19. KAPITEL

Engel haben keine Seelen.
Aber es war mir egal, dass es verrückt erschien. Ich wollte mehr. Ich wollte meine Ruhe haben, damit ich Bishop wieder küssen konnte. Es gab nichts anderes für mich.

Bevor ich mich ihm nähern konnte, packte Kraven meine Arme und schaute mir in die Augen. „Oh verdammt, Gray-Mädchen“, sagte er bitter. „Du konntest deine Lippen einfach nicht länger von ihm lassen, oder?“

„Lass mich los.“ Es war, als würde ich mich aus meilenweiter Entfernung hören. Ich musste wieder zu Bishop. Ich wollte ihn wieder küssen. Und ich wollte mehr – viel mehr. Ich versuchte, mich aus Kravens Umklammerung freizukämpfen.

„Es tut mir leid“, erwiderte der Dämon.

„Was?“

Er schlug mich so hart, dass es in meinen Ohren klingelte. Ich wimmerte und hielt eine Hand an meine brennende Wange. Die Realität schlug ein wie ein Blitz. Der Nebel um mich herum verschwand, und das Grauen dessen, was ich getan hatte, wurde kristallklar.

„Gut, du bist wieder zurück“, meinte Kraven und nickte. „Ich hätte dich nur ungern k. o. geschlagen – oder habe ich das? Das werden wir wohl nie erfahren.“

Ich starrte ihn an. „Was ist passiert?“

„Was passiert ist?“, wiederholte Kraven, und sein spöttischer Unterton kehrte zurück. „Findest du nicht, dass es jetzt schmerzhaft deutlich ist, Süße?“

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sich die Engel näherten und die Situation erfassten. Zach sah schockiert aus, aber Connor einfach nur kalt. Roth starrte mich nur an, die Arme vor der Brust verschränkt.

Ich schüttelte den Kopf. „Aber er ist ein Engel.“

Mein Blick wanderte zu Bishop, der sich langsam erholte. Die Linien um seinen Mund waren verschwunden, und er hatte wieder Farbe im Gesicht. Zitternd stand er auf und lehnte sich an die Mauer. Er berührte seinen Mund und schaute mich geschockt und verwirrt an – ein Spiegelbild von mir.

„Tut mir leid, dass ich euer romantisches Intermezzo unterbrechen muss“, sagte Kraven. „Doch wir können spüren, wenn in der Nähe eine Attacke stattfindet.“

Mir war kotzübel.

„Aber ich habe keine Seele“, sagte Bishop. Er wandte den Blick keine Sekunde von mir ab. Obwohl er durcheinander und erschüttert war, fühlte ich immer noch seine wachsende Leidenschaft. Ich erinnerte mich an meinen Kuss mit Stephen – es war trotz seiner Folgen nicht unangenehm gewesen, sondern leidenschaftlich und aufregend. Ich hätte ihn weitergeküsst, wenn er nicht aufgehört hätte. Und der Kuss mit Bishop war um so vieles besser gewesen. Noch immer wollte ich ihn wieder küssen, und ich bin mir sicher, er hätte mich gelassen, falls niemand hier gewesen wäre.

„Warum küsst du überhaupt eine Gray?“, fragte ihn Roth, der deutlich perplex und angewidert von dem Gedanken war. „Irgendein Experiment?“

„Das bezweifle ich“, mischte sich Connor ein. „Bishop wirkt nicht unbedingt wie ein Wissenschaftler.“

„Bishop …“ Zach machte besorgt dreinblickend einen Schritt auf ihn zu. „Wie fühlst du dich?“

„Engel haben keine Seelen“, sagte Bishop wieder.

„Gefallene Engel schon.“ Connor lehnte ein paar Schritte von ihm entfernt an der Wand und beobachtete ihn aufmerksam. Bishop blinzelte ihn an. „Ja, das ist ein Anker, der sie in der Welt der Menschen festhält. Eine Bestrafung, sodass sie keine Hoffnung auf eine Rückkehr haben. Sie sind für immer vertrieben.“

„Aber ich bin nur vorübergehend hier – für die Mission“, bemerkte Bishop. „Ich steige wieder in den Himmel auf.“

Connor antwortete nicht darauf, aber sein Gesichtsausdruck blieb finster. Er wirkte jetzt anders als der sarkastische Typ, mit dem wir zur Kirche zurückgegangen waren. Ich hätte beinahe etwas zu Bishops Verteidigung hervorgebracht, allerdings biss ich mir lieber auf die Zunge und verharrte zitternd im Schatten. Ich zweifelte nicht am Wahrheitsgehalt seiner Worte. Eine Seele! Bishop hatte eine Seele. Und ich hatte ihn geküsst, weil ich vom ersten Augenblick an diesen Hunger auf ihn gespürt hatte. Das konnte nicht real sein.

