grays, die ihren Verstand und ihre Menschlichkeit verloren haben, umherstreifen und die Menschen bedrohen. Wir vernichten sie. Es gibt keine Möglichkeit, sie zu retten! Andere Grays wie Stephen haben ihrem Hunger noch nicht so weit nachgegeben, dass sie sich vollständig verwandelt haben. Ich muss die Quelle finden und mit ihr reden.“

„Und was willst du mit ihr besprechen?“

„Mir wurde gesagt, dass ich ihr die Chance geben soll, sich freiwillig dorthin zurückzuziehen, wo sie hergekommen ist. Sollte sie sich allerdings weigern, muss ich sie selbst dorthin schicken. Dann kann ich mich um die verbliebenen Grays kümmern, und das Team kann mich dabei unterstützen.“

Seine Antwort konnte nicht deutlicher sein. „Darum kümmern“ würde eine Menge mit diesem Dolch zu tun haben. „Kannst du den anderen Grays, die ihrem Hunger nicht nachgegeben haben und ihn kontrollieren, nicht genauso helfen wie mir?“

Er schwieg einen kurzen Moment. „Das wäre möglich. Aber sie müssen die Hilfe wollen, so wie du. Und ich kann nicht garantieren, dass es funktionieren wird.“

Ein guter Punkt. Stephen hatte gemeint, dass er sich als Gray wohler fühlte. Wenn er die Möglichkeit erhielte, seine Seele wiederzubekommen, war es sehr wahrscheinlich, dass er ablehnte. „Ich habe immer geglaubt, Engel seien friedvoll.“

Bishop blickte die Straße entlang. Seit wir stehen geblieben waren, hatte sich hier nichts mehr bewegt. Dies war ein ruhiger Teil der Stadt. „Was wir machen, muss getan werden. Wir befolgen Befehle und beschützen die Menschen vor übernatürlichen Kräften, ohne dass sie jemals etwas davon bemerken.“

„Machst du so etwas häufiger?“

„Es ist mein Job, und es war eine große Ehre, für diese Mission ausgewählt zu werden.“

Ja klar, eine Ehre. Er wurde mit solcher Wucht aus dem Himmel geworfen, dass er auf dem Kopf landete, doch mit Ehre.

„Sind die immer so gewalttätig?“, fragte ich und versuchte nicht, an den Jungen im Park mit der Stichwunde in der Brust zu denken. „Diese Missionen?“

Er zuckte die Achseln. „Manchmal.“

„Es ist ein dummes Ritual. Wer auch immer es sich ausgedacht hat – dumm.“

Seine Lippen bebten, es schien, als wollte er ein Lächeln unterdrücken, aber es gelang ihm, ernst zu bleiben. „Ich werde deine Beschwerde weiterleiten, wenn ich zurückkehre. Vielleicht können sie es bei der Erschaffung zukünftiger Rituale berücksichtigen.“

„Du machst dich über mich lustig.“

Er kam mir verlockend nah und legte mir seine Hände auf die Schultern. Die Wärme erfüllte mich. Ich war angespannt, entzog mich ihm aber nicht.

„Ich mache mich nicht über dich lustig. Was du heute Nacht getan hast, wie du uns hierher geführt hast, das war perfekt. Sogar Kraven ist klar, wie wichtig du bist. Etwas …“

„Besonderes?“, unterbrach ich ihn.

Sein Lächeln wurde breiter. „Etwas ganz Besonderes.“

„Ich habe mich noch nie als so etwas Besonderes gefühlt. Niemals.“

„Doch, das bist du. Für mich.“

Ich schluckte schwer. Da war so eine seltsame Leidenschaft in seiner Stimme, die mich komplett verwirrte. Er rückte noch dichter an mich heran und umschloss noch immer meine Schultern. Ihm so nahe zu sein sorgte dafür, dass sich in meinem Kopf alles drehte. Ich presste eine Hand auf seine Brust, um ihn fortzustoßen, und bemerkte plötzlich etwas sehr Wichtiges. „Du hast einen Herzschlag!“ Ich weiß nicht, warum es mich so sehr überraschte, etwas so Menschliches an ihm zu entdecken. Es genügte, damit ich meine Ängste beiseiteschieben konnte und meine Neugier wieder geweckt wurde.

„Natürlich. Was hast du erwartet?“

„Keine Ahnung.“ Ich erinnerte mich daran, wie Kraven den Müll durchwühlt hatte. „Musst du essen?“

„Ja.“

„Schlafen?“

„Mehr als ich mir bei dem Arbeitspensum erlauben könnte.“

„Ich verstehe.“ Das war nicht wirklich der Fall, aber ich tat so. „Siehst du dort, wo du herkommst, genauso aus? Vielleicht mit Flügeln?“

Wieder nickte er. „Obwohl hier manchmal unsere Augen …“ „Leuchten.“

„Das ist himmlische Energie. Die gibt uns unsere göttlichen Fähigkeiten.“

„Und die Dämonen – ihre Augen leuchten auch, aber rot statt blau.“

„Höllenfeuer. Dasselbe Prinzip.“

„Okay.“ Mir war schwindelig. „Ich glaube, ich muss mich hinsetzen.“

Bishop schlang einen Arm um meine Taille, um mich zu stützen. Ich legte beide Hände auf seine Brust. Unsere Blicke trafen sich – und da war es wieder. Mein Herz überschlug sich förmlich. Ich hatte genau wie vorhin das Bedürfnis, ihn zu umarmen und festzuhalten. Trotz der Dinge, die er heute getan hatte, und dem, was er war, fühlte ich mich bei Bishop in Sicherheit. Jedenfalls in diesem Augenblick. Vielleicht waren wir beide verrückt.

