21. KAPITEL

Wolken waren aufgezogen und verdeckten den Mond und die Sterne. Für die Nacht war mehr Regen angesagt. Es wurde nebelig, und die Feuchtigkeit legte sich auf meine Haut. Jetzt, da Bishop seine eigene Mission verfolgte, war er nicht mehr der Anführer, und sein Wort schützte mich nicht mehr, falls Kraven beschloss, mich wie jede andere Gray zu behandeln. Vor allem, da er diesen scharfen Dolch in seinem Besitz hatte. Vielleicht war ich auch nur paranoid. „Geh mir aus dem Weg“, sagte ich so bestimmt, wie ich konnte.

„Was, keine Begrüßung für einen alten Freund?“ „Wenn ich einen sehe, dann vielleicht.“

„Machst du einen kleinen Spaziergang zu unserer neuen Bude, um deinen Freund wiederzusehen? Du musst dich von ihm fernhalten.“

Ich atmete heftig aus, entschied mich aber, meine Taktik zu ändern. Kraven hatte vorhin versucht, Bishop zu stoppen. Vielleicht konnte er mir helfen. „Ich weiß, was er vorhat, und ich will ihn aufhalten.“

„Woher? Hast du wieder meine Gedanken gelesen?“

Er würde auf keinen Fall erraten, woher ich das wusste. Ich wollte auch nicht, dass er jetzt damit anfing. Bishop hatte mich davor gewarnt, den anderen den Grund für meine Fähigkeiten zu erzählen, und das konnte ein Hinweis sein.

„Schmeichle dir nicht selbst, so interessiert bin ich auch wieder nicht an deinen Gedanken.“

„Bishop hat sich aus dem Staub gemacht. Aber keine Sorge, ich verlängere deine Gnadenfrist, solange er deinen Hokuspokus noch einmal brauchen könnte.“

„Ich muss ihn finden.“

Er zog eine Augenbraue hoch, bewegte sich allerdings keinen Zentimeter von der Stelle.

„Wow, du bist wirklich engagiert. Ist mein Engelbruder wirklich so ein toller Küsser? Irgendwie kann ich mir das kaum vorstellen.“

Glaubte er ernsthaft, dass es nur darum ging? Gott, seine Gesellschaft war so frustrierend. „Kraven, tu mir einfach den Gefallen und geh …“

Zack!

Bishop betrat das Crave. Er sah sich im dunklen Innenraum um und untersuchte die schwitzenden Gesichter der Leute, die auf der Tanzfläche von den flackernden Lichtern beleuchtet wurden. Verglichen mit anderen Wochentagen war es freitags mit Abstand am vollsten. Es waren schon einige Hundert Teenager dort. Der DJ spielte einen Remix des alten Britney-Spears-Songs „Toxic“. Obwohl ich Bishops Gedanken nicht lesen konnte, war mir klar, dass er nach ihr suchte. Er suchte Carly … Zack!

Zurück auf dem Bürgersteig, starrte ich Kraven an, der mich wiederum verwirrt anschaute.

„Wo warst du gerade?“, fragte er. „Nirgendwo.“

Sein Blick verfinsterte sich weiter. „Du warst hier, aber dein Geist war es nicht. Hast du noch mehr Tricks im Ärmel, von denen ich keine Ahnung habe, Süße?“

Panik erfasste mich. Ich musste sofort ins Crave. „Ich muss ihn stoppen.“

Der Dämon kam ein paar Schritte näher, und seine harte Miene wurde etwas weicher. „Mir ist klar, dass du glaubst, ich sei hier der Böse, doch das bin ich nicht.“

Prima, ausgerechnet jetzt wollte er reden. „Du bist ein Dämon. Das ist das Böse.“

„Das kommt darauf an, mit wem ich es zu tun habe.“ Er seufzte und hielt seinen Blick dabei auf mich gerichtet. „Du willst ihn wirklich aufhalten, aber alles, was er will, ist ein weiterer Kuss.“

„Er weiß nicht, was er will. Er ist verrückt – du erinnerst dich?“

„Er hat seine Wahl getroffen. Deine Einmischung wird die Dinge nur verkomplizieren.“

„Pech. Denn ich werde eingreifen. Jetzt geh mir verdammt noch mal aus dem Weg.“

Er bewegte sich noch immer nicht. Warum sollte er auch? Ich wollte Bishop davon abhalten, sich selbst zu zerstören. Wenn ich Erfolg hatte, würde Kraven nicht der Chef werden und den anderen sagen können, was sie zu tun hatten. Da es Nacht war, nahm ich an, dass die Übrigen gerade ihre Runde machten. Das hoffte ich jedenfalls. Seit ich gestern diesen Gray-Zombie gesehen hatte, war mir klar, dass diese Stadt dringend Schutz brauchte.