„Wusstest du es schon?“, fragte ich Connor kaum hörbar. Er sah mich an. „Ja.“

„Woher?“

„Das ist der Grund, warum ich hierher geschickt wurde.“ Er drehte sich um und musterte Bishop. „Etwas ist vollkommen falsch gelaufen, als du aufgebrochen bist. Jemand hat es versaut. Sie haben dich fallen lassen. Wirklich.“

Bishop starrte ihn an, und eine tiefe Falte erschien auf seiner Stirn. „Wie konnte das geschehen?“

Connor sah angespannt aus. „Es gibt einige, die wollen, dass du scheiterst – dass diese Mission scheitert. Der Torwächter, der dich heruntergeschickt hat, war eine der alten Wachen – der sehr alten Wachen. Ein Fanatiker, der glaubte, der einzige Weg, diese neue Plage der menschlichen Welt auszurotten, sei es, die Stadt im Sodom-und-Gomorrha-Stil zu vernichten. Doch dafür musstest du scheitern.“ Er verlagerte sein Gewicht und fuhr dann fort: „Als ich hier ankam, erwartete ich, dass dein Zustand kritisch sein würde, aber das war er nicht. Also dachte ich, dass sie sich eventuell geirrt hatten, und sagte nichts. Eine Seele zerstört den Verstand eines Engels normalerweise im großen Stil.“

Bishop starrte Connor entsetzt an, sowie er zu begreifen begann.

Zach wirkte ernst. „Der Rest von uns war geschützt, aber wenn uns niemand gefunden hätte, wären wir orientierungslos durch die Straßen gelaufen und hätten keine Ahnung gehabt, wer wir waren.“

„So ist es“, stimmte Kraven zu. „Wenn du uns nicht gefunden hättest, Gray-Mädchen, wären wir für immer durch die Stadt geirrt.“

„Sie ist eine verdammte Gray“, fuhr Roth ihn an. „Reicht dir das als Beweis? Sie muss sterben.“

„Lass sie in Ruhe“, stieß Bishop knurrend hervor. „Sie wusste nicht, dass so etwas passieren würde.“

„Sie hat uns gefunden, und das gibt ihr eine Freikarte“, erwiderte Kraven. „Diesmal zumindest.“

Roth zog sich in den Schatten zurück. Ich war überrascht, dass sie in dieser Situation nicht alle auf mich losgingen. Ich hatte gerade bewiesen, dass ich genauso furchtbar war, wie sie alle vermutet hatten. Ich wollte zu Bishop hinübergehen, ihn berühren, doch mir war bewusst, dass es das Falscheste gewesen wäre, was ich hätte machen können. „Dieser … Torwächter, der ihm das angetan hat, wo ist der jetzt?“

„Bestraft worden. Ich hoffe, er erkennt die Ironie, wenn er für sein Verbrechen aus dem Himmel geworfen wird.“ Connor blickte die Gruppe an. „Wir konnten nicht wissen, wie schlimm Bishop davon betroffen war. Die Barriere macht es nahezu unmöglich, die Situation hier unten zu kontrollieren. Also haben sie mich geschickt, um zu helfen.“

Ich schaute ihn an. „Aber wenn er die anderen nicht finden konnte, hätte er dich auch nicht aufgespürt.“

Er nickte ernst. „Ich hatte keine Ahnung, dass er die Lichtsäulen nicht sehen konnte. Mir war nur klar, dass er geistig hinüber war. Hinterher ist man immer schlauer, oder? Doch jetzt bin ich hier, um das Ding zu gewinnen. Fünf sind besser als vier, meine ich. Die Mission steht. Das ist nur ein kleiner Rückschlag.“

Ich sah mich um, als würden dort draußen in der Nacht die Antworten liegen. Das einzige Licht da draußen kam vom Vollmond und einer Laterne an der Straße. Ein Paar Autoscheinwerfer glitt vorbei. Ich suchte den Himmel ab, aber er war dunkel. Keine Lichtsäulen mehr – nur Sterne.

„Sodom-und-Gomorrha-Stil“, murmelte ich. „Genau wie in meiner Vision.“

„Was?“, fragte Connor.

„Ich … hatte eine Vision, in der die Stadt zerstört wurde. Alle waren fort. Es war irgendwie … monumental.“

Er runzelte die Stirn. „Hast du öfters verwirrende Visionen über die Zukunft?“

Ich räusperte mich. „Normalerweise nicht. Doch ist das möglich? Wenn die alten Wächter das tun wollen, werden sie das durchziehen? Falls die Mission scheitert?“

„Die Mission wird nicht scheitern“, entgegnete Kraven. „Also ist die Frage irrelevant. Streich das aus deinem Kopf, Süße. Wir haben das hier im Griff.“

Irgendwie half sein selbstsicheres Auftreten nicht. Ich fröstelte, was mich überraschte, denn ich glaubte, vollkommen betäubt zu sein. Bishop fuhr mit der Hand durch sein Haar und sah plötzlich sehr müde aus. Er war geschwächt von dem, was ich ihm angetan hatte. „Ich kann nicht wieder zurückgehen.“

„Sag das nicht.“ Ich bewegte mich auf ihn zu, hielt mich jedoch davon ab, ihm zu nahe zu kommen. Sogar aus einigen Metern Entfernung machte mich sein Geruch benommen und entfachte wieder meinen Hunger. Ich wollte ihn um jeden Preis küssen, und es fühlte sich wie ein Entzug an, wenn ich Abstand hielt. Es beeinträchtigte mich jetzt sogar noch mehr als vorher. Ich grub die Fingernägel in meine Handflächen, und der Schmerz half mir, meinen Kopf klar zu bekommen.

