Mein Genick war gebrochen. Das erklärte, warum ich von den Schultern abwärts nichts fühlte. Er hatte es getan – mich getötet. Mein Leben entwich aus mir. Ich hatte gedacht, sie bräuchten den Dolch, um eine Gray zu töten, aber da hatte ich mich wohl getäuscht. Vielleicht beschleunigte der Dolch den Tod nur.
„Warum heilst du sie nicht?“, schrie Kraven. „Wir könnten sie noch brauchen.“
„Das versuche ich“, presste Bishop hervor, und in seiner Stimme schwang Panik mit. „Es funktioniert nicht.“
„Lass mich es versuchen.“ Jemand kniete sich neben mich und schob Bishop beiseite. Warme Hände berührten meinen Hals, und die Hitze drang tief in mich hinein. Ich konnte kaum etwas sehen außer seinem rötlichen Haar und grünen Augen, die blau zu leuchten begannen, sobald er sich mit mir verbunden hatte.
Alles wird gut. Engel können heilen, wenn sie schnell genug an die Verletzung herankommen, auch wenn sie sehr schwer ist. Das hier ist gerade erst passiert. Versuche keine Angst zu haben.
Es waren seine Gedanken, und er sandte sie mir, als wüsste er schon, dass ich sie lesen konnte. Der Engel – er war es, den wir auf der Bank im Park gefunden hatten. Seine Berührung wurde so heiß, dass ich aufschrie, sowie sie mich durchströmte, aber dann war es mit einem Schlag vorbei. Mein Herz raste wie wild – doch es schlug noch. Ein gutes Zeichen!
Der Engel half mir dabei, mich aufzusetzen. „Geht es jetzt besser?“
Mit zitternden Händen griff ich mir an den Hals und sah schockiert zu ihm auf. „Du hast mich geheilt.“
„Ich habe mein Bestes getan.“
„Was tust du?“, stieß der neue Dämon knurrend hervor. „Warum hast du sie gerettet, du Idiot?“
Bishop stand auf und ging auf den Dämon zu, der immer noch von Kraven festgehalten wurde. Dann rammte er ihm seine Faust ins Gesicht, riss ihn aus Kravens Griff und schleuderte ihn gegen ein parkendes Auto. Immer weiter schlug er auf ihn ein, und sowohl Kraven als auch der neue Engel konnten die beiden nur mit größter Mühe auseinanderbringen. Sie sahen einander so ähnlich – Engel und Dämon. Ich hätte niemals sagen können, was sie waren, wenn ich es nicht gewusst hätte. Dank der Bearbeitung durch Bishops Fäuste lief Blut aus der Nase und dem Mundwinkel des Dämons. Außerdem hatte er eine Schnittwunde im Gesicht, die jedoch nach einer Berührung des rothaarigen Engels mit einem sanften blauen Leuchten sofort heilte.
„Lass mich in Ruhe“, schrie ihn der Dämon an.
„Du musst dich beruhigen“, erwiderte der Engel.
„Sie ist eine Gray!“
„Sie gehört zu uns“, erwiderte Kraven.
Ich war angesichts unserer bewegten Geschichte von diesem Statement überrascht. Er wollte mich nicht mehr töten, allerdings wusste ich, dass es nicht daran lag, dass er mich plötzlich mochte, sondern weil er dachte, dass ich ihnen noch von Nutzen sein könnte.
In den letzten siebzehn Jahren war ich noch nie dem Tod so nah gewesen. Über meine Sterblichkeit hatte ich mir niemals viele Gedanken gemacht. Fast tot. Genau hier, noch vor wenigen Minuten. Aber jetzt war es, als sei es nie geschehen. Mir war das Genick von einem Dämon gebrochen und von einem Engel war ich wieder geheilt worden. Das war definitiv ein Schock.
Langsam stand ich auf und schlang die Arme fest um meinen Körper, damit dieses Zittern endlich aufhörte. Die Kälte der Nacht durchdrang mich noch stärker als vorher. Mein Hals fühlte sich jedoch warm an, als hätte ich einen Wollschal darumgewickelt.