„Er verdient deine Aufopferung nicht“, erwiderte Kraven ruhig.

„Warum? Weil er einmal der Böse war, als er noch ein Mensch gewesen ist?“ Ich suchte in Kravens Blick nach irgendeiner Regung und meinte sie zu entdecken.

„Das hat er dir erzählt, oder? Ich muss gestehen, ich bin schockiert.“

Das war nur noch eine Bestätigung, bei der sich mir der Magen umdrehte. „Was hat er getan? Was hast du getan? Warum bist du ein Dämon, und er ist ein Engel?“

Seine Lippen umspielte ein tiefgründiges Lächeln. „Weil er bereit war, etwas zu tun, das ich niemals getan hätte.“

Ich konnte kaum noch atmen. „Und was wäre das?“

Sein Grinsen wurde noch breiter. „Das ist ein Geheimnis, Süße. Und ich würde niemals das Vertrauen meines Bruders missbrauchen.“

Mein Gesicht brannte vor Frustration. „Bitte geh zur Seite.“

„Oder was? Wirst du mir einen elektrischen Schlag versetzen?“

„Vielleicht.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Weißt du, ich habe deine Geheimnisse noch immer nicht entschlüsselt. Du bist für mich ein vollkommenes Rätsel.“

„Was muss ich tun, damit du verschwindest?“

Er legte den Kopf zur Seite und sah hinaus auf die Straße, als ein weiteres Auto vorbeifuhr. Ich war so nahe am Crave – nur noch zwei Blocks entfernt. Er sah mich wieder an. „Engel können heilen, während sie hier in der Welt der Menschen sind. Sie können auch Gedanken manipulieren – Menschen dazu bewegen, ihr Verhalten auf merkwürdige Weise zu ändern oder über eine Sache anders zu denken.“

„Wieso erzählst du mir das? Es ist mir egal.“ Dennoch war meine Aufmerksamkeit geweckt.

„Es ist dir nicht egal. Du bist fasziniert von allem, das mit meinem kleinen Bruder zu tun hat.“ Er rückte noch näher. „Wir Dämonen sind natürlich anders. Wir können etwas Feuer herumschleudern, wenn uns danach ist, aber unsere Kräfte sind hier weitestgehend blockiert. Wir können auch keine Spielchen mit dem Verstand der Menschen treiben, abgesehen davon, dass wir kleine Gebiete von ihrer Wahrnehmung abschirmen können. Schade eigentlich – Gedankenkontrolle würde die

Dinge erheblich erleichtern.“

Kraven streckte den Arm aus, strich mein Haar über meine Schultern zurück und ließ seine warmen Finger dann an meinem Hals entlanggleiten.

Ich schlug seine Hand fort. „Was glaubst du, was du hier tust?“

Wieder schaute er mir in die Augen und grinste noch breiter. „Vielleicht hasst du mich doch nicht so sehr, wie ich dachte. Ein Schlag ist nicht das Gleiche wie ein Stromstoß.“

„Von dem bist du etwa drei Sekunden entfernt.“

„Oh, oh. Egal, wie ich schon sagte, können Dämonen keine Gedanken beeinflussen. Wenn ich es könnte, würde ich dich davon abhalten, ihm nachzujagen. Also muss ich das auf die altmodische Weise erledigen. Ich habe diesen kleinen Trick gelernt, als ich noch ein Mensch war. Manchmal ist er wirklich hilfreich.“

Er griff wieder nach meinem Nacken und drückte fest zu. Bevor ich irgendetwas tun konnte, um ihn aufzuhalten, wurde um mich herum alles schwarz.

Ich kam in einer Gasse wieder zu mir und blickte hinauf in den dunklen Nachthimmel. Ein Regentropfen fiel direkt in mein Auge, und ich kämpfte mich auf die Beine hoch, während ich heftig blinzelte und mir das Gesicht rieb.