„Warum? Es stimmt doch. Ich bin zwar die meiste Zeit dem Wahnsinn verfallen, trotzdem bin ich nicht dumm.“ Bishops Blick wanderte zu mir, und sein Gesicht sah so aus, als spürte auch er dieses Bedürfnis, mich ganz nah an sich zu ziehen. Dann schaute er von mir zu Connor hinüber. „Es hieß, dass ich schnell wieder hinaufgeholt würde, nachdem ich mich um die Quelle gekümmert habe. Ich wurde durch den Schutzwall geschickt, damit ich dort hindurch auch wieder zurückkäme. Das wird nun nicht mehr passieren. Und mit dieser Seele in meinem Inneren kann ich vielleicht gar nicht zurückkehren. Jedenfalls nicht, wenn sie das nicht rückgängig machen können.“

„Ich werde tun, was ich kann, sobald ich wieder dort oben bin“, erwiderte Connor.

„Hast du jemals davon gehört, dass ein gefallener Engel in den Himmel zurückgekommen wäre?“

Connor sagte einen Augenblick nichts. „Nein.“ „Genau das meine ich.“

Das brach mir das Herz. Es klang, als hätte er schon akzeptiert, dass dies das Ende war. In den Himmel heimzugehen und von dem Wahnsinn befreit zu werden, der ihn quälte, war alles, was er sich wünschte, seit er hier gelandet war – sein Antrieb. Wenn er nicht zurückgehen konnte, war er wie der Obdachlose, den ich getroffen hatte. Mir fiel auf, dass ich noch nicht einmal den Namen des Mannes kannte. Ich hatte nicht gefragt.

„Ich habe jemanden getroffen“, sagte ich, um die Stille zu unterbrechen. „Einen Obdachlosen, der vor dem Crave rumhängt. Er stand irgendwie neben sich und redete wirres Zeug. Als ich ihn berührte, spürte ich eine elektrische Energie – ähnlich wie die, wenn ich Bishop anfasse. Er ist auch ein Engel.“ Ein gefallener Engel.

„Keine Überraschung“, meinte Kraven. „Es gibt eine Menge gefallener Engel in der Welt der Menschen. Der Himmel hat eine wesentlich höhere Durchfallquote als die Hölle. Wenn ein Dämon in der menschlichen Welt bleibt, ist es eher eine Belohnung als eine Strafe. Es sei denn, er wurde offiziell ins Exil geschickt.“

Bishop starrte mich an, und ich nahm den Schmerz in seinem Blick wahr, während er in Gedanken wieder mit den Fingern über seinen Mund strich. Dann sah er zu Kraven hinüber. „Hast du das gewusst?“

„Welchen Teil davon?“, fragte der Dämon. „Ich habe Schwierigkeiten, hier noch mitzukommen.“

„Dass ich gefallen bin? Dass mein Problem nicht nur die Orientierungslosigkeit durch die Barriere war?“

Kraven presste die Lippen aufeinander. „Ich habe die Anzeichen erkannt. Und ja, ich hatte vermutet, dass es so sein könnte. Allerdings war ich mir nicht sicher.“

„Warum hast du nichts gesagt?“

Da war keinerlei Mitgefühl in Kravens steinerner Miene. „Es ist nicht mein Fehler, dass du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast. Ich denke, es ist wie in der guten alten Zeit, oder? Vertrau der falschen Person, und du bist am Arsch.“

Ohne Vorwarnung warf sich Bishop auf den Dämon und schleuderte ihn hart zu Boden. Wenn Kraven ein Mensch gewesen wäre, hätte er sich wahrscheinlich den Rücken gebrochen. Bishop konnte sogar ein paar Faustschläge in Kravens Gesicht landen, bevor Zach und Connor ihn mit Gewalt zurückzogen und versuchten, ihn festzuhalten. Er wirkte jetzt vollkommen wahnsinnig, und das jagte mir Angst ein. Ich war wie am Boden festgewachsen – alles, was ich tun konnte, war, zuzusehen und zu probieren, das hier zu verstehen.

„Krieg dich wieder ein“, warnte Zach Bishop. „Du machst die Dinge nur noch schlimmer.“

Es war das erste Mal, dass ich eine Spur von Wut in der Stimme des Engels wahrnahm. Vielleicht war er nicht immer der Heiler mit dem guten Herzen.

Kraven wischte das Blut aus seinen Mundwinkeln und stand wieder auf. Seine Augen glühten rot. „Ja, ich weiß. Das nervt. Aber das kannst du nicht mir in die Schuhe schieben. Es ist nicht meine Schuld.“

„Du hättest es mir sagen müssen“, zischte Bishop.

„Warum? Was hätte das gebracht? Dein Hirn ist Brei. Wenn sie nicht wäre“, er deutete mit dem Daumen auf mich, „würdest du irgendwo in einer Gummizelle sitzen und vor und zurück wippen. Und wir anderen würden uns aus Mülleimern ernähren und auf Parkbänken schlafen. Und all das, ehe die Stadt mit uns drin dem Erdboden gleichgemacht würde, so wie in der Vision deiner Freundin.“

Der Schmerz in Bishops Gesicht berührte mich. „Was kann ich tun?“, fragte ich.

Kraven warf einen finsteren Blick in meine Richtung. „Du kannst dich zum Teufel noch mal von ihm fernhalten.“

„Ich wusste nicht, dass so etwas passieren würde.“ Ein Schluchzen stieg in mir auf.

