20. KAPITEL

Als ich meinen Schrank erreichte, ließ ich mich auf den Boden gleiten und drückte die Mappe an meine Brust. Ich hatte durch Bishops Augen gesehen, und ich hatte keine Ahnung, ob es eine Vision aus der Zukunft war oder ob es gerade jetzt passierte. Ich konnte die Gedanken der anderen lesen, wenn sie mich nicht blockierten, aber nicht Bishops. Ich hatte es versucht, und es hatte nicht funktioniert. Doch das hier war nicht so, als würde ich in seinen Geist eindringen. Ich hatte all seine Gefühle und Gedanken gespürt und alles genauso wahrgenommen, wie er es tat.

Und im Austausch dafür litt ich nun unter rasenden Kopfschmerzen. Ich presste meine Augen zu und rieb meine Schläfen, während ich versuchte, zu atmen. Nachdem ich meine Augen wieder geöffnet hatte, bemerkte ich, dass Colin neben mir kniete. Ich unterdrückte einen Schrei. So viel zum Thema, ich gehe dem Problem Colin aus dem Weg.

„Sam, hey“, sagte er vorsichtig. „Bist du okay?“

„Ich glaube, ich habe minimale Überlebenschancen, allerdings bin ich mir da nicht so sicher.“

„Du bist lustig.“ Er grinste ein wenig, sah jedoch immer noch besorgt aus. „Was ist los?“

„Ich habe schlimme Kopfschmerzen.“ „Ich probier, leise zu sein.“

„Du musst nicht bei mir bleiben.“

„Das macht mir nichts aus.“ Er setzte sich neben mich und strich die Haare aus meiner Stirn. Nicht gut. Er war viel zu nah, um …

Zack! Der Gang verschwand, und ich war plötzlich wieder in der Kirche.

„Ich muss sie finden.“ Bishop klang wütend. „Ihr könnt mich nicht für ewig hier festhalten.“

„Du wirst dich nicht in ihrer Nähe aufhalten“, antwortete Zach ruhig. „Nicht in diesem Zustand.“

„Mir geht es gut. Ich kann klar denken.“

„Macht einen anderen Eindruck auf mich. Die Dämonen, die verstehen eben nicht, was für ein großer Verlust es ist, vom Himmel abgeschnitten zu sein – vor allem auf diese Weise. Aber ich tue es. Der Gedanke, dass mir das für immer genommen würde, wäre für mich kaum zu ertragen.“

Bishop lachte hohl. „Versuchst du zu helfen, oder willst du es schlimmer machen?“

Zach verzog das Gesicht, rückte allerdings dichter an Bishop heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Es tut mir wirklich leid. Ich will nur sagen, dass du mir alles anvertrauen kannst, was dich bedrückt, solange ich hier bin. Und wenn ich zurückkehre, werde ich mein Möglichstes tun, um dich zu retten. Connor ebenso. Ich weiß, dass du glaubst, sie könne dir helfen, aber durch sie wird alles nur noch übler. Samantha ist gefährlich, Bishop. Du musst einfach hierbleiben und …“ – zack!

Ich war wieder in der Schule. Es kam mir vor, als hätte jemand einen anderen Fernsehsender eingestellt. Colin umfasste meine Schulter und sah verwirrt und besorgt zugleich aus. Mein Kopf schmerzte nun unerträglich, und mein Herz schlug wie verrückt. Ich presste mich gegen meinen Schrank und spürte das kühle Metall durch mein dünnes Shirt.

Bishop wollte mich finden. Und ich hatte gedacht, dass er mich jetzt hassen würde, nachdem er Zeit gehabt hatte, über die letzte Nacht nachzudenken, aber er wollte mich wiedersehen. Doch sie ließen es nicht zu.

„Du bist so blass. Soll ich dich zur Krankenschwester bringen?“

„Nein, es geht mir gut.“ Ich stand auf, öffnete meinen Schrank, warf die Mappe hinein und schnappte mir meine Tasche. Zach hatte recht. Ich war eine Gefahr für Bishop. Wenn ich ihn noch einmal küsste, würde ich ihn womöglich komplett vernichten.

Colin erhob sich ebenfalls. „Ich mache mir Sorgen um dich.“

„Danke, aber … das brauchst du nicht.“ Ich wollte ihn wirklich nicht in das Ganze hineinziehen. Das war nicht nur für Bishop gefährlich.

Er seufzte. „Sieh mal, ich weiß, dass du mir die ganze Woche aus dem Weg gegangen bist.“ Und ich hatte geglaubt, ich sei unauffällig gewesen. In Anbetracht dieses Gesprächs war ich außerdem mit meinem Versuch gescheitert.

Geduldig fuhr er fort: „Es tut mir leid, wenn es so gewirkt hat, als hätte ich dich zu einer Antwort drängen wollen. Ich verstehe, dass du deine Freundschaft mit Carly nicht aufs Spiel setzen möchtest. Trotzdem denke ich, dass da zwischen uns irgendetwas läuft.“

Ich sah ihn an und sehnte mich nach einer Zeit zurück, in der eine Highschool-Dreiecksgeschichte zu meinen größten Problemen gezählt hätte.