„Wow“, meinte Kraven. Er lehnte an der Mauer neben den Mülltonnen. „Du warst nicht ansatzweise so lange ausgeknockt, wie ich angenommen hatte.“

„Wie lange?“, fragte ich mit krächzender Stimme. „Ein paar Minuten.“

Ich schwankte etwas und war benebelt, aber auch wütend. Panik überkam mich. „Warum hast du das mit mir gemacht? Willst du so unbedingt der Chef sein, dass du mich umhauen musst, damit ich ihm nicht folge?“

Er zuckte mit den Schultern. „Es ist besser, wenn er fort ist.“

„Wie kannst du das behaupten? Er ist dein Bruder. Ist es dir egal, was mit ihm passiert?“

Er hob den Kopf. „Süße, du weißt wirklich gar nichts von uns, wenn du eine solche Frage stellst.“

Herzloser Bastard. Ich sah ihn finster an, als ich nach meinem Hals griff. Er hatte die Blutzufuhr zu meinem Gehirn unterbrochen wie so ein spitzohriger Typ aus Star Trek. Warum hatte ich ihn so nah herankommen lassen, dass er mich berühren konnte? Es war nicht so, als mochte ich den Idioten. Er widerte mich an. „Ich nehme an, du glaubst, dass du die Mission schützt, indem du mich aufhältst“, sagte ich verächtlich. „Du musst sie erfolgreich abschließen, damit du hier in Trinity bleiben kannst und eine Chance auf Wiedergutmachung erhältst. Das hast du Bishop erzählt, stimmt’s?“

„Woher weißt du …“ Überraschung flammte in seinen bernsteinfarbenen Augen auf, bevor er sie wütend zusammenkniff. „Warte, das ist anders als die Sache mit dem Gedankenlesen. Du belauschst private Gespräche.“

„Vielleicht kann ich ein paar Dinge machen, von denen du noch nicht einmal etwas ahnst.“

Ein kaltes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Hinterhältig, Gray-Mädchen. Sehr geschickt. Ich glaube, jetzt verstehe ich endlich. Irgendwie gelingt es dir, in Bishops Geist einzudringen und zu lauschen. Stimmt’s?“

Ihm musste aufgefallen sein, dass ich blasser geworden war. Es gefiel mir nicht, wie gut er dieses Ratespiel raushatte.

„Interessant. Kann mir allerdings nicht vorstellen, dass das besonders spaßig ist. Bei einem Dämon wäre es sicher lustiger als bei einem Engel.“

„Ist das ein Angebot?“, fragte ich scharf. Er schnaubte. „Sorry, nicht heute.“

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Du bist so unglaublich …“ Zack!

Bishop hatte Carly inzwischen in einer Sitzecke entdeckt. Mir sank der Mut, als ich sah, dass sie jemand anderen küsste – einen Typen, den ich noch nicht einmal kannte. Oh Gott, was tat sie? Konnte sie sich nicht mehr zurückhalten?

Bishop näherte sich dem Tisch und stand da, bis sie ihn aus dem Augenwinkel bemerkte. Sie wandte sich von dem Typen ab, der mit glasigen Augen auf die Bank zurückfiel. Die schwarzen Linien erschienen auch an seinem Mund, dann verschwanden sie.

Carlys dunkler, raubtierhafter Blick wanderte zu Bishop. Sie so zu sehen ließ mir wieder das Blut in den Adern gefrieren. Vor allem, da sie jetzt Bishop anschaute.

„Sieh mal einer an“, meinte sie affektiert. „Wen haben wir denn hier.“

„Carly, richtig?“

„Anwesend und bereit. Wo ist dein großer, blonder und attraktiver Freund heute?“

„Nicht hier.“

Sie holte einen Spiegel aus ihrer Tasche und kontrollierte ihr Gesicht. Sie legte etwas mehr Lipgloss auf, während sich ihr Date vom teilweisen – oder kompletten – Verlust seiner Seele erholte. „Du bist hier ziemlich gefragt, Bishop. Jeder will deine Geschichte hören.“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen.“ „Samantha ist nicht hier.“

„Das macht nichts. Ich wollte dich treffen.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Tatsächlich? Warum das?“

„Weil ich will, dass du mich küsst. Ich will wie du werden.“

Sie beobachtete ihn für einen Moment neugierig. Ihre Augen hatten jetzt wieder die übliche kornblumenblaue Farbe angenommen. „Was ist mit Sam?“

„Sie ist nicht hier.“

Carly rieb ihre Lippen aufeinander und musterte Bishop anerkennend von Kopf bis Fuß. „Sie wäre wütend, wenn ich das tun würde.“

„Interessiert dich das?“

„Ich bin mir nicht sicher.“

„Willst du mich küssen?“

Sie grinste ihn verwegen an. „Oh ja.“

Eifersucht stieg in mir auf. Auch wenn ich wusste, was der Grund für diesen Kuss war, wollte ich diejenige sein, die er fragte. Und ich hasste es, wie meine sogenannte beste Freundin ihn anschaute. Sie wollte ihn mit Leib und Seele aufsaugen.