„Du bist auf den Geschmack gekommen. Hättest du alles genommen, wenn wir dich nicht gestoppt hätten?“

Mir stockte der Atem. Ich hatte es gespürt – geschmeckt. Ich hatte gespürt, wie Bishops Seele ihn verließ und in mich hineinfloss. Und ich hatte mehr gewollt.

Roth beäugte Bishop, als wäre er kaputte Ware, die auf dem Müll entsorgt werden musste. „Das würde ihm vielleicht gefallen. Saug die ganze Seele aus ihm raus, und er kann vielleicht zurück in den Himmel flattern, ohne die Kugel an der Kette um sein Fußgelenk.“

„Oder, was viel wahrscheinlicher ist, es würde ihn vollkommen vernichten, und er würde kopfüber in das Schwarz befördert“, fügte Connor ohne Komik hinzu. „Dazu hatte ich heute schon einen Platz in der ersten Reihe. Kein Spaß.“

„Warum denkst du so etwas?“ Allein schon der Gedanke daran erschreckte mich zu Tode.

„Wir sind nicht menschlich. Also … nicht mehr. Wenn wir die Chance bekommen, ein Engel oder ein Dämon zu werden, werden wir grundlegend verändert.“ Er zuckte zusammen. „Das tut weh, das kannst du mir glauben. Doch wenn die Transformation einmal abgeschlossen ist, funktionieren wir ohne Seele. Eine zu haben …“

„Würde uns fertigmachen“, fiel Kraven ihm ins Wort. „Und wir verlieren doppelt. Ohne Seele würde ein gefallener Engel oder ein vertriebener Dämon in der menschlichen Welt zugrunde gehen. Mit ihr besteht die Gefahr, dass dir die Eier gegrillt werden.“

„Vielleicht“, erwiderte Connor achselzuckend. „Vielleicht auch nicht. Zumindest, was Bishop betrifft. Was mit ihm geschehen ist, war ein Fehler und keine Bestrafung. Vielleicht wäre es für ihn okay.“

Vielleicht. Das Wort klang nicht so, als könnte ich mich auf seine Aussage verlassen.

Bishop war zurück auf den Boden gesunken. Doch er schaute mich an, mit einem groben Ausdruck im Gesicht, und es lag etwas in seinen Augen, das ich nicht bestimmen konnte. Ein Schmerz und eine Tiefe – etwas Hilfesuchendes. All das richtete sich direkt an mich. Das ängstigte mich, denn ich hatte das Gefühl, dass ich ihn ebenso ansah. Er sollte mich jetzt hassen, allerdings tat er das nicht. Ganz im Gegenteil. Ich bemerkte, dass ich mich wieder auf ihn zubewegte, als Kraven mich brutal am Handgelenk zurückriss.

„Bleib weg von ihm“, fuhr er mich an.

Zach hockte sich neben Bishop und hielt ihn an der Schulter fest, sowie er probierte, aufzustehen, um mir entgegenzugehen. Er war die Motte und ich die Flamme. Ich wusste, dass ich ihn im Augenblick furchtbar verbrennen konnte. Trotz meines Verlangens, mich aus Kravens Umklammerung zu lösen, beherrschte ich mich.

„Jetzt spüre ich sie“, sagte Bishop und presste eine Hand auf seine Brust. „Meine Seele. Sie fühlt sich in meinem Inneren schwer an.“

„Aber leichter, als sie mal war“, fügte Kraven mit einem unfreundlichen Seitenblick auf mich hinzu. Und ich hatte schon gedacht, wir würden noch Kumpels werden. Wohl nicht. „Letztendlich warst du für deine neue Freundin nur das Abendessen.“

Ich hasste das alles hier, und es gab nichts, was ich tun konnte, um etwas zu verbessern. Kraven zog an meinem Handgelenk. Ich warf ihm einen giftigen Blick zu. „Was?“

„Ich bringe dich nach Hause.“

„Da komme ich auch alleine hin.“

„Nee. Betrachte mich als deinen Bodyguard, der aufpasst, dass du dich nicht zurückschleichst und wieder probierst, ihm die Zunge in den Hals zu stecken.“ Er blickte über seine Schulter. „Roth, mach mit Connor einen Rundgang. Zach, pass auf meinen Schatz von einem Bruder mit seinem Seelchen auf. Stell sicher, dass er uns nicht folgt. Er sieht so aus, als würde er das wollen.“

„Warte einen Moment“, meinte Connor. „Bishop ist dein Bruder?“ Als mich Kraven wegschleifte, warf ich einen Blick zurück auf Bishop. Ich hasste den Gedanken, ihn so zurückzulassen. Der Blick aus seinen blauen Augen fixierte mich. Verwirrung, Wahnsinn, Wut und … Verlangen waren darin zu lesen. Wenn man noch etwas Schuld hinzufügte, traf all das auch auf mich zu. Ich wollte weinen, aber ich hatte keine Tränen mehr. Jetzt brannten meine Augen nur noch. Ich wollte sie schließen und alle Erinnerungen daran, was eben passiert war, hinter mir lassen.

Als ich ihn auf dem Gehweg gefunden hatte, verloren, verwirrt und unfähig, die Lichtsäulen zu sehen, hatte ich ihm geholfen. In dieser Nacht heute hatte ich nur geholfen, ihn zu zerstören. In nur eine Woche von einem Extrem ins andere.

