14. KAPITEL

Nach der Schule und bis zum Abend hatte ich nichts von Bishop und den anderen gehört. Auch wenn ich Kontakt zu ihm aufnehmen wollte, hätte ich keine Ahnung, wie.

Ich musste immerzu an ihn denken. Darüber, was ich über ihn und Kraven erfahren hatte, und an die Hoffnung, dass er auch Carly helfen konnte. Bishop spukte mir die ganze Zeit im Kopf herum. Außerdem war ich gern in seiner Nähe – die Wärme, mit der er mich erfüllte, der Klang seiner Stimme, seine große und kraftvolle Erscheinung, die mir das Gefühl vermittelte, beschützt zu werden. Ich mochte manchmal sogar die Art, wie er mich herausforderte. Ich vermisste ihn mehr, als ich erwartet hätte.

Statt darüber nachzugrübeln, machte ich mich fürs Crave fertig. Ich brezelte mich auf, als sei Wochenende – mit einem kurzen schwarzen Rock, einer schwarzen Strumpfhose, einem Glitzertop, hohen Stiefeln und meiner knielangen Lederjacke. Meine Winterjacke musste bis zu einem weniger schicken Anlass warten. Dann nahm ich mir Zeit zum Schminken, legte dicken schwarzen Eyeliner auf und bürstete alle Knoten aus meinem Haar, bis es ordentlich über meine Schultern bis zur Hüfte hinunterfiel. Ich betrachtete das Ergebnis im Spiegel – nicht gerade ein Topmodel, aber ansonsten gar nicht schlecht. Es gab mir etwas mehr Selbstvertrauen für mein Treffen mit Stephen und der mysteriösen Frau.

Bishop wäre sicher verärgert darüber, dass ich wieder ins Crave ging, doch was hatte ich für eine Wahl? Ich wollte Antworten und hatte die Chance, welche zu bekommen. Das konnte ich nicht ablehnen.

Carly holte mich um acht Uhr ab und sah ebenfalls scharf aus in dem roten Kleid, das sich an ihren Körper schmiegte.

Zehn Minuten später kamen wir beim Club an.

Als wir vom Parkplatz aus aufs Crave zuliefen, bemerkte ich einen Mann, der auf dem Bordstein saß und eine Schachtel vor sich aufgestellt hatte, zusammen mit einem Schild, auf dem er um Kleingeld bat. Sein Gesicht war schmutzig, sein dunkles Haar matt und verfilzt, und sein Bart machte auch keinen besseren Eindruck. Die Ränder seiner Fingernägel waren schwarz. Er blickte mich aus trüben Augen an. In seiner Schachtel lagen ein paar Münzen.

„Ich wünsche den jungen Damen einen wundervollen Abend“, sagte er.

Mir war der Kerl sofort sympathisch. Einige Leute, die ich in meiner kurzen Zeit als Straßenkind getroffen hatte, waren genauso arm dran wie er und suchten nur nach einer Ablenkung oder einem netten Wort. Beides, wenn möglich.

Ich zog einen Fünfdollarschein aus dem Portemonnaie und ließ ihn in die Schachtel fallen.

„Danke schön.“ Seine Zähne waren weißer, als ich es beim Rest seiner Erscheinung vermutet hätte. „Ihre Augen, so schön wie Sterne. Augen, die zu viel gesehen haben, mehr als sie sollten. Allerdings ist sie verloren und findet den Weg nicht. Wem soll sie trauen? Wem?“

Sein Gerede erinnerte mich an Bishop, und mich überkam ein Gefühl von Traurigkeit.

„Gern geschehen“, meinte ich. „Geh zu der Mission in der Peterson. Dort kriegst du eine Mahlzeit und Hilfe, wenn du welche brauchst. Doch wahrscheinlich weißt du das schon.“ So wie er aussah, musste der Mann schon seit Jahren auf der Straße leben.