„Meinst du?“

„Ja. Du nicht?“

Ich rief mir in Erinnerung, dass nichts an dieser Sache Colins Fehler war. Er war nur ein unschuldiger Beobachter. Ihn in meiner Nähe zu haben machte allerdings alles noch komplizierter. Mein Hunger war erträglich geworden, nachdem ich Bishop geküsst hatte, doch er war dabei, mit lautem Knurren zurückzukehren, seit Colin neben mir stand. Er roch so gut, dass ich es nicht ignorieren konnte. Dennoch war das kein Vergleich zu dem, was ich gespürt hatte, als ich in Bishops Nähe war. Colin roch gut, und mich überkam diese Gier – aber er war nicht Bishop. Niemand weckte so ein Verlangen in mir wie der Engel.

Dennoch war Colin eine ernsthafte Ablenkung, die mich an meinen Hunger erinnerte und mir vor Augen führte, was es bedeuten könnte, wenn ich ihm nachgeben würde.

„Oh Colin“, seufzte ich und schloss meine Augen für einen Moment, dann öffnete ich sie wieder und schaute ihn niedergeschlagen an. „Du machst alles nur noch schlimmer, wenn du hier bist.“

Er blinzelte. „Oh.“

Ich schüttelte den Kopf, und es versetzte mir einen Stich. Ich wollte ihn nicht verletzen, aber mir fiel keine andere Möglichkeit ein, damit er vor mir in Sicherheit war. „Ich muss gehen.“

„Wo willst du hin?“

„Nach Hause, wahrscheinlich. Keine Ahnung. Ich muss einfach hier weg.“

Er wirke angespannt. „Du meinst, weg von mir.“

Ich atmete geräuschvoll aus und hasste es, dass mein Hunger alles noch unnötig schwieriger machte. Ich musste dem jetzt ein Ende setzen.

„Oh Mann, Colin, du willst es nicht verstehen, oder?“ Ich musste die Worte herauszwingen. „Ich bin nicht an dir interessiert. Es tut mir leid, wenn ich dir einen anderen Eindruck vermittelt habe, doch ich mag dich nicht auf diese Art. Ich kann dich überhaupt nicht leiden nach dem, was du Carly angetan hast. Also lass mich einfach in Ruhe.“ Ich bemühte mich, nicht zusammenzuzucken, sowie ich den Schmerz in seinem Blick sah.

„Ja, kein Problem. Ich denke, ich kann es deutlich verstehen, wenn es so laut gesagt wird.“

Er ging fort, als sich der Gang wieder mit anderen Schülern zu füllen begann.

Ich stöhnte und lehnte mich an meinen Schrank; ich schlug mit meinem Hinterkopf leicht dagegen.

„Nett“, kommentierte jemand, und ich entdeckte Jordan. Sie hatte die Arme verschränkt, und ihr langes Haar fiel wie ein Vorhang über ihre linke Schulter. „Wir servieren sie auf die sanfte Tour ab, was?“

„Hast du das gehört?“

Sie zuckte die Achseln. „Das ließ sich kaum vermeiden, da du ihn ja förmlich angeschrien hast. Du hast mich wirklich an der Nase herumgeführt, als du ihn beim letzten Mal so angemacht hast. Ich dachte tatsächlich, dass du ihn magst.“

„Hau ab“, murmelte ich. Ich hatte heute Morgen nicht die Energie, mich mit ihr auseinanderzusetzen, und sie schaffte es, dass ich mich noch unwohler fühlte wegen dem, was ich Colin gesagt hatte. Es war nur zu seinem Besten, versicherte ich mir noch einmal, doch auch das machte es nicht leichter.

„Hau ab?“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Ist das alles, was du heute für mich hast? Ganz schön armselig.“

„Das bin ich – armselig. Aber das glaubst du doch sowieso von mir, also warum sollte mich das interessieren?“ Ich hatte einen Kloß im Hals, der stetig größer wurde.

Jordan starrte mich an. „Du bist ein Freak, weißt du das? Ich habe keine Ahnung, warum du überhaupt irgendwelche Freunde hast. Zuerst die Klepto-Geschichte, dann die Freund-Klau-Geschichte. Es ist so, als würdest du komplett den …“ Ihre Stimme brach, und sie runzelte die Stirn. „Hey, du siehst nicht so gut aus.“

Meine Unterlippe zitterte unkontrolliert, ich konnte nichts dagegen tun. „Lass mich einfach in Ruhe.“

„Du hast Colin gesagt, dass du nach Hause gehst. Wie kommst du dahin?“

„Zu Fuß. Es ist nicht weit.“ Ich wischte eine Träne weg, die peinlicherweise entkommen war, und drehte mich um, damit sie es nicht merkte.