Aber Bishop gehörte mir. Wenn sie ihn anfasste, würde ich sie umbringen.

Irrational. Ich hasste es, wie irrational ich wurde, wenn es um Bishop ging. Aber sogar jetzt, trotz allem, was ich über mich und ihn erfahren hatte, wollte ich ihn wieder küssen.

Carly rutschte aus der Sitzecke. Sie trug heute ein enges schwarzes Kleid, das viel Bein zeigte und einen tiefen Ausschnitt hatte. Sie triefte förmlich vor Sex-Appeal – so hatte ich sie noch nie gesehen.

Doch Bishop beachtete Carlys kurvigen Körper kaum. Er blickte über ihre Schulter hinauf in die Lounge. Natalie stand an der Glaswand und schaute zu ihm hinunter. „Kannst du mich Natalie vorstellen?“

Carly nickte. „Das kann ich tun. Sie möchte dich dringend treffen.“

Da war etwas an der Art, wie Natalie Bishop musterte, das mir eine Todesangst einjagte. Es war ein Ausdruck, den ich zuvor noch nicht in den Augen meiner Tante gesehen hatte. Neugierde wurde zu Hass. Abgrundtiefe Abneigung. Sie wusste, wer und was er war, und sie sah so aus, als wollte sie ihn töten … Zack!

Zurück in der Gasse. Ich rang nach Atem und klammerte mich an die Steinmauer in meinem Rücken, um mich aufrecht zu halten. Kraven hielt jetzt meinen Arm fest, und ich riss ihn aus seiner Umklammerung los.

„Was?“, fragte er und runzelte die Stirn. „Was hast du gesehen?“

Ich musste an ihm vorbeikommen. Ich musste zurück in den Club und verhindern, dass Bishop hinauf in die Lounge ging, Carly küsste oder irgendwie in Kontakt mit meiner Tante kam.

Ich hatte gerade keinen hübschen Dämon mit einer übernatürlichen Essstörung gesehen – keinen, der Freiheit und Hilfe bei seinen Problemen haben wollte. Der mich mit meinem leiblichen Vater vereinen wollte und mir Geschichten von der tödlichen Liebesgeschichte meiner Eltern erzählte. Nein, dieser Dämon wollte den Engel töten, der gesandt worden war, um sie zu finden. Und mir war klar, dass es ihr große Freude bereiten würde, der unmittelbare Grund für seinen Tod zu sein. Ich hatte ihr mein Vertrauen geschenkt, weil ich mich mit ihr verbunden fühlte – sie gehörte zu meiner Familie. Aber das waren Lügen. Alles Lügen. Mir stand es bis obenhin, angelogen zu werden. Natalie mochte meine Tante sein, dennoch war sie bösartig. Und jetzt würde sie Bishop umbringen.

Das Problem war, dass er sich schon auf seiner Selbstmordmission befand.

Einen Augenblick. Eine Selbstmordmission. Das war es – das musste es sein. Ich sah Kraven mit aufgerissenen Augen an. Er starrte zurück. „Was ist los, Gray-Mädchen?“

Bishop war heute losgezogen, um sich von seiner Seele zu befreien, das war richtig. Allerdings tat er das nicht, weil er sich selbst bemitleidete und glaubte, das sei seine einzige Chance, in den Himmel zurückzukehren. Er tat es, weil er wusste, dass seine Selbstzerstörung einen Übergang in das Schwarz öffnen würde, und er wollte Natalie mitnehmen. Nein, ich musste mich irren – der Plan war zu verrückt. Andererseits – Bishop war im Moment ziemlich verrückt.

„Samantha, rede mit mir“, rief Kraven, da ich gedankenverloren schwieg. Lustig, das war das erste Mal, dass er mich mit meinem richtigen Namen ansprach. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem großen blonden Dämon zu. Die Sorge in seinem Gesicht ließ mich beinahe lächeln. Ich hatte jetzt eine Idee, und ich hoffte wirklich, dass es funktionieren würde.