Er überkreuzte die Beine und schielte zu mir herauf. „So viele sprechen mit gespaltener Zunge. Aber der Mond steht hoch am Himmel, und es wird nicht mehr lange dauern, bis die Flut alles fortspült. Nimm dich in Acht, denn mit jeder Nacht, die verrinnt, rückt die Stunde näher.“

„Ähm, Sam?“ Carly wirkte unruhig und trat mit ihren High Heels von einem Fuß auf den anderen. „Lass uns irgendwohin, wo es ein bisschen weniger wahnsinnig ist.“

„Ja, okay.“ Ich lief an dem Mann vorbei, aber er packte meinen Arm. Ein elektrischer Schlag kroch meinen Arm hinauf, und mit einem Schrei zog ich ihn zurück.

„Ich habe gewartet und beobachtet – so viele Jahre. Und hier bist du endlich. Wie ein wunderschöner Stern, der geschickt wurde, um uns alle zu retten.“

Alle retten? Im Moment konnte ich mich kaum selbst retten. Carly griff mich am Oberarm und dirigierte mich in Richtung des Eingangs. Ich blickte zurück auf den verrückten Obdachlosen, der mich berührt hatte. Das fühlte sich ziemlich genau wie die Elektrizität an, die ich spürte, wenn ich Bishop anfasste. Wer war er?

„Okay, das war gruselig“, stieß Carly hervor, nachdem wir das Crave betreten hatten.

„Ja.“ Mein Hals schmerzte plötzlich, und mir war schlecht. Ich fühlte mich dem Obdachlosen verbunden, der über Lügen und Fluten und Sterne plapperte. War er ein Engel wie Bishop, der bei der Ankunft in Trinity zu Schaden gekommen war? Aber mich zu berühren hatte seinen Verstand nicht geklärt. Ich hatte in seinen Augen gesehen, dass er den Schlag auch gefühlt hatte, doch er hatte danach nicht begonnen, zusammenhängend zu sprechen. Ach, das war nichts. Etwas elektrische Aufladung und meine blühende Fantasie, das war alles.

„Geht es dir gut?“, fragte Carly und legte eine Hand auf meine Schulter.

Ich räusperte mich und versuchte mich zusammenzureißen. „Abgesehen davon, dass ich für alle Ewigkeit frieren und Hunger haben werde, geht es mir gut.“

„Zuerst reden. Dann essen.“

Ich nickte. Letzte Nacht mit Stephen hatte ich schon so eine Ahnung gehabt, dass ich ihn bald wiedersehen würde. Mir war nur nicht klar gewesen, wie bald das sein würde.

Carly stieg die Wendeltreppe voran hinauf zur Lounge. Ich war anscheinend die Einzige von uns beiden, die nervös war. Ich wünschte mir, dass Stephen mir bei dem Kuss auch etwas von dem Selbstvertrauen gegeben hätte, das er offenbar Carly verpasst hatte. Ich erwartete, dass Stephen mich wütend und mit Abscheu anschauen würde nach der Konfrontation in der letzten Nacht, doch in dem Augenblick, als er mich sah, lächelte er mich an. Anlächeln. Mich. Und es war ein umwerfendes Lächeln, das früher einmal mein Herz zum Rasen gebracht hätte. Aber das passierte jetzt nur noch bei einem Typen, und das war ganz bestimmt nicht Stephen. Dennoch ließ es mich nicht ganz kalt. Von genau so einem Lächeln war ich am letzten Freitag von der Tanzfläche gelockt worden. Er blickte Carly freundlich an, während er sich uns näherte.

„Danke, dass du dich darum gekümmert hast. Ich weiß das sehr zu schätzen.“

„Kein Problem.“ Sie umarmte ihn sogar, dann sah sie mich an. „Ich lasse euch beide allein.“

„Nein, warte einen Moment …“, begann ich.