„Also hast du endlich von der Engels-Torte genascht“, sagte Kraven nach ein paar Minuten Fußmarsch. Jeder Schritt, mit dem ich mich von Bishop entfernte, fühlte sich schwer und erzwungen an. „War es das wert?“, fuhr er fort.

„Ich wollte das nicht tun.“

Er lockerte schließlich seinen Griff und ließ etwas Platz zwischen uns. Wir hatten den heruntergekommenen Teil der Stadt verlassen und erreichten eine Gegend mit hohen Bäumen, gepflegten Rasen und schicken Eigentumswohnungen. Ein Unterschied wie Tag und Nacht nach ein paar Häuserblocks.

„Genau, du bist nur ein unschuldiger Teenager, der immer am falschen Ort nach Liebe sucht.“

Kraven hatte das wundervolle Talent, mir auf den Sack zu gehen. „Du hast davon gewusst, und du hast nichts gesagt. Du hättest ihn warnen können“, fauchte ich ihn an.

„Es war nur eine Vermutung. Er hatte den Kürzeren gezogen, weil er die Stadt ohne Schutz erreichen musste. Der Wahnsinn hätte genauso gut daher kommen können. Bin ich Hellseher oder was? Das ist dein Job, Süße.“

„Wird er wieder?“

„Nach eurem ersten Kuss? Ja, davon wird er sich erholen. Du hättest ziemlich sicher sehr viel länger gebraucht, um das ganze Ding aus ihm herauszusaugen. Was die Zukunft betrifft – keine Ahnung. Er ist ein Überlebenskünstler. Wie eine Kakerlake. Gerade wenn du denkst, dass er endgültig tot ist, springt er wieder auf und schlägt mit den Flügeln.“

Ich konnte mich nur darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute angestrengt auf den Bürgersteig vor mir. Ich hatte einen Kloß im Hals und konnte kaum schlucken. „Also, was ist mit mir?“

„Gute Frage. Was ist mit dir?“

„Bringst du mich wirklich nach Hause? Oder führst du mich in mein Verderben?“

Er beäugte mich von der Seite. „Dein Verderben? Süße, du guckst eindeutig zu viele Horrorfilme.“

Ich atmete durch. „Also, was soll ich jetzt tun? Was du mir vorher geraten hast? Zu Hause bleiben, die Vorhänge schließen und mich vor der Welt verstecken?“

„Nee. Ich bin mir sicher, auch dabei würdest du in Schwierigkeiten geraten.“ Er grinste mich düster an. „Geh in die Schule wie ein braves Mädchen und halt deine kleine Freundin im Auge. Außerdem schlage ich vor, dass du dich von Bishop fernhältst, bis das hier alles vorbei ist.“

Ich lachte bitter.

„Was ist so lustig?“, wollte er wissen.

„Du klingst so, als sei dir dein Bruder scheißegal. Und ich habe geglaubt, ihr hasst euch weit mehr als diese übliche Engel-Dämon-Abneigung.“

„Ich empfinde gar nichts für ihn.“ Er presste die Lippen aufeinander. „Was auch immer du von uns denkst, es ist falsch. Wir hatten einmal biologisch etwas gemeinsam, aber das ist lange her. Zwischen uns gibt es nichts als ein paar schlechte Erinnerungen.“

„Also hasst du ihn nicht?“

„Hass kann ein nützliches Gefühl sein.“

Das war keine Antwort – nicht dass ich eine erwartet hätte. Ich sammelte mich einen Moment und war überrascht, dass ich in seinen Geist eindringen konnte. „Du hasst ihn allerdings nicht ansatzweise so sehr wie dich selbst, oder?“ Ich bedauerte meine Worte in der Sekunde, als sie ausgesprochen waren. Da die Retourkutsche ausblieb, vermutete ich, einen Nerv getroffen zu haben. „Du solltest nicht so empfinden“, meinte ich. „Ich weiß nicht, was zwischen euch beiden passiert ist, in eurer Zeit als Menschen, doch …“

„Halt einfach die Klappe, Gray-Mädchen. Falls es dir irgendwie möglich ist.“

Ich zuckte zusammen und nahm alles zurück: Er hasste nicht nur sich selbst, sondern da war auch noch eine Menge Platz für mich.

Zwanzig lange Minuten später erreichten wir endlich die Auffahrt zu meinem Haus, und ich traute mich, ihn wieder anzusehen. Kraven jedoch hatte sich bereits umgedreht und ging. Schnell lief ich ins Haus. Den einzige Hinweis darauf, dass meine Mutter hier gewesen war, stellte das leere Weinglas in der Spüle dar. Während ich in der dunklen Küche stand und mich vollkommen allein im Universum fühlte, bemerkte ich etwas Wichtiges: Zum ersten Mal seit einer Woche hatte ich keinen Hunger.

Als meine Mutter um kurz nach zehn nach Hause kam, dachte sie, dass meine niedergeschlagene Stimmung von der Neuigkeit herrührte, dass ich adoptiert war. Sie hatte solche Schuldgefühle, weil sie es mir nicht früher gesagt hatte, dass sie mir kaum in die Augen sehen konnte. Ich war darüber aufgebracht, allerdings nicht annähernd so sehr, wie sie glaubte. Es war zwar ein Schock gewesen, hatte aber auch geholfen, einige Dinge ins rechte Licht zu rücken. Ich fragte mich, wie sie reagieren würde, wenn sie herausfände, wer meine biologischen Eltern waren. Sie würde es nicht glauben. Umgekehrt würde ich das auch nicht tun. Sie mochte meine Adoptivmutter sein, trotzdem war ich wie sie Skeptikerin und Realistin.