„Was jetzt?“, flüsterte ich.

Er sah mich wie hypnotisiert an. Dann schluckte er und schüttelte den Kopf, als wollte er ihn klar bekommen. „Jetzt gehst du nach Hause. Du hast gesagt, du gibst mir eine Stunde, und die ist um.“

„Hältst du dich an deine Versprechen?“ Zaghaft grinste er. „Ich versuche es.“

„Ich habe eine Frage.“

„Das überrascht mich nicht. Welche denn?“

„Wirst du alle Grays, denen du begegnest, so … behandeln, um sicherzustellen, dass sie nicht zu den Seelensaugern gehören? Diese … persönliche Aufmerksamkeit?“

Es dauerte einen Augenblick, bevor er antwortete. Er sah mich durchdringend an. „Das habe ich eigentlich nicht vor.“

„Ich bin einfach etwas Besonderes.“

„Sehr.“

„Warum?“

„Ich wünschte wirklich, ich wüsste es.“ Sein Griff um meine Hüfte verstärkte sich, und es schien, als würde er einen inneren Kampf austragen. Er ließ mich los und rieb dann seine Schläfen. „Ich muss ganz schön fertig sein, wenn ich so etwas fühle.“

Ich biss mir auf die Lippen, angesichts der erneuten Erinnerung daran, dass ich etwas Besonderes war, doch ich war immer noch eine hungrige Gray. „Ich werde probieren, das nicht persönlich zu nehmen.“

„Nein, ich …“ Er seufzte. „Das sieht mir gar nicht ähnlich, Samantha. Glaub mir, ich stand vom ersten Moment an vollkommen im Dienste der Mission. Nichts sollte mich ablenken. Und jetzt stelle ich fest, dass ich total abgelenkt bin. Von dir.“

Dieses Geständnis änderte für mich alles und bewirkte, dass mein Herz schneller schlug. „Oh.“

Er schüttelte den Kopf. „Das ist kompliziert. Mehr als du es dir vorstellen kannst.“

„Ich weiß. Du verschwindest in einer Woche nach Hause. Es ist so, als wärst du auf einer wirklich schrägen Geschäftsreise, das ist alles. Nach deiner Rückkehr wirst du geheilt. Kein Wahnsinn mehr.“

Er hielt meinem Blick stand. „Ich verspreche, dass ich dir helfen werde. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.“

„Warum? Ich meine, mir ist klar, dass du ein Engel bist …“

Ich hatte noch immer Schwierigkeiten, das als real zu akzeptieren.

„Und du wirst sehr bald nach Hause gehen, und ich muss dann wieder dein Feind sein.“

„Du bist nicht mein Feind. Ich hätte das von der ersten Sekunde an wissen müssen, als ich dich traf. Es war mir klar, doch ich habe meinen Instinkten misstraut. Den Fehler werde ich nicht noch einmal machen.“

„Wenn ich so anders bin, gibt es vielleicht noch andere Grays wie mich.“ Ich dachte an Stephen und die anderen im Crave. „Wenigstens einige von ihnen.“

„Das ist möglich. Es könnte andere geben, die genau wie du ihren Hunger kontrollieren können – die ihn nie stillen werden.“

Mein Magen entschied sich genau in diesem Augenblick dazu, zu knurren. „Aber was passiert, wenn sie es nicht tun? Wenn ich es nicht tue?“

Er blinzelte und schwieg einen Moment. „Ich weiß es nicht.“

Ich lachte nervös auf. „Prima. Das hilft, danke.“ Dann schluckte ich schwer. „Es ist nicht so einfach, weißt du.“

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Hast du Probleme mit dem Hunger?“

„Er ist ständig da. Ich brauche …“ Ich griff mir eine Haarsträhne und spielte nervös damit herum. „Warum muss es ein Kuss sein? Das ist so blöd. Jetzt will ich quasi jeden küssen, dem ich über den Weg laufe.“

„Jeden?“

Ich dachte darüber nach. „Nicht jeden. Es sind nur ein paar, bei denen ich das beinahe unkontrollierbare Bedürfnis habe, sie zu packen und zu küssen.“

Sein Blick verfinsterte sich. Wenn er ein normaler Junge wäre und ich ein normales Mädchen, hätte ich fast angenommen, er sei eifersüchtig.