Doch sie hatte sich schon zu ein paar anderen Leuten gesellt, die auf einem roten Sofa an der Treppe saßen. Stephen schaute mich wieder an, aber er lächelte nicht mehr. Er wirkte auf einmal verlegen. „Es tut mir wirklich leid wegen letzter Nacht, Samantha.“

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Es tut dir leid?“

„Ja. Ich habe das nicht besonders gut geregelt.“

„Meinst du, bevor oder nachdem du meiner besten Freundin die Seele ausgesaugt hast?“ Meine Stimme klang eiskalt.

„Du wirst bald merken, dass es alles zum Besten ist“, erwiderte er. „Aber ich verstehe, warum du aufgebracht bist. Wie schon gesagt, ich habe die Sache schlecht geregelt. Ich wollte selbstbewusst wirken, schon immer, doch trotz meiner Bemühungen komme ich manchmal rüber wie ein …“

„Arsch?“, unterbrach ich ihn. „Nur ein Vorschlag. Sag mir, wenn ich nahe dran bin.“ Obwohl alle so eine gewaltige Sache aus dieser lebensverändernden Erfahrung machten, war ich noch immer stinkwütend darüber, was er Carly und mir angetan hatte. Er müsste schon sehr überzeugend sein, um meine Meinung zu ändern.

„Ja.“ Er grinste. „Ich habe mich dir gegenüber wie ein Arsch benommen. Carly hat mir unmissverständlich klargemacht, dass mein Verhalten dir gegenüber am Freitag inakzeptabel war. Sie hat in Bezug auf dich einen sehr starken Beschützerinstinkt.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit.“ Ich konnte ihn nicht mehr ansehen – er machte mich krank. „Sie sagte, heute Abend wäre noch jemand hier. Jemand, der mehr Wert auf die Wahrheit legt als du. Das ist der einzige Grund, warum ich noch einmal hier bin – glaub mir, es ist nicht deinetwegen. Wann werden wir diese Person treffen?“

„Warum nicht jetzt gleich?“, sagte jemand in unserer Nähe. An der Glaswand, die den Blick runter in den Club ermöglichte, stand ein hübsches Mädchen und beobachtete unseren feindseligen Wortwechsel. Sie war ungefähr in Stephens Alter und hatte braune Augen und dunkles Haar. Wenn sie die Quelle war, die Bishop suchte, konnte sie ein Seelen verschlingender Dämon sein. Eine Anomalie, hatte er gemeint. Sie war in der Lage, immer mehr Wesen ihrer Art zu erschaffen, und hatte erreicht, die Aufmerksamkeit von Himmel und Hölle zu erregen. Dies sogar in einem Ausmaß, das dazu führte, dass eine ganze Stadt abgeschirmt wurde und ein Team von Engeln und Dämonen geschickt wurde, um sie zu finden. Sie ging auf mich zu und streckte ihre Hand aus. „Samantha Day. Es freut mich, dich endlich zu treffen.“

Beklommen betrachtete ich ihre Hand, machte allerdings keine Anstalten, sie zu schütteln. Mir war heute nicht nach Höflichkeiten. „Wer bist du?“

„Eine Freundin.“

Na prima. Wieder jemand, der direkten Fragen auswich. Schließlich zwang ich mich, ihr die Hand zu geben. Keine Funken, keine Elektrizität, nur ein normales Händeschütteln. Ich hielt ihrem Blick stand, damit ich wenigstens tapfer wirkte. Irgendetwas an ihren Augen kam mir bekannt vor. So wie meine Woche abgelaufen war, hatte ich vielleicht eine Vision von ihr gehabt und es vergessen. „Kenne ich dich?“, erkundigte ich mich.

„Nein, wir haben uns noch nicht getroffen. Mein Name ist Natalie.“

„Du bist also diejenige mit allen Antworten?“

„Zuerst wollte ich mich dafür entschuldigen, wie sich das bisher abgespielt hat.“ Sie schaute zu Stephen hinüber, der mit verschränkten Armen neben ihr stand und mit jedem Moment unsicherer wirkte. „Wie du schon ganz richtig festgestellt hast, ist Stephen ein totaler Arsch.“

Ich lachte nervös auf, wurde allerdings sofort wieder ernst. Mir lief es eiskalt den Rücken runter. „Du warst es, die ihm am Freitag gesagt hat, dass er das mit mir machen soll, oder?“

Natalie sah mich ruhig an. „Ja, ich habe ihm befohlen, dich zu küssen.“

Angst überkam mich, und ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Auf den ersten Blick erschien sie so normal, hübsch und … so harmlos. Aber das war sie nicht.