Ich wünschte, ich hätte einen tollen Plan, damit alles wieder in Ordnung käme, doch den hatte ich nicht. Nach einer weiteren ruhelosen Nacht, in der ich kaum mehr als eine halbe Stunde geschlafen hatte, schlurfte ich wieder zur Schule. Oh wundervoller Freitag.

Meine Gedanken waren aber nicht nur mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt, sondern ich konnte auch Bishop nicht aus meinem Kopf verbannen. Es war Folter, über ihn nachzudenken – daran, was geschehen war. Der Ausdruck in seinem Gesicht, als er erfuhr, dass er ein gefallener Engel war. Sofort hatte er erkannt, dass er nicht zurückkehren konnte, auch wenn es ein Fehler des Himmels war. Es war nicht Bishops Schuld. Er hatte alles für diese Mission gegeben. Es musste eine andere Ursache geben. Der Obdachlose war auch gefallen, also musste auch er eine Seele haben. Mir blutete das Herz bei der Vorstellung, dass so Bishops Zukunft aussehen würde: allein und vom Wahnsinn getrieben durch die Straßen der Stadt zu wandern. Ich atmete tief durch und versuchte, nicht im Treppenhaus der Schule ohnmächtig zu werden.

Ich wollte nicht, dass Bishop verletzt wurde. Ich wollte, dass es ihm besser ginge. Er war so mutig. Er hatte sich für einen Auftrag freiwillig gemeldet, welche die Stadt davor bewahren sollte, zerstört zu werden. Das alles, um die Balance des verdammten Universums wiederherzustellen. Jetzt musste er vielleicht für immer hierbleiben. Und mit jedem Tag würde er verrückter werden. Es war so unglaublich unfair. Ich sehnte mich danach, ihm zu helfen, ihn zu berühren und den Wahnsinn zu vertreiben, doch Kraven verbot mir, mich ihm zu nähern. Bishop brauchte mich aber – ungeachtet dessen, was zwischen uns geschehen war. Ich musste ihn wiedersehen und ihm nahe sein, ihn umarmen, ihn küssen …

Verdammt, Samantha, denk nicht daran. Ich rieb meine Stirn so hart, dass es schmerzte. Aber dieser Kuss. Das war nicht nur ein Kuss gewesen – das war die Gratisprobe einer Droge, die man einem Süchtigen gab. Ich brauchte unbedingt mehr. Ich brauchte ihn. Ich wollte ihn. Jetzt. Morgen. Für immer. Allerdings konnte ich ihn nicht haben. Und dieser Gedanke war wie ein scharfer goldener Dolch, der langsam meine Brust aufschlitzte.

Meine Turnschuhe quietschten auf dem Boden, während ich den üblichen Weg durch den Korridor zu meinem Schrank entlangging. Meine Ledertasche fühlte sich heute schwer auf meiner Schulter an, obwohl ich keine Bücher mitgenommen hatte. Ich hatte auch keine Hausaufgaben gemacht – daran hatte ich nicht einen Gedanken verschwendet. Ich öffnete meinen Schrank und starrte hinein. Ich konnte das nicht. Warum war ich heute überhaupt hier? Um ein Auge auf Carly zu haben. Ich hob den Kopf und bemerkte, dass sie direkt auf mich zukam. Ich hatte erwartet, sie würde vielleicht schuldbewusst aussehen, aber das Gegenteil war der Fall: Sie wirkte extrem glücklich. Die Carly, die ich kannte, mochte ihre Hände vielleicht in Bienenstöcke stecken, doch sie spürte definitiv die Stiche. Das hier war nicht Carly. Nicht wirklich.

„Hey.“ Sie begrüßte mich mit einem breiten Lächeln. „Wie läuft’s?“

Katastrophale Frage. Ich traute mich nicht, sie ehrlich zu beantworten. Jeder hatte mich angelogen, also war es nur fair, wenn ich es ihnen gleichtat. „Ziemlich gut. Bei dir?“

„Großartig.“

„Und du und Paul …“

„Oh mein Gott, er ist so unglaublich. Ich kann nicht glauben, dass ich ihm vorher nie eine Chance gegeben habe.“

„Ja, ich auch. Aber …“ Wie konnte ich das klären, ohne noch mehr Schaden anzurichten? „Du hast ihn geküsst.“

Sie griff in ihren Spind und zog einige Sachen für ihren Kunstunterricht heraus, bevor sie die Tür zuknallte und sich mit der Schulter dagegenlehnte. „Ich weiß, dass du deshalb wütend auf mich bist.“

„Ich bin nicht wütend – ich mache mir Sorgen.“

„Es geht ihm gut. Du hast es selbst gesehen. Lass uns keine große Sache daraus machen, okay?“