„Ich bringe dich um und schicke deinen Arsch direkt in das Schwarz, Dämon“, schrie Bishop. Er wurde noch immer von Kraven festgehalten und versuchte mit aller Kraft, sich zu befreien. „Wenn du sie noch einmal anfasst, wenn du sie auch nur ansiehst, dann werde ich es tun. Das schwöre ich dir.“ Der neue Dämon stoppte den Versuch, sich aus dem Griff des neuen Engels zu befreien, und starrte Bishop ungläubig an. „Warum verteidigst du eine Gray? Ich tue nur das, wozu ich hierher gesandt wurde. Du erinnerst dich? Der Grund, warum du mich gesucht und meine Erinnerung zurückgebracht hast. Blödes Ritual, übrigens.“
Es schien so, als wären wir uns zumindest in einer Sache einig.
Bishop hatte die Selbstbeherrschung verloren und wirkt wie von Sinnen. Er tat mir leid.
„Diese Gray war in der Lage, uns zu finden – auch dich“, erklärte Kraven.
„Sie hat irgendeine schräge Fähigkeit“, sagte der neue Dämon. „Damit hat sie mir einen elektrischen Schlag versetzt.“
„Ja, ja, hab ich mitgekriegt. Das kitzelt nicht gerade, oder?“, kommentierte Kraven.
„Was ist sie?“
„Eine Nervensäge. Aber, im Ernst, Kumpel, du musst mal runterkommen, und zwar gleich. Oder wir haben ein Problem“, erwiderte Kraven.
„Mir geht es gut.“
„Klar, genau so sieht es aus. Ich empfehle dir dringend, uns keinen Ärger mehr zu machen, wenn du weißt, was gut für dich ist. Wenn du diese Mission versaust, hast du mich am Hals.“ Er sah kurz hinüber zu dem neuen Engel. „Wir müssen auch ein Auge auf Bishop haben. Der ist komplett hinüber.“
Daraufhin lachte Bishop. Es klang tonlos und ohne Humor. Mir lief es kalt den Rücken herunter. „Hinüber. Ja, genau. Man kann nur noch meine Überreste zusammenfegen. Ich kann das Licht nicht sehen, die anderen nicht finden, kann nicht heilen … Eigentlich kann ich nur rumstehen und zuschauen und mich fragen, warum und wie und wer …“
Kraven blickte ihn misstrauisch an. „Ähm, klar, was auch immer du sagst … Gray-Mädchen, bist du so weit wiederhergestellt, um hier ein bisschen zu helfen?“
Was ich am liebsten tun wollte, war fortlaufen und alles hinter mir lassen. Aber ich war immer noch da, vor allem weil die Ereignisse mich so geschwächt hatten, dass ich nur darauf warten konnte, was als Nächstes passieren würde. Und ich konnte mich nicht von Bishop abwenden, wenn er mich am meisten brauchte.
Ich machte um den neuen Dämon einen großen Bogen und ging hinüber zu Bishop. Seine Fingerknöchel waren rot und blutig. Ich sorgte mich.
„Es tut mir leid“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Ich habe versprochen, dich zu beschützen, doch ich habe versagt. Es tut mir so leid.“
„Mir ging es schon mal besser, physisch jedenfalls. Mental …“ Mir war klar, dass ich ein paar brandneuen Albträumen entgegenblickte. Aber jetzt wollte ich nur Bishop helfen. „Nimm meine Hand.“
Bishop sah mich mit glasigen Augen an, aber er bewegte sich nicht. Also ergriff ich selbst seine Hand. Es jagte mir Angst ein, wie plötzlich er die Beherrschung und seinen Verstand verloren hatte. Ich wusste, dass er es hasste. Allerdings konnte ich nicht ganze Zeit bei ihm sein, um zu helfen. Zum Glück hatten wir die anderen gefunden, und sie konnten die Stadt schützen, solange Bishop nicht hundert Prozent klar im Kopf war. Aber würde er sich wirklich besser fühlen, sobald er in den Himmel zurückgekehrt war? So weit konnte ich nicht vorausdenken. Dieser Moment war wichtig – im Hier und Jetzt leben. Wenn ich das nicht tat, würde ich ernsthaft durchdrehen.