„Ich verstehe das nicht. Warum ich?“

Sie schaute sich nach all den anderen Clubgästen um, die hier oben rumhingen und uns ignorierten – bis auf Carly, die ab und zu herübersah. „Es gab keine andere Wahl.“

„Er hat meine Seele gestohlen.“ Wut schwang in meiner Stimme mit, obwohl ich mich bemühte, ruhig zu bleiben.

Sie schüttelte den Kopf. „Es mag dir schwerfallen, das zu glauben, aber er hat dich davon befreit.“

„Nein, er hat sie genommen, ohne zu fragen. Das ist Diebstahl. Und jetzt ist mir kalt, ich habe andauernd Hunger, und ich kann sie nicht zurückbekommen. Erklär mir doch mal, was daran befreiend sein soll.“

Sie sah mich nicht mit diesem „Vertrau mir, das ist super“Blick an wie Stephen gestern, sondern sie akzeptierte meinen Zorn, anstatt ihn abzulehnen. „Bitte hör mir zu, Samantha. Darum habe ich gehofft, dass es Carly gelingt, dich trotz deiner Probleme mit Stephen zurückzubringen. Mir ist klar, dass es schwer für dich ist, und ich kann vollkommen verstehen, warum du darüber so aufgebracht bist.“ Sie deutete auf einen Tisch in der Nähe. „Setzen wir uns. Stephen, lass uns bitte mal allein.“

Stephen nickte und zog sich ohne Gegenwehr zurück. Noch eine Überraschung. Vorher glaubte ich, Stephen habe hier das Sagen. Jetzt wurde deutlich, dass es Natalie war, die wie eine hübsche dunkelhaarige Collegestudentin aussah, mit ihrem engen schwarzen Kleid und den Designer-High-Heels. Ich würde ihr eine Chance geben. Nur eine, das war alles. Ich versuchte mir etwas von Carlys neu gewonnenem Selbstbewusstsein anzueignen und nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz.

„Frag mich alles, was du wissen willst“, sagte sie.

Ich atmete zitternd aus. „Warum ich? Warum hast du Stephen am Freitag gesagt, dass er mich küssen soll?“

Sie ließ mich keinen Moment aus den Augen. „Weil du etwas Besonderes bist, Samantha.“

Ich machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus einem hysterischen Schnauben und einem Schluckauf klang. „Das wurde mir diese Woche schon öfter erzählt. Ich fühle mich nicht gerade besonders.“

„Aber das bist du.“

„Wieso? Was macht mich so besonders, dass ich als Gray auserwählt wurde?“

Sie sah mich mit einem amüsierten Leuchten in den braunen Augen an. „Eine Gray? So nennen sie das? Wie langweilig. Ehrlich.“

Ich schwieg, weil ich nicht die Aufmerksamkeit auf Bishop lenken wollte. „Ich weiß es nicht.“

„Du kannst nicht fühlen, wie besonders du bist? Du spürst nicht, dass du etwas in dir trägst, das sonst niemand hier hat? Ich wusste es von dem Moment an, als ich dich Freitagabend sah. Das macht dich stärker als all die anderen.“

Schockiert schaute ich sie an. „Sekunde mal. Du hast mich am Freitag gesehen? Hast du mich beobachtet?“

„Betrachte es als Kompliment, Samantha, und nicht als etwas Schändliches. Ich musste mich vergewissern, dass du die Richtige warst. Und du bist es.“

In meinem Kopf drehte sich alles. Noch mehr zweideutiges Gerede. „Ich will einfach meine Seele zurück. Alles andere ist mir egal.“

„Es wäre schlau von dir, es hinzunehmen und das Beste daraus zu machen. Du hast keine Ahnung, wie unglaublich diese Möglichkeit für dich ist.“ Sie hörte sich nicht so großspurig an wie Stephen, sondern ernsthaft und deutlich. So sehr, dass ich ihr beinahe glaubte. Beinahe.