„Warum ist das passiert? Und … ist das vorher schon mal geschehen?“ Ihr strahlendes Lächeln wurde kleiner. „Das war das erste Mal. Ich konnte nicht anders. Er roch so unglaublich fantastisch, dass ich mich nicht beherrschen konnte. Und er wollte mich küssen. Ich habe ihn nicht dazu gezwungen oder so was.“ Sie sah nicht schuldbewusst, sondern sehnsüchtig aus. „Er war so köstlich, ich kann es nicht einmal beschreiben.“

Ich zuckte zusammen, denn es erinnerte mich an meinen Kuss mit Bishop, der aus diversen Gründen sowohl wunderals auch grauenvoll gewesen war. „Du musst mir versprechen, dass das nie wieder vorkommen wird.“

Ihr Lächeln verblasste. „Ich weiß nicht, ob ich das versprechen kann.“

„Carly …“

„Schau mal.“ Innerhalb von zwei Sekunden verwandelte sich ihre Stimme von verträumt zu messerscharf. „Ich habe das unter Kontrolle. Ich habe die Warnungen verstanden – sauge nicht zu viel auf, oder du könntest die Kontrolle verlieren. Ich werde nicht zu viel nehmen. Aber ich kann es nicht ganz aufgeben. Nicht mehr. Also bleib mir damit vom Hals, okay?“

Ich stockte. „Ich mache mir nur Sorgen um dich.“

„Das musst du nicht. Paul fühlt sich bestens. Ich bin ihm heute Morgen schon begegnet. Alles prima. Also hör auf, mir Schuldgefühle einzureden, das wird nämlich nicht funktionieren. Vielleicht solltest du dich ein bisschen mehr um dich selbst kümmern. Du bist diejenige mit dem Problem.“

„Bin ich das?“

„Ja, zwei davon. So ungefähr eins neunzig groß, rattenscharf und gefährlich wie die Hölle?“

Na ja, zumindest einer von ihnen. Der andere war nur eins achtzig und gefährlich. Je länger wir dieses Gespräch führten, desto unwohler fühlte ich mich. Carly wirkte heute verändert. Sie sah nicht ein, dass das, was sie getan hatte, so schlimm war. Selbst wenn ich sie weiter drängte, würde ich es niemals schaffen, dass sie mir versprach, Paul – oder irgendjemand anderen – nicht zu küssen. Sie würde nur wütend auf mich werden. „Lass uns das vergessen“, sagte ich. „Ich vertraue dir.“

„Gut zu hören.“ Sofort erschien wieder dieses breite Lächeln auf ihrem Gesicht. „Wir müssen heute wieder ins Crave gehen. Nur weil ich Paul treffe, muss das nicht heißen, dass das exklusiv ist. Ich schwöre, ohne selbstgerecht klingen zu wollen, dass die Jungs jetzt in Scharen hinter mir herlaufen. In Scharen! Ich habe mich noch nie in meinem Leben so gut gefühlt.“

Mir war zum Heulen zumute. Die alte Carly würde bemerken, dass es ein Problem gab. Ein großes Problem. Die Carly ohne Seele hatte sich verändert. Es tut mir leid. Ich werde alles tun, um das wieder in Ordnung zu bringen. Dass du wieder die Alte bist. Ehrenwort. „Heute Abend im Crave“, erwiderte ich und nickte enthusiastisch. „Das hört sich super an.“

„Oh, das hätte ich beinahe vergessen. Ich habe eine Nachricht für dich von Natalie.“ Sie griff in ihre Geldbörse und zog einen versiegelten Umschlag heraus.

Meine Schultern versteiften sich. „Das ist von Natalie?“

„Jepp.“ Sie reichte mir das Papier. „Wir reden beim Mittagessen weiter, okay?“

„Ja, klar.“

Sie verschwand am Ende des Gangs, und ich starrte einen langen Augenblick auf den Umschlag, bevor ich ihn öffnete und die handgeschriebene Nachricht darin las.

Samantha,
es bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich brauche den Dolch, und zwar heute Nacht. Bring ihn so bald wie möglich zu mir ins Crave. Ich vertraue darauf, dass du das Richtige tust. Natalie

Klar. Gar kein Druck aus der Richtung. Nicht mehr viel Zeit? Was meinte sie? Der Engel, der Bishops Eintritt in die Stadt manipuliert hatte, wollte die ganze Stadt zerstören, um die Bedrohung durch die Grays im Keim zu ersticken. Er betrachtete die Grays als einen Virus, und der Schutzwall fungierte als ein Quarantänezelt, sodass keine infizierte Person fliehen konnte. Waren viele Engel dieser Meinung? Auch Dämonen? Oder spielte Natalie darauf an, dass Bishop sie beinahe aufgespürt hätte? Ich wusste, dass er sie gesehen hatte, jedoch hatte er sich ihr noch nicht genährt. Sie fürchtete um ihr Leben – das musste der Grund sein.

Ich befand mich immer noch in einem Zwiespalt. Sie war meine Tante – das glaubte ich. Ich wollte nicht, dass sie starb. Sie war die einzige Person, mit deren Hilfe ich meinen leiblichen Vater finden konnte. Bishop behauptete, er könne ihr helfen, wenn sie darum bat. Dies könnte immer noch gut ausgehen. Niemand musste sterben. Jedenfalls nicht, wenn ich hier etwas zu sagen hatte. Was war also mein Plan?