Als ich Bishop berührte, knisterte die schon gewohnte Energie zwischen uns. Er schloss die Augen, und ich sah hinüber zu Kraven, der uns genau beobachtete.
Er nickte mir zu. „Na, das lief doch wie am Schnürchen, oder? Prima Plan, findest du nicht? Wer behauptet, dass Engel und Dämonen nicht zusammenarbeiten können?“
Ich blickte ihn einfach nur stumpf an. Der Schock war noch nicht ganz von mir gewichen.
Er grinste. „Oh ja, alle sind dieser Meinung. Bei allem, was bisher missglückt ist, könnte man beinahe glauben, wir sind zum Scheitern verurteilt, was?“
Ich dachte mit einem unguten Gefühl im Magen darüber nach. „Denkst du, dass sie gewusst haben, dass so etwas mit ihm passieren würde? Wussten sie, dass es seinen Verstand total zerstören würde, wenn er durch den Schutzwall kracht?“
Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht war sein Schädel schwächer als erwartet. Keine große Überraschung. Aber zum Glück hat er dich gefunden. Kannst du dir vorstellen, wie am Arsch wir gewesen wären, falls es nicht so gewesen wäre? Ein Hoch auf deine Fähigkeiten. Betrachte mich von nun an als wahrhaft Gläubigen. Halleluja.“
Ich hätte das als Kompliment verstanden, wenn er nicht so sarkastisch geklungen hätte. „Ich will mit euch nichts zu tun haben. Mit keinem von euch.“
„Mit keinem?“ Er schaute mich wissend an. „Ach komm,
ich schätze, du hast deinen Favoriten schon gefunden. Es ist bewundernswert, wie aufopferungsvoll du dich um die kümmerst , die besondere Bedürfnisse haben.“
Ich sah ihn vernichtend an.
„Ich kapiere es immer noch nicht“, sagte der neue Dämon kläglich. Er hatte aufgehört, sich zu wehren, weil er endlich akzeptiert hatte, dass er unterlegen war. „Kann mir mal jemand erklären, was hier los ist? Ich hatte angenommen, wir sollen die Grays töten und nicht Händchen mit ihnen halten und Valentinsgeschenke austauschen. Hab ich ein Memo verpasst?“
„Nö“, antwortete Kraven. „Das ist neu. Vertrau mir, ich hatte damit auch so meine Probleme. Habe ich immer noch. Aber so ist die Lage nun einmal. Wie ist dein Name?“
Der Dämon zögerte und bedachte Kraven mit einem Blick, der klar besagte, dass er ihm nicht traute … oder irgendjemandem sonst. „Roth.“
„Also, Roth, willkommen im Team. So lange, bis du uns Ärger machst – dann müssen wir dich töten. Ganz wirklich. Der durchgeknallte Engel, der dir die Nase gebrochen hat, hört auf den unangenehm selbstverliebten Namen Bishop. Der andere Engel heißt Zachary, doch es ist in Ordnung, wenn wir ihn Zach nennen.“
Es war Zachary, der mich geheilt hatte. Ich schaute ihn an. „Danke!“
„Sehr gerne geschehen“, antwortete dieser lächelnd.
Im Gegensatz zu Roth, der Feuer und Hass ausstrahlte, empfand ich Zachs Nähe als angenehm. Abgesehen davon, dass die Tatsache, dass er mir das Leben gerettet hatte, ihm natürlich eine Million Brownie-Punkte und meine ewige Dankbarkeit einbrachte.
„Mir geht es jetzt besser“, sagte Bishop schließlich mit fester Stimme, und seine blauen Augen klärten sich vom Wahnsinn. Mir wurde leichter ums Herz.
„Hurraaa“, lautete Kravens trockener Kommentar.
Bishop tat das Übliche: Er ignorierte ihn. Mit besorgtem Blick musterte er mich, um sich zu vergewissern, dass ich wirklich wieder ganz hergestellt war. „Ich wollte dich niemals in solche Gefahr bringen.“
Seine Wärme drang durch meine Hand in mich ein, und ich wollte ihn nicht loslassen. „Das weiß ich.“ Ich wollte nicht sagen, es sei okay, denn das war es nicht. Es würde eine Weile dauern, bis ich mich hiervon erholt hätte.