„Stephen hat mir von deinem Freund Bishop erzählt“, fuhr Natalie fort. „Was genau will er? Warum ist er hier?“

Ich war mir nicht sicher, ob sie ein Dämon war. Ich konnte im ersten Augenblick keine übernatürliche Ausstrahlung bei ihr wahrnehmen, genauso wenig wie bei den anderen. Ich blickte ihr in die Augen und versuchte mich zu konzentrieren, konnte jedoch ihre Gedanken nicht lesen.

„Samantha“, ermutigte mich Natalie. „Bitte sag mir, was du über ihn weißt. Er ist über uns informiert – über mich, oder nicht? Er denkt, ich sei eine Bedrohung.“

Sie wusste einiges, obwohl ich kein Wort verraten hatte. Das machte mich nervös. Sie wollte nur meine Bestätigung und ein paar Details.

„Er ist ein Freund von mir. Gestern hat er mitbekommen, wie Stephen grob wurde, und hat mir geholfen.“

„Dein Ritter in der glänzenden Rüstung.“

„So in der Art.“

„Du bist dir nicht sicher, ob du lieber ihm oder uns vertrauen sollst, habe ich recht?“ Sie musterte mich besorgt. „Mir war nicht klar, wie hart es für dich sein würde. Du wurdest mit so viel Neuem konfrontiert, und dabei bist du noch so jung. Du bist noch ein Kind.“ Stephen hatte mich auch als zu jung bezeichnet. Es klang beleidigend und abwertend. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, fühlte ich mich absolut nicht wie ein Kind.

„Ich vertraue Bishop.“

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn du das tun würdest, wärst du heute Abend nicht noch einmal hier aufgetaucht, um nach Antworten zu suchen. Antworten, die er dir nicht geben kann oder will. Aber das ist sehr schlau, Samantha. Du solltest niemandem vertrauen außer dir selbst – deinem Herzen und deinem Bauchgefühl, denn die werden dich nicht anlügen.“

„Da stimme ich zu.“

„Was sagt dir dein Bauchgefühl über mich, jetzt, wo wir uns getroffen haben?“

Ich sah sie genau an und atmete möglichst ruhig und kontrolliert ein und aus. „Ich habe noch keine Ahnung. Du erzählst mir, ich sei etwas Besonderes und solle das einfach glauben. Ich habe nur Worte und keine Beweise.“

„Worte können mächtig, doch auch gefährlich sein. Aber nicht so gefährlich wie ein goldener Dolch, oder nicht?“

„Das kommt auf die Worte an, würde ich sagen.“ Ich nagte an meiner Unterlippe und schmeckte meinen Lipgloss. „Ich will meine Seele zurück, Natalie – und die von Carly. Das ist alles, was ich möchte.“

„Kann ich dir die Wahrheit über die menschliche Seele verraten, Samantha? Wirst du mir zuhören, bevor du ein endgültiges Urteil über mich und all das hier fällst?“

Ich schaute sie lange an und versuchte herauszufinden, ob sie mich verspottete oder sich über mich lustig machte. Sie wirkte ernst, allerdings war ich mir nicht sicher. Schließlich nickte ich. Ich würde ihr zuhören.