„Weißt du, vor dieser Sache war mein letztes größeres Problem, dass ich beim Ladendiebstahl erwischt wurde.“ Kraven schaute mich wegen des plötzlichen Themenwechsels überrascht an. „Du sollst nicht nehmen deines Nächsten Gut. Gefällt mir. Was hast du geklaut?“

„Einen Schal. Ein Fläschchen Nagellack. Nichts Großes.“ „Warum hast du es gemacht?“

„Ich habe etwas gesehen, das ich haben wollte, also habe ich es mir genommen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Außerdem, weil ich mit Familienproblemen zu kämpfen hatte und beachtet werden wollte. Ich war dämlich.“

„Wir machen alle Fehler.“

„Du auch?“

Sein Gesicht spannte sich an. „Glaub mir, im Vergleich zu einigen Dingen, die ich getan habe, ist Ladendiebstahl keine große Sache.“

Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Ich schätze, du hast recht. Du bist gar nicht so böse. Du kannst tatsächlich ganz charmant sein, wenn du möchtest.“

Er beobachtete mich vorsichtig. „Ach ja?“

Ich nickte. „Und du versuchst es zu verbergen, aber ich denke, dass du mich irgendwie magst, oder?“

„Bilde dir nicht allzu viel darauf …“ Seine Worte wurden erstickt, als ich ihn fest in meine Arme zog. Er erwiderte die Umarmung nicht, sondern blieb nur wie erstarrt stehen, bis ich ihn wieder losließ.

Überrascht blickte er mich an. „Wofür war das?“

„Gute Nacht, James.“ Ich drehte mich um und verließ die Gasse. Den Dolch, den ich gerade von ihm gestohlen hatte, verbarg ich unter meiner Ledertasche. Ich hatte ihn mit dieser Umarmung wohl tatsächlich überrumpelt. Er hatte nichts bemerkt. Vielleicht war ich eine bessere Diebin, als ich angenommen hatte. Das war kein Schal oder etwas Nagellack. Das hier war für mich unendlich viel wichtiger. Ich schaffte es einen ganzen Block weit, bis ich eine Hand auf meiner Schulter spürte, die mich zurückriss.

Verdammt.

Ein kaltes Lächeln lag auf seinen Lippen, und seine Augen glühten in der Dunkelheit rot. „Niedlicher Trick, Süße.“

Ich entschied mich, die Unschuldige zu spielen. „Was meinst du?“

„Gib mir den Dolch zurück.“

„Welchen Dolch? Oh, du meinst den glänzenden goldenen?“

Seine Augen wurden schmal. „Du bist hinterhältig und verschlagen. Du hast recht, vielleicht mag ich dich.“

Meine Anspannung wuchs. „Ich muss ihn mir ausleihen.“

„Dann hättest du mich nett darum bitten sollen.“

„Darf ich mir bitte, bitte den Dolch ausborgen?“

„Nein. Gib ihn zurück.“

„Ich bringe ihn später zurück, versprochen.“

Ich drehte mich von ihm weg, doch er umklammerte mein Handgelenk. „Ich versuche immer noch nett zu sein, was für mich gar nicht mal so einfach ist“, entgegnete er. „Gib ihn mir.“

Ich drehte mich um und presste meine freie Hand gegen seine Brust. „Denk dran, du darfst mir nicht zu nahe kommen, weil ich gefährlich bin.“

Falls er irgendwelche Schutzbarrieren um sich errichtet hatte, hielten sie mich diesmal nicht auf – mein Wunsch, vor ihm wegzurennen, war zu gewaltig. Die elektrische Energie kam sofort und fuhr aus meinem Arm in den Dämon. Er sah schockiert aus, dann wurde er in hohem Bogen zurückgeworfen und krachte gegen ein dunkles Bürofenster. Es zerbrach, als er bewusstlos zu Boden glitt. Bishop hatte mir gesagt, dass Dämonen schlafen und essen mussten. So wie es schien, konnten sie bei Bedarf auch bewusstlos geschlagen werden. Kraven hatte diesen Vulkanier-Handgriff ohne zu zögern bei mir angewendet. Das hier glich die Sache zwischen uns wieder aus. „Sorry“, entschuldigte ich mich trotzdem, während ich an ihm vorbeiging, denn ich hatte unabhängig von der Frage, ob er das verdient hatte oder nicht, ein schlechtes Gewissen.

Dann begann ich in Richtung Club zu laufen und hoffte, dass ich nicht zu spät käme. Natalie wollte, dass ich ihr den Dolch übergab, damit sie die Stadt verlassen konnte. Also tat ich es, allerdings aus einem völlig anderen Grund. Ich wusste, dass er die einzige Möglichkeit war, einen Dämon zu töten.