„Du solltest nach Hause gehen“, meinte er. „Und was dann?“
„Lebe dein Leben, wie du es normalerweise tun würdest. Geh zur Schule. Lerne. Mach deine Hausaufgaben. Versuche so normal zu sein wie möglich. Ich denke, das wird dir dabei helfen, mit der Sache hier klarzukommen.“
„Besser, als mich in meinem Elend zu suhlen, oder?“
Er schaute mir tief in die Augen. „Kraven wird dich heimbringen.“
„Wird er?“
„Werde ich?“ Kraven zog eine Augenbraue hoch.
Bishop sah entschlossen aus. „Ja, das wirst du.“
„Warte“, unterbrach ich ihn. „Kannst du mich nicht selbst nach Hause bringen?“
„Ich muss mit den anderen reden und versuchen, der Anführer zu sein, als der ich hergeschickt wurde. Kraven wird dich sicher daheim abliefern.“
Kraven schnaubte. „Bist du dir da so sicher?“
Bishop wirkte nicht im Geringsten amüsiert. „Du wirst ihr nichts tun.“
„Wenn ich es doch mache, dann muss ich mich vor dir verantworten, stimmt’s?“
„Dafür würde nicht genug Zeit bleiben. Wenn ich dich noch mal mit meinem Dolch ersteche, bist du tot, und zwar für immer. Daran solltest du denken.“ Jedes Wort, das er sprach, war pures Gift. „Wirst du Samantha also sicher nach Hause bringen oder nicht?“
Kravens Dauergrinsen wurde etwas schwächer. „Zu Befehl, Boss.“ Er wandte sich an mich. „Los geht’s, Gray-Mädchen.“
Auch wenn ich keine Angst mehr vor Kraven hatte – die ich vielleicht haben sollte –, war ich von ihm als Beschützer nicht gerade begeistert. Aber ich wollte unbedingt nach Hause, und ich verstand, dass Bishop als Anführer die beiden Neuen ins Team einführen musste.
„Zur Schule gehen und normal sein. Das sollte ich deiner Meinung nach tun?“, meinte ich zu Bishop.
Er nickte. „Ich werde mich bald bei dir melden.“ „Ich verlass mich darauf.“
Ich drückte noch einmal Bishops Hand und ließ ihn dann los. Es brauchte einen Moment, bis ich meinen Blick von ihm lösen konnte. Er sah angespannt aus, und ich wusste, dass wir einander noch unendlich viel zu sagen hatten. Nachdem ich ihn losgelassen hatte, überkam mich wieder die Kälte. Ich lächelte Zach schwach zu und sah noch nicht einmal in Roths Richtung, denn ich konnte seinen feindlichen Blick auch so spüren. Dann machte ich mich auf den Weg. Kraven folgte mir schweigend mit etwas Abstand, so als wollte er nicht mit mir in Verbindung gebracht werden.
Stark zu bleiben war jetzt noch schwerer als zuvor. Roth hatte mich beinahe getötet, und ich war mit solchen Situationen voller Gewalt nicht vertraut. Auch als sich meine Eltern ständig stritten, geschah das ausschließlich verbal, und sie bemühten sich, es größtenteils von mir fernzuhalten. Das hatte nicht immer funktioniert, und so war ich es gewohnt, dass Worte als Waffen benutzt wurden. Ich kompensierte meinen Familienstress mit schwarzem Humor und später mit Ladendiebstahl. Ich war nicht gut darin, meinen Schmerz zu verbergen – irgendwann suchte er sich immer einen Weg nach draußen. Heute spürte ich, wie sich Tränen in mir sammelten, und ein Schluchzen baute sich in meiner Brust auf.
„Bist du okay?“, fragte Kraven.
Ich nickte nur und ging weiter. „Wie weit noch?“
Ich blickte über meine Schulter. „Noch etwa zehn Minuten.“
Wir liefen weiter, und schließlich sprach er wieder. „Du kannst es mir erzählen, weißt du.“
„Was?“
„Was du wirklich bist. Du kannst mir die Wahrheit sagen.“ Er holte mich ein, trottete neben mir her und sah mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Verwirrung, Neugierde und auch Wut lagen darin – jedoch nicht auf mich. Vielleicht ärgerte er sich über sich selbst, weil er meine Geheimnisse nicht alle entschlüsseln konnte.