„Eine Seele existiert in den Menschen, solange sie die zugewiesenen Lebensjahre durchlaufen“, begann sie. „Wenn sie sterben, wird die Seele beurteilt und entweder in den Himmel oder in die Hölle geschickt.“

Ich hatte einen Kloß im Hals. „Das weiß ich schon.“

„Was du vielleicht nicht weißt, ist, dass die Seele im Grunde genommen nicht der Kern der Menschlichkeit ist. Nicht der Inbegriff des menschlichen Lebens. Sie ist nichts Unsterbliches, das nach dem Tod entweder belohnt oder bestraft wird. Jedenfalls nicht nur.“

Ich runzelte die Stirn. „Was ist sie dann?“

„Grundsätzlich ist eine Seele der Treibstoff für die Kräfte von Himmel und Hölle und hilft ihnen, die universelle Balance zu erhalten. Ohne einen stetigen Strom menschlicher Seelen würden beide bald verdorren und sterben. Die Menschen fragen sich, weshalb es immer so wirkt, als seien sie auf sich allein gestellt – Krieg, Hunger, Zerstörung, Krankheit – und kein allmächtiges übernatürliches Wesen greift ein, um die Menschen vor ihren eigenen schlechten Entscheidungen und ihrem Unglück zu retten. Die Antwort darauf ist ganz einfach: Es ist nicht das Leben der Menschen, das die Existenz von Himmel und Hölle sicherstellt, sondern deren Tod. Der Tod befreit die Seele, damit sie an einen dieser Orte geschickt werden kann, um das Gleichgewicht des Universums zu bewahren.“

Was für ein grauenhafter Gedanke – die Seele nichts als Treibstoff. Ihre Worte machten mich krank. „Du lügst“, erwiderte ich zittrig. Ich biss mir auf die Zunge, damit ich nichts sagte, was erkennen ließ, dass ich innerlich durchdrehte. Natalies Gesichtsausdruck war angespannt und ernst, aber dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht, das sie weniger düster erscheinen ließ.

„Ich weiß, das muss erst mal verdaut werden, und ich habe es stark vereinfacht. Doch das Fazit ist, dass du ohne deine Seele nicht mehr nur einfach eine Energiequelle für Himmel oder Hölle bist. Zum ersten Mal in deinem Leben bist du befreit von diesen Ketten.“

Mir drehte sich der Magen um. Es gefiel mir nicht, was ich da hörte, trotzdem wollte ich mehr erfahren und sehen, ob ich dabei irgendeine Wahrheit entdeckte, die mir nützlich sein könnte. Ich presste die Hände in meinem Schoß zusammen, und sie fühlten sich verschwitzt an.

„Wie hast du das alles erfahren?“

„Auf die harte Tour.“ Ihr Grinsen verschwand. Sie stand auf, stellte sich vor die Glaswand und blickte hinunter ins Crave. Als sie sich wieder umwandte, war ich erneut erstaunt, wie seltsam bekannt sie mir vorkam.

„Da ist etwas an dir“, murmelte ich. „Etwas, das ich nicht greifen kann. Ich habe das Gefühl, dich zu kennen.“

„Sagt dir dein Bauchgefühl das?“, fragte sie. „Dann solltest du darauf hören. Es verrät dir, dass du mir vertrauen kannst und ich nur dein Bestes will, auch wenn meine Methoden manchmal ein wenig grob wirken. Ich weiß, dass es schwer ist, das alles zu fassen, aber bitte versuch es. Du bist hierfür wichtig, Samantha. Wichtiger, als du ahnst. Du bist der Mittelpunkt von allem. Darum musste ich dich finden.“

„Was meinst du mit Mittelpunkt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich wurde nur in diese Sache hineingezogen, weil Stephen mich geküsst hat.“

Plötzlich sah sie so aus, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. „Du weißt, dass das nicht stimmt.“

Sie hatte recht. Hier gab es keine Zufälle.

