Ich konnte mich nicht bewegen. Die Angst kroch durch meinen Körper wie ein Schwarm Kakerlaken. „Ein Dämon?“ „Beeindruckt?“
Warum war das hier alles nicht irgendein Film, verdammt? Den hätte ich einfach ausschalten können. Mir war auf einmal nicht mehr nur kalt, sondern es kam mir vor, als wäre ich schockgefroren, so als würde mir nie wieder warm werden. Und leichenblass war ich bestimmt auch, jedenfalls fühlte es sich so an.
Abgesehen von seinen Augen wirkte dieser Kraven wie ein ganz normaler Mensch. Er hatte einen kleinen Leberfleck neben seinem linken Mundwinkel und von der Sonne ausgeblichenes, hellbraunes Haar. Wirklich völlig normal. Wie ein Junge, den man im Shoppingcenter traf oder im Kino, oder … beim Müll-Essen in einer dunklen Seitenstraße.
Anders als bei Bishop sprach aus seinem Blick kein Wahnsinn. Kraven war eindeutig bei klarem Verstand.
Also musste ich die Verrückte sein.
„W…was willst du von mir?“, stammelte ich.
„Nur meinen Job erledigen. Je schneller, je besser.“ „Und was ist dein Job?“
„Warum sollte ich dir meine Geheimnisse verraten?“ Kraven glättete eine Falte in seinem Hemd und schaute mich dann mit seinen nun wieder bernsteinfarbenen Augen an.
Mir lief es kalt den Rücken herunter, und ich holte tief Luft, bevor ich ihm antwortete: „Ich bin nicht das, was du glaubst.“
„Eine hungrige kleine Gray mit Appetit auf menschliche Seelen?“
Kraven berührte mein Haar, und ich schlug seine Hand fort. Daraufhin packte er meine Handgelenke und drückte mich eng an sich.
Sabrina, ein Mädchen aus meiner Klasse, ging an uns vorbei. Sie war berüchtigt dafür, immer abzuschreiben, und ihre guten Noten bewiesen es.
Ich war noch nie in meinem Leben so froh gewesen, jemanden zu sehen.
„Sabrina, hilf mir!“, rief ich. „Bitte!“ Sie wandte sich nicht einmal zu mir um.
„Warum kann sie mich nicht sehen?“ Ich versuchte mich loszureißen, aber Kraven hielt mich mit eisernem Griff fest.
Er schaute dem Mädchen nach. „Weil ich es nicht will. Ich habe uns getarnt, damit wir uns ganz privat unterhalten können.“ Er musterte meinen Mund, als wäre er von ihm verzaubert.
„Okay, zur Sache, Süße. Wie viele hast du seit deiner Verwandlung geküsst?“
„Niemanden!“
Er zog eine Augenbraue hoch, und seine Lippen berührten nun schon fast meine. Ich konnte seinen Atem spüren, als er weiterredete. „Aber du sehnst dich danach, oder nicht? Es ist ein Hunger, dem du nicht widerstehen kannst, pure Leidenschaft, schmerzliches Verlangen. Sag mir die Wahrheit. Du willst es doch, oder?“
„Nein.“ Ich biss die Zähne zusammen und blickte ihn geringschätzig an.
Eben erst hätte ich fast Colin geküsst, und es hatte mich eine Menge Anstrengung gekostet, es nicht zu tun. Und normales Essen schien meinen unbändigen Hunger tatsächlich nicht stillen zu können.
Kraven wusste das, wenn ich auch nicht begriff, woher. Er schien jeden meiner Gedanken lesen zu können.
Sein Grinsen erlosch. „Schön, ich glaube dir, dennoch ist es nur eine Frage der Zeit, bis du dich nicht mehr kontrollieren kannst.“ Kraven umschloss mit seinen Fingern meinen Hals, so stark, dass ich nicht mehr atmen konnte. Ich kratzte und schlug ihn, allerdings war es zwecklos. Er hob mich in die Höhe, bis nur noch meine Zehenspitzen den Boden berührten. Niemand konnte sehen, wie er mich mitten auf dem Schulgelände würgte. Ich kämpfte, um Luft zu bekommen, um zu schreien, doch Kraven war zu stark.
„Lass sie los“, hörte ich plötzlich eine knurrende Stimme.