Ich schüttelte den Kopf. „Mir ist klar, dass du glaubst, ich würde etwas verbergen, aber ich habe keine Ahnung, was los ist. Im Ernst.“
„Du hast Macht über uns, und ich habe keine Ahnung, warum. Das macht mir Sorgen.“
Da waren wir schon zwei. Ich wünsche, ich hätte einen Schimmer, wieso ich so anders war. So besonders. Es würde helfen. „Ich weiß nicht, was ich dir erzählen soll. Ich war vorher so normal, dass mich niemand wirklich beachtet hat, und jetzt bin ich es nicht mehr.“
„Du bringst den Engel wieder zu Verstand, wenn du ihn berührst, du kannst die Lichtsäulen sehen, mit denen man uns aufspüren kann, falls wir verloren gehen, du kannst deinen Gray-Hunger so gut beherrschen, dass du ihm noch nicht nachgeben musstest, du kannst uns elektrische Schläge versetzen – und dann die Sache mit dem Gedankenlesen. Ich verstehe es nicht, doch dafür muss es einen Grund geben. Und den werde ich herauskriegen.“
„Soll das eine Drohung sein?“, fragte ich und fixierte ihn mit meinem Blick.
Kühl sah er mich an. „Eher ein Versprechen. Diese Mission ist zu wichtig, um sie zu gefährden.“
„Oh ja, ich bin mir sicher, du kannst es kaum erwarten, hier rauszukommen – wie Bishop. Aber ich sabotiere gar nichts. Nur für den Fall, dass du geschlafen hast und es dir nicht aufgefallen ist: Ich habe euch geholfen.“
„Tut mir leid, aber so schnell vertraue ich niemandem.“ Er schwieg einen Moment.
Ich schluckte. „Sieh mal, Kraven, ich weiß, dass du mich hasst und nicht dabeihaben willst. Das haben wir gemeinsam. Ich will, dass es schnell vorüber ist und danach alles vergessen.“
„Bishop hat dir gesagt, dass du ganz normal zur Schule gehen sollst. Wirst du das tun?“
Darüber hatte ich noch nicht wirklich nachgedacht. „Vielleicht.“
Er schien gereizt. „Denk dran, er ist durchgedreht. Ich glaube, du solltest zu Hause bleiben. Geh dem Ärger aus dem Weg. Melde dich einfach krank und sitze es zu Hause aus. So würdest du uns weniger Probleme bereiten.“
Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Du hast mir die Entscheidung gerade erleichtert. Ich werde morgen auf jeden Fall in die Schule gehen, genau wie Bishop es gesagt hat. Danke für die Entscheidungshilfe!“ Ich beschleunigte meine Schritte und hängte ihn etwas ab. Er war so ein selbstgefälliger Idiot, dass ich keine Ahnung hatte, was ich dazu noch sagen sollte.
„Warte, ich will etwas ausprobieren. Halt mal an.“
Zögernd blieb ich stehen und drehte mich zu ihm um. „Was jetzt?“
Das Licht einer Straßenlaterne leuchtete auf seine Haare und ließ sie fast goldfarben schimmern. „Ich denke an einen Namen . Kannst du meine Gedanken auch ohne das Drama drum herum lesen?“
Er sah nicht so aus, als würde er Witze machen. Seine Miene war todernst.
Ich seufzte. Dann schaute ich ihm direkt in die Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Er blockierte mich nicht, und es umgab ihn kein Schutzwall wie bei Roth. Was er gerade dachte, war für mich so einfach zu erkennen. Er war für mich ein offenes Buch. Für mich sah es sogar wie eine hübsche Handschrift aus – schwarze Tinte, mit einer Feder zu Papier gebracht. „James“, meinte ich. „Der Name geistert dir gerade durch den Kopf, oder?“
Er runzelte die Stirn. „Lass uns weitergehen.“ Er marschierte wieder los, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Wir schwiegen auf dem Rest des Weges. Zwischendurch versuchte ich noch einmal seine Gedanken zu lesen, aber diesmal stieß ich gegen eine ähnliche Mauer wie bei Roth. Jetzt schirmte er seine Gedanken gegen mich ab. Schien so, als hätte ich den Test bestanden.