„Du bist der Grund dafür, dass es die anderen Grays gibt“, meinte ich ruhig. „Du bist ihre Anführerin – die Chefin. Du hast hier das Sagen.“

„Das stimmt“, antwortete sie gelassen. „Daher verstehst du sicher, wieso ich alles über deinen Freund Bishop und seinen sehr speziellen goldenen Dolch erfahren muss. Ich weiß, dass er mich sucht – auch in diesem Moment. Wenn er mich aufspürt, wird er mich töten, weil er glaubt, das Richtige zu tun. Aber das tut er nicht.“

Mein Mund wurde trocken. Ich wollte nicht, dass sie die Wahrheit über Bishop kannte, doch gleichzeitig sagte mir mein Bauchgefühl, dass Natalie nicht das böse Geschöpf war, das ich erwartet hatte. An dieser Geschichte war mehr dran, doch noch war alles zu verschwommen, als dass ich es entschlüsseln konnte. „Ich habe keinen Schimmer, was du von mir möchtest“, entgegnete ich schließlich. „Ich kenne die Antworten, nach denen du suchst, nicht.“ Jedenfalls keine, die ich mit ihr teilen wollte.

Sie bewegte sich von der Glaswand fort und kam wieder auf mich zu. „Du beschützt ihn.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich verstehe, weshalb dich Bishop verwirrt. Offen gestanden ist es gar nicht er, der mich interessiert, sondern mein Überleben. Aber das Einzige, was mich jetzt interessiert, bist du.“

„Aber warum bin ich so interessant für dich?“ Ich suchte in ihrem Gesicht nach Anzeichen, dass sie mich bloß täuschen wollte, konnte aber nichts feststellen.

Sie setzte sich wieder an den Tisch. „Hast du deine übernatürlichen Fähigkeiten entdeckt, seit Stephen dich geküsst hat?“

Ich hielt den Atem an. „Wie hast du davon erfahren?“

„Das macht einen Teil deiner Besonderheit aus. Du hast Talente – Talente, mit denen du geboren wurdest, doch du konntest sie bis jetzt nicht benutzen. Deine Seele hat dich von ihnen abgeriegelt wie ein Schloss an einer Truhe. Jetzt ist dieses Schloss fort, oder?“

Bevor ich geküsst wurde, war ich vollkommen normal. Aber jetzt war ich das plötzlich nicht mehr, und da waren nicht nur der Hunger und die Kälte, sondern auch alles andere. Kraven konnte nicht dahinterkommen, wieso ich das konnte – die Visionen, die Lichtsäulen sehen, die elektrischen Schläge, die Gedanken von Engeln und Dämonen lesen und Bishop seinen Verstand klären. War das alles miteinander verbunden? „Vielleicht“, sagte ich schließlich.

Natalie nickte, als sei sie mit der Antwort zufrieden – oder zumindest damit, dass ich nicht versuchte, es zu leugnen. „Ich brauche deine Hilfe, Samantha.“

„Wobei?“

„Im Moment hält eine Barriere mich und jedes andere übernatürliche Wesen davon ab, aus der Stadt fortzugehen. Wir sind wie hilflose Mäuse gefangen und warten darauf, dass uns die Katzen einfangen. Ich denke, das weißt du schon.“

Ich hatte die Theorie mit der Barriere noch nicht getestet, aber ich glaubte nicht, dass sie log. „Das ist eine große Stadt. Hier kann man eine Menge machen. Ich habe Trinity in meinem Leben kaum verlassen.“

„Trotzdem sind wir hier gefangen. Ich habe keine Ahnung, was dir Bishop über mich erzählt hat, aber er irrt sich. Er ist es, dem du nicht trauen solltest, Samantha. Er ist unser Feind – dein Feind. Allerdings braucht er dich. Er nutzt deine Fähigkeiten aus, oder nicht?“

Die Musik wechselt auf etwas mit einem stärkeren Bass-Sound, den ich durch meine Schuhsohlen spüren konnte. Ich war so auf das Gespräch mit Natalie konzentriert, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie sehr meine Füße zu schmerzen begonnen hatten. Mir gefiel es nicht, dass sie Bishop beschuldigte, mich zu benutzen, doch wieder konnte ich nicht behaupten, dass sie mir Lügen auftischte. Bishop benutzte mich tatsächlich. Er hatte es sogar zugegeben und sich darum auf den Deal eingelassen, meine Seele zurückzuholen, damit wir quitt wären. „Was soll ich also tun?“

„Es ist ganz einfach.“ Sie schaute mich eindringlich an. „Du musst mir diesen goldenen Dolch bringen.“