Ein paar Schritte von uns entfernt schien Bishop aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. In mir stiegen Panik und eine unerklärliche Euphorie auf, sowie ich ihn bemerkte.
Der Dämon löste seinen Blick von mir. „Oder was?“
„Oder ich töte dich. Wieder.“
Kraven ließ mich langsam runtergleiten und entfernte dabei seine Finger von meiner Kehle. Keuchend schnappte ich nach Luft. „Allmählich wirst du etwas lästig …“
Bishop warf sich auf den Dämon, schmiss ihn zu Boden und schmetterte ihm die Faust gegen das Kinn. Bevor er noch einmal zuschlagen konnte, griff Kraven ihn und schleuderte ihn von sich. Schnell trat ich beiseite.
Weitere Schüler schlenderten an uns vorbei, ohne uns zu beachten.
„Ein großartiger Engel bist du.“ Kraven lachte. „Kannst noch nicht mal einen niederen Dämon wie mich im Kampf besiegen.“
„Ich kann dich jederzeit ausradieren“, stieß Bishop hervor. „Sollten wir nicht zusammenarbeiten?“
„Darüber könnte man immer noch verhandeln, was mich betrifft. Ich frage mich ernsthaft, warum sie dich hergeschickt haben.“
„Tja, schade, haben sie aber. Leb damit.“
Ich wollte mich gerade aus dem Staub machen, erstarrte aber, als ich die Gesprächsfetzen mitbekam.
„Du bist ein Engel?“ Meine Stimme überschlug sich.
Bishop ging auf mich zu. „Samantha …“
Zitternd hob ich eine Hand. „Keinen Schritt näher, oder ich schreie.“
Er blieb stehen und schaute mich eindringlich an.
In meinem Schlafzimmer hing ein gerahmtes Poster mit dem Engelsbild eines Fantasy-Illustrators, den ich sehr mochte. Darauf war eine schöne und friedvolle Lichtgestalt zu sehen. Gemessen an den schrecklichen Dingen, die er bisher getan hatte, hätte ich Bishop eher für einen Dämon gehalten. Seine blauen Augen waren noch genauso wunderschön wie letzte Nacht und fesselten mich mit jedem Blick. „Wenn du ein Engel bist, warum arbeitest du dann mit einem Dämon zusammen?“
Bishop presste die Lippen aufeinander. „Das ist eine lange Geschichte.“
„Oh ja, eine sehr lange Geschichte“, bestätigte Kraven. „Warum ist sie so anders?“
„Ich weiß es nicht.“ Bishop ließ mich nicht aus den Augen. „Sie ist anders. Durch ihre Berührung konnte ich …“
„Was genau hat sie denn so Denkwürdiges berührt?“
„Pass auf, was du sagst.“
Kraven lächelte und bedachte mich mit einem Blick, bei dem ich mich ganz nackt fühlte. „Du bist schon ein rätselhaftes Gray-Mädchen.“
„Sie heißt Samantha“, korrigierte Bishop.
Der Dämon rollte mit den Augen. „Wenn das mit uns funktionieren soll, musst du dich wirklich mal lockermachen. Im Ernst jetzt.“
Mir wurde gleichermaßen schwindlig und übel. Okay, es stimmte – ich hungerte nach etwas, für das es keinen Namen gab. Seit Stephen mich am Freitag geküsst hatte. Bei Colin hatte ich so ein starkes Verlangen gehabt, ihn zu küssen, dass ich fast über ihn hergefallen wäre. Trotzdem hatte ich es nicht getan. Ich konnte es kontrollieren. Es war mir bisher gelungen, und das würde es auch weiterhin.
Kraven kam wieder näher und legte mir die Hand auf die Schulter. „Irgendwie bist du ja niedlich. Vielleicht töte ich dich doch nicht, falls dabei was für mich rausspringt.“
„Nimm deine verdammten Finger weg!“, schrie ich, und meine Angst schlug in Wut um. Ich versuchte, seine Hand abzuschütteln.
Ein Gefühl wie von einem elektrischen Schlag kroch meinen Arm hoch. Kraven keuchte vor Schmerz und taumelte zurück. Überrascht starrte ich ihn an.
„Was war das?“, brachte er hervor.