Schließlich erreichten wir mein Haus. Als ich die Auffahrt entlangging, hielt meine Mutter mit ihrem Wagen neben mir an. Eine weitere Spätschicht im Büro. Meine Anspannung wuchs, während sie aus dem Wagen stieg und auf uns beide zusteuerte.
„Hallo zusammen.“ Sie streckte Kraven die Hand entgegen. „Ich bin Eleanor Day, Samanthas Mutter.“ Das Lächeln, das in den letzten zwanzig Minuten aus Kravens Gesicht gewichen war, kehrte zurück, als er meiner Mutter die Hand schüttelte. Er schaute amüsiert in meine Richtung und weidete sich zweifellos daran, wie entsetzt ich darüber war, dass ein Dämon meine Mutter berührte. „Sie können mich Kraven nennen. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mrs Day.“
Meine Mutter erwiderte das Lächeln und war offensichtlich angetan von dem hübschen großen dunkelblonden Jungen, der da in ihrer Auffahrt stand. Ich gab mir sehr viel Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Oder zu würgen.
„Kraven wollte gerade gehen“, sagte ich bestimmend.
„Das ist richtig.“ Er grinste. „Viel zu tun. Die Welt retten. Sie wissen ja, wie es so läuft.“
Meine Mutter lachte herzlich darüber. Es war ein leichtes und freudiges Geräusch, das ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört hatte. „Okay, ich lasse euch zwei dann mal verabschieden. Beachtet mich gar nicht.“ Sie warf mir einen Blick zu, der ganz klar ausdrückte, ich solle sie bei nächster Gelegenheit mit Details versorgen. Meine Mutter glaubte jetzt, dass Kraven mein Freund war. Na super. Das fehlte mir noch! Nachdem sie im Haus verschwunden war, schaute ich Kraven an.
„Irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte ich. „Außer allem?“
„Deine Mutter und du …“
„Was?“
„Bist du adoptiert?“
Ich blinzelte. Das war das Letzte, was ich erwartet hatte, von ihm zu hören. „Nein.“
„Bist du dir sicher?“
„Ich denke, so etwas würde ich wissen.“
Er zuckte mit den Schultern. „Ihr seht euch nur nicht besonders ähnlich, und ich habe nicht gespürt, dass …“ Er seufzte. „Moment. Für einen Augenblick hatte ich vergessen, dass es mir egal ist. Ich bin weg.“ Er drehte sich um und ging, ohne sich zu verabschieden.
„Warte!“, rief ich ihm hinterher.
Er sah mich über die Schulter unfreundlich an. „Was?“ „Wer ist James?“
Der Dämon musterte mich eindringlich, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Das war mein Vorname, als ich noch ein Mensch war.“ Er drehte sich wieder um und lief weiter, aber ich rannte hinter ihm her und griff seinen Arm.
„Du warst ein Mensch?“, fragte ich ihn schockiert.
Er lächelte nicht. „Wusstest du das nicht? Sehr viele Engel und Dämonen haben ihr Leben als Menschen begonnen.“
„Nein, das wusste ich nicht.“ Für einen Augenblick war ich sprachlos. „Auch Bishop?“
Er schnaubte leise. „Hast du das nicht eben in meinen Gedanken gelesen? Ich bin überrascht, wo du doch so fixiert auf alles bist, was ihn betrifft. Ich habe gedacht, dass du sofort darauf anspringst. In meinem Kopf stecken eine Menge Erinnerungen an ihn, ob es mir passt oder nicht.“
„Was meinst du damit? Hast du ihn gekannt? Vorher schon?“ „Das könnte man so sagen.“
„Was genau meinst du?“
Nach einer längeren Pause sagte er sehr leise und sanft: „Bishop war mein Bruder.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, löste er sich aus meinem Griff und verschwand in der Nacht.