„Der ursprüngliche Dämon soll eine unwiderstehliche Anziehungskraft besessen haben, der die Menschen nicht widerstehen konnten. Vielleicht ist das mit Stephen geschehen? Du konntest dich nicht gegen die Anziehungskraft wehren, und bei dir ist es vielleicht genauso.“

Das würde erklären, warum ich in der letzten Zeit mehr Aufmerksamkeit auf mich zog als sonst. Und ich dachte, ich hätte einfach eine wirklich gute Woche. „Heute Morgen war da ein Junge in der Schule. Er ist mir zu nahe gekommen, und ich habe beinahe …“ Ich brauchte den Rest nicht auszusprechen, um zu verdeutlichen, was ich meinte. Es half nicht gerade, den düsteren Ausdruck in Bishops Gesicht damit zu vertreiben. „Und da ist noch jemand.“

„Noch jemand, den du unbedingt küssen willst?“

„Ähm, ja. Aber wenigstens muss der sich in meiner Nähe keine Sorgen um seine Seele machen. Er hat nämlich keine.“ Er brauchte einen Augenblick, doch dann kapierte er, dass ich von ihm redete. Mein Gesicht wurde heiß, und ich konnte nicht glauben, dass ich einfach damit herausplatzte. Es war so, als könnte ich in seiner Gegenwart nur daran denken, ihn zu küssen.

„Dann bin ich wohl in Sicherheit, oder?“, erwiderte er lächelnd.

Mein Gesicht erhitzte sich noch mehr. Ich fragte mich, ob Engel küssten, auf Dates gingen oder wie das da oben im Himmel so lief. Ich hatte von ihnen immer das Bild im Kopf, dass sie sehr rein und unberührt wären. Makellos. Wobei Bishop meine Meinung über Engel schon ziemlich verändert hatte.

Ein weiteres Auto kam aus der Tiefgarage, bog nach links in die Straße ein und fuhr davon. Ich sah ihm nach.

„Ich sollte dich nach Hause bringen, damit ich sicher sein kann, dass es dir gut geht“, sagte Bishop. „Ich finde Kraven und den anderen Engel später wieder.“

Ich nickte. „Es gibt nur ein Problem.“ „Was?“

Ich deutete hinauf zum Himmel, wo ich gerade eine weitere Lichtsäule entdeckt hatte. „Ich glaube, ich habe dein viertes Teammitglied aufgespürt.“

Er blickte sich um und schaute mich dann verwirrt an. „Du hast ein weiteres Licht gesehen?“

„Scheint ganz so.“

Die Zeit war um. Ich hatte ihm die Stunde gegeben, die wir vereinbart hatten. Sollte ich bleiben oder gehen? Ich war erschöpft, aber nur noch ein Teammitglied davon entfernt, meinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Und irgendwie wollte ich auch noch ein bisschen länger mit Bishop zusammen sein. Was lächerlich war, schließlich war das hier kein Date. Und wenn es eins wäre, würde ich mir bestimmt keinen halb verrückten Engel dafür aussuchen, der nur für einen einwöchigen Job hier ist und es nicht erwarten kann, zurück nach Hause zu seinem Engelsleben zu kommen. Obwohl mir bei dem Gedanken daran, welche Folgen es haben würde, sollte ich Colin daten, und den Problemen, die ich dann mit Carly kriegen würde, die Sache mit Bishop auf einmal wie der reinste Spaziergang vorkam. Ein Engel, der so menschlich zu sein schien. Der essen und trinken konnte und einen Herzschlag hatte. Der mich so anschaute, als wollte er mich ebenso gerne küssen wie ich ihn …

„Samantha?“, unterbrach Bishop meine Gedanken.

Jepp. Kompliziert. Definitiv kompliziert. „Lass ihn uns holen“, sagte ich entschlossen. „Dann haben wir es hinter uns. Kraven hat gesagt, es gäbe vier von euch, also wird mein Part dann erledigt sein, und du bist dran mit der Hilfe.“

„So war der Deal.“

„Das war er.“

Er nickte. „Okay, zeig mir, wo er ist.“

„Was ist mit Kraven?“

Er schien bei der Erwähnung seines Namens leicht zusammenzuzucken. „Er kommt nach. Es wird einen Augenblick dauern, bis der andere Engel auf den Beinen ist.“

Das bestätigte wiederum meinen vorherigen Eindruck von den beiden. „Und du vertraust darauf, dass Kraven auf ihn aufpasst? Ich halte ihn für einen ziemlichen Unruhestifter.“

Bishop lachte bitter. „Du hast ja keine Ahnung, doch für einen Dämon ist er nur halb so schlimm.“

„Das ist nicht besonders beruhigend.“ Dann erschrak ich, denn Bishop nahm meine Hand und verschränkte seine Finger mit meinen.

Verunsichert blickte er mich an. „Ist das in Ordnung?“

„Oh klar. Prima. Im Moment.“ Mehr als prima.

Dieses Mal sah er mich nicht an. Es war vielleicht das Beste, wenn man bedachte, wie sehr er mich noch vor ein paar Minuten aus der Fassung gebracht hatte. Der Typ ließ mich wirklich alles vergessen, auch die wichtigen Dinge. Lag es daran, dass er schön, faszinierend und aufregend war? Oder war etwas völlig anderes der Grund?

Ich wünschte, dass ich seine Gedanken lesen könnte. Es würde wirklich helfen.