Gute Frage. Was zum Teufel war gerade passiert?
Bishop blitzte ihn an. „Bleib einfach weg von ihr.“
Kraven runzelte die Stirn. „Sie hat mir einen elektrischen Schlag verpasst.“
„Das ist unmöglich.“
„Ich habe mir das nicht eingebildet.“ Kraven fing sich wieder und musterte mich mit diesem ekelhaften amüsierten Blick. „Du wirst immer mysteriöser.“
Ich musste an die Vision denken, die mich überfallen hatte, als ich Bishop zum ersten Mal berührt hatte. Bei Kraven eben hatte es sich ganz anders angefühlt. Wie ein plötzlicher, heftiger Schmerz. Meine Haut prickelte immer noch von dem elektrischen Schlag, den ich ihm versetzt hatte, so als würde sie sich vom Griff in eine Steckdose erholen.
„Ignorier ihn einfach“, riet Bishop mir und bedachte den Dämon mit einem verächtlichen Blick. „Samantha, ich musste dich wiederfinden. Nach dem, was du gestern für mich getan hast … deine Kräfte … Wir brauchen deine Hilfe.“
„Ihr braucht meine Hilfe? Ihr nehmt mich auf den Arm, oder? Ich will nichts mit euch zu tun haben.“
Bishops Blick verdunkelte sich. „Du bist anders als die übrigen Grays. Ich habe keine Ahnung, inwiefern und warum, aber du bist es. So wie du Kraven letzte Nacht aufgespürt hast … Es gibt noch andere. Ich benötige dich, um sie zu finden, sonst sind sie alle verloren.“
Mein Pferdeschwanz hatte sich gelöst, und ich band ihn wieder zusammen. Ich mochte Bishops Stimme. Sie war warm, tief und ließ mich innerlich erzittern. Und ich hasste es gleichzeitig, dass mir überhaupt etwas an ihm gefiel, nach allem, was ich inzwischen über ihn wusste. „Lasst mich gefälligst alle beide in Ruhe.“
„Du bist durcheinander, das verstehe ich ja, doch das hier ist wichtig.“
Mir schnürte es die Kehle zu, und ich konnte nur mühsam sprechen. „Wenn hier irgendjemand durcheinander ist, dann ja wohl du. Außerdem ist es mir völlig egal, was du für wichtig hältst. Ich hasse dich, was oder wer auch immer du bist. Bleib weg von mir.“
Bishop presste die Finger gegen seine Schläfen und erschien mir richtig verzweifelt. „Ich habe keinen Schimmer, was ich noch sagen soll.“
Mein Herz zog sich zusammen. Verdammt. Ich spürte sofort wieder den Drang, ihn zu berühren, ihm zu helfen, denn mir war klar, dass ich seinen Schmerz vertreiben konnte. Allerdings hielt ich mich zurück.
„Hau einfach ab. Letzte Nacht wolltest du mich doch auch nur noch loswerden.“
„Hey, Samantha!“, rief Carly. „Was machst du denn hier draußen?“
Ich drehte mich abrupt um. Kravens Zauber wirkte wohl nicht mehr. Als ich noch etwas zu ihm und Bishop sagen wollte, waren die beiden fort. Spurlos verschwunden, genau wie in der Nacht zuvor.
„Halloooohoooo? Erde an Samantha!“
Ich stellte den Gurt meiner Tasche enger. Dann lief ich zu Carly hinüber und versuchte einen möglichst ruhigen und normalen Eindruck zu machen.
„Was ich hier tue? Nichts, warum?“ Ich biss mir auf die Unterlippe. „Ich will noch mal ins Crave.“
Carly verschränkte die Arme. „Warum das denn?“ „Um mit Stephen zu reden.“
Sie musterte mich vorsichtig. „Bist du dir da ganz sicher?“ „Ja, absolut.“
„Ich dachte nur … Nach dieser Nacht …“ Sie runzelte die Stirn. „Du bist doch nicht mehr an ihm interessiert, oder doch?“
Ich knirschte mit den Zähnen. „Oh doch, ich bin interessiert.“
Und zwar daran, was mit mir geschehen war und wie ich das Problem so schnell wie möglich beheben konnte. Ich konnte Stephen nur raten, besser ein paar Antworten für mich parat zu haben.