Mir sprang beinahe das Herz aus der Brust. „Wozu?“

„Er ist mächtig – magisch. Und er ist der Schlüssel dazu, aus dieser Stadt rauszukommen. Mit deinen neuen Fähigkeiten kannst du mich retten, du kannst uns alle retten, bevor er mich findet und tötet.“

Ich starrte sie an, schockiert darüber, was sie von mir verlangte. Bishops Dolch stehlen. Ihr Leben retten. Sonst würde sie sterben. Wir alle würden sterben. Bishop hatte gesagt, er wolle mit ihr reden. Nach allem, was ich gesehen hatte, glaubte ich jedoch nicht mehr ansatzweise, dass er es damit auf sich beruhen ließe.

„Denke über alles in Ruhe nach“, sagte Natalie. „Denke gut darüber nach. Es ist jetzt sehr wichtig, dass du die richtige Entscheidung triffst. Ich will dir nicht schaden, Samantha, sondern ich will nur, dass du dein volles Potenzial ausschöpfst. Ich kann dich dabei unterstützen, und ich weiß, dass du die Wahrheit in dem erkennst, was ich dir erzählt habe. Glaube an mich, Samantha, denn ich kann dir besser helfen als er. Ich kann dir helfen, zu akzeptieren, was du bist, und nicht, was du warst.

Du bist jetzt in jeder Hinsicht etwas Besseres.“

Ich verschränkte die Arme. Seit meiner Ankunft hatte ich noch nicht einmal die Jacke ausgezogen. In mir krampfte sich alles zusammen, und mir war übel von all dem, was ich von ihr gehört hatte. „Ich möchte jetzt gehen.“

Sie nickte. „Ich werde dich nicht aufhalten. Auch ich werde jetzt aufbrechen. Vielen Dank, dass du hierhergekommen bist und mir die Gelegenheit gegeben hast, mit dir zu reden.“

Ich drehte mich um und erwartete, dass sie mich zu Boden warf und verlangte, dass ich den Dolch sofort zu ihr brächte. Das tat sie jedoch nicht. Ich hielt mich am Geländer fest, als ich die Wendeltreppe hinunterging. Einen Augenblick später folgte mir Carly.

„War es okay?“, fragte sie. „Du siehst wirklich blass aus. Blasser als sonst, was schon ein Kunststück ist.“

„Prima. Ich bin okay. Alles ist prima.“

Ich klang nicht besonders überzeugend, doch gemessen daran, dass mir der Kopf platzte, war das wohl normal. Ich wollte Antworten, und ich hatte sie bekommen, auch wenn ich mir nicht sicher war, was ich jetzt tun sollte. Nun hatte ich eine Menge Informationen zu verarbeiten.

„Also, was jetzt?“

„Vergiss die Chicken Wings zum halben Preis. Ich will einfach nur nach Hause“, antwortete ich Carly.

„Kein Problem, wir gehen.“

Ein Teil von mir wollte alles verdrängen, was Natalie erzählt hatte, aber ich konnte es nicht. Trotz dem, was sie war, wirkte sie so aufrichtig. Und da war diese Vertrautheit, die mich glauben ließ, dass das meiste ihrer Geschichte wahr war. Dass meine Seele meine Fähigkeiten blockierte hatte, stimmte. Es war wie ein weiteres Puzzleteil, das sich fügte, allerdings reichte es noch nicht aus, um das Gesamtbild zu erkennen. Wenn sie darüber die Wahrheit gesagt hatte, hatte sie dann auch mit ihren Behauptungen über Bishop recht? Konnte ich ihm nicht trauen, und war er mein Feind?

Nachdem wir den Club verlassen hatten, versuchte ich die Kälte zu ignorieren, die mich umgab. Der Himmel war klar und voller Sterne. Der Mond stand tief und erhellte die Umgebung. Als wir um die Ecke zum Parkhaus gingen, fand ich mich plötzlich Auge in Auge mit Bishop wieder.