Englischunterricht. Ja, das klang nach einer guten Idee. Mr Saunders zuzuhören, der über Shakespeare monologisierte, hörte sich besser an als jede andere Alternative. Während der Stunde konnte ich zur Ruhe kommen, Energie tanken und überlegen, wie mein nächster Schritt aussehen würde.

„Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte“, sagte Mr Saunders. Er rückte seine runde Brille zurecht, als ich mich auf meinen Platz setzte. Er schrieb etwas an die Tafel, und ich brauchte einen Augenblick, um herauszufinden, was da stand und was es bedeutete.

Oh verdammt. Meine Chance auf Ruhe war dahin. Mr Saunders nahm das Stöhnen der Klasse mit einem diebischen Grinsen auf. Niemand machte mehr Überraschungstests. Das war einfach unfair, vor allem, wenn man bedachte, wie wenig ich in dieser Woche aufgepasst hatte. Auch wenn es daran lag, dass mein Leben in Scherben dalag und ich nicht wusste, wie ich die Einzelteile wieder zusammensetzen sollte. Ich wollte meine guten Noten nicht gefährden. Ich hatte verdammt hart dafür gearbeitet, und sie verhießen ein potenzielles Stipendium, das mich an ein College meiner Wahl bringen sollte. Das war meine Chance, zum ersten Mal in meinem Leben aus dieser Stadt herauszukommen. Ein Hoch auf … meine Zukunft. Raus aus dieser Stadt, auch wenn sie von einer Barriere umgeben war, die übernatürliche Wesen darin gefangen hielt … einschließlich meiner Wenigkeit.

Mr Saunders legte einen Multiple-Choice-Quiz-Fragebogen vor mir auf den Tisch, während eine Million Fragen durch meinen Kopf schossen. Keine davon drehte sich um Macbeth und konnte mit einem Kreuz am richtigen Buchstaben beantwortet werden. Ich überflog die Fragen, las sie aber nicht wirklich durch. Die Uhr tickte, aber meine Gedanken waren woanders.

Falls es Natalie gelang, die Stadt mit oder ohne meine Hilfe zu verlassen, könnte sie überall auf der Welt Grays erschaffen. Keine Seelen mehr. Das war der Grund, warum Himmel und Hölle gleich eingriffen, nachdem sie entdeckt hatten, dass Natalie sich in der Stadt aufhielt. Wenn Bishop und die anderen scheiterten, würden diejenigen kommen, die für die Zerstörung der Stadt gestimmt hatten. Genau wie ich es in meiner Vision gesehen hatte. Für sie waren eine Million Menschen verzichtbar, aber sechs Milliarden waren es nicht. Schließlich würden sie ja auch die Seelen der Toten bekommen. Für mich war schon ein verlorener Mensch zu viel.

Ich wollte mit Bishop reden. Er hätte vielleicht eine Idee, die mir helfen könnte, zu entscheiden, was ich als Nächstes tun sollte. Und ich wollte nicht nur einen Rat. Ich sehnte mich danach, ihn wiederzusehen. Ich brauchte ihn. Ich vermisste ihn. Ohne ihn wusste ich nicht, was ich machen sollte …

Zack!

Eine Vision durchfuhr mich und ließ mich nach Luft schnappen und die Kanten meines Tisches fest umklammern. Meine Augen weiteten sich, als die Tafel und das Klassenzimmer vor mir sich in ein völlig anderes Bild verwandelten.

Es war die verlassene Kirche. Kraven und Zach starrten mich beide an. Roth saß zu meiner Rechten auf einer hölzernen Kirchenbank und inspizierte seine Fingernägel. Connor ging hinter der Kanzel auf und ab. Durch das dreckige Glasfenster hinter ihm strömte Licht herein. Im Tageslicht erkannte ich, dass es Noahs Arche darstellte.

„Du musst aufhören, dich selbst zu bemitleiden“, fuhr Kraven mich an.

„Wer, ich?“, fragte ich verwirrt.

„Ich bemitleide mich nicht selbst“, schnauzte Bishop ihn knurrend an. Es war seine Stimme, aber ich konnte ihn nirgendwo sehen.

Kraven verdrehte die Augen. „Doch, das tust du. Ganz wie in den alten Zeiten, Brüderchen. Das ist wirklich armselig.“

„Fahr zur Hölle.“

„Da war ich schon!“

Hände fuhren über meine Augen – Bishops Hände –, als wollten sie die Welt ausschließen, und dann – zack! – war ich wieder zurück im Klassenzimmer. Das war Bishop. Ich hatte gerade durch Bishops Augen gesehen. Was zur Hölle …

Plötzlich fiel mir auf, dass mich alle anstarrten. Einige drehten sich zu mir um, während sie ihre ausgefüllten Quizbögen vorn bei Mr Saunders abgaben. Was hatte ich gerade gesagt oder getan, um so viel Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen? Der Unterricht war fast vorbei, und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass nur noch zehn Minuten übrig waren.

„Mrs Day“, fragte Mr Saunders stirnrunzelnd. „Geht es Ihnen gut?“

„Ich … ich denke, schon.“ Ich dachte, er wäre wütend auf mich, weil ich das Ende des Tests störte, aber stattdessen wirkte er besorgt. „Möchten Sie lieber gehen?“

Ich nickte nur, suchte mein Zeug zusammen und stolperte aus der Klasse, als würde ich gejagt. Irgendwie fühlte es sich so an, als wäre es tatsächlich so.