Sie stöhnte. „Nein, vergiss es. Ich fahre dich. Du kannst so nirgendwohin. Du bist ein totales Wrack. So läufst du nur vor einen Bus.“

Zweifelnd schaute ich sie an. „Du bringst mich nach Hause.“ „Das tue ich wohl.“

„Warum?“

„Willst du eine Mitfahrgelegenheit oder nicht? Hör auf, alles zu verkomplizieren, Samantha. Das ist echt nervig.“

Ich war im Moment zu müde, um noch irgendetwas zu verkomplizieren. Nach Hause zu fahren hörte sich gut an. Also endete ich im Schlepptau von Jordan auf dem Weg zu ihrem Auto – einem weißen Mercedes – und erwartete, dass sie die Gelegenheit ergreifen würde, grausam, verletzend oder einfach nur die übliche Zicke zu sein. Das tat sie jedoch nicht.

„Netter Wagen“, stellte ich fest, während wir einstiegen. „Lass mich raten, ein Geschenk von deinen Eltern?“

„Nur von meiner Mutter. Sie ist in Hollywood und dreht eine Seifenoper, weißt du.“ Es klang nicht stolz, so wie sie es sagte, sondern eher verbittert. „Das war ein Geburtstagsgeschenk als Entschädigung dafür, dass sie im Moment lieber dort als bei mir ist.“

„Mein Vater ist auch so“, erwiderte ich. „Er schickt aber normalerweise Fünfzigdollarscheine und E-Mails und keine Luxussportwagen.“ Außerdem hatte ich eine Mutter, die mich zwei Jahre lang kaum beachtet hatte und mir jetzt kaum noch in die Augen schauen konnte. Doch mein persönliches Drama musste jetzt erst mal warten.

Jordan parkte aus und bog auf die Straße. „Vielleicht haben wir mehr gemeinsam, als wir dachten.“ Abgesehen von den abwesenden Eltern zweifelte ich stark daran. Aber die Neugier auf die Geschichte zwischen ihr und Stephen konnte ich nicht bremsen.

„Kann ich dich was fragen?“ „Was denn?“

„Warum habt ihr, Stephen und du, euch getrennt?“

Sie blickte mich finster an. „Fragst du mich das im Ernst?“

„Wollte er sich mit anderen treffen?“ Oder hatte er es getan, damit er nicht in die Versuchung kam, ihr die Seele zu stehlen?

Ihr Gesicht wurde bleich, und ihre Fingerknöchel wurden weiß am Lenkrad.

„Er hat mir keine Begründung genannt. Ich erhielt eine E-Mail von ihm, und er ging nicht mehr ans Telefon, wenn ich anrief. Das eine Mal, als ich ihn danach gesehen habe, hat er die Straßenseite gewechselt. Zufrieden?“

Das brachte mir nur die Information, dass er ein Idiot war, der jede Konfrontation vermied. „Tut mir leid.“

„Klar tut es das. Und jetzt halt den Mund.“

Ich erfüllte ihr diesen Wunsch. Je weiter wir uns von der Schule entfernten, desto mehr wuchs mein schlechtes Gewissen, weil ich so früh abgehauen war und Carly dort ließ. Ich hatte das Gefühl, sie im Stich zu lassen. Aber nicht für lange! Ich würde sie ja heute Abend wiedersehen, und ich wusste genau, wo sie sein würde.

Auf der kurzen Strecke zu meinem Haus passierten keine weiteren Katastrophen. Überraschenderweise nicht die geringsten. Ich war jetzt immer auf das Schlimmste gefasst.

„Danke für das Heimbringen, allerdings verstehe ich es nicht“, meinte ich zu Jordan, als ich aus dem Wagen stieg. „Du magst mich nicht. Ich mag dich nicht. Warum hast du dir die Mühe gemacht, mich nach Hause zu fahren?“

Sie rollte mit den Augen. „Weil ich nett bin, Idiotin.“ Sie brauste davon, und ich schaute ihrem Auto nach, wie es in der Ferne verschwand. Jordan Fitzpatrick war heute nett zu mir gewesen. Ihre Version von nett, jedenfalls. Ich nahm das so hin.

Kaum hatte ich das Haus betreten, merkte ich, wie erschöpft ich war. Außerdem ließen die Kopfschmerzen immer noch nicht nach.

Ich redete mir ein, dass es nur Einbildung gewesen war, dass ich durch Bishops Augen sehen konnte, da ich seit dem Kuss gestern nur noch an ihn denken konnte. Es war schade, dass ich so eine Realistin war. Ich glaubte nur, was ich mit eigenen Augen sah. Obwohl, in meiner Fantasie wäre wahrscheinlich er die Hauptperson gewesen und nicht die Leute um ihn herum.

Während ich mich im Wohnzimmer aufs Sofa legte, hatte ich vor, die Augen nur für fünf Minuten zu schließen und dann wieder aufzustehen, um mich um alles zu kümmern. Aber als ich die Augen wieder öffnete, war es draußen bereits dunkel. Ich schreckte hoch.

Im Haus war es beunruhigend still bis auf das sanfte Ticken der Uhr über dem Kamin, die mir verriet, dass es sieben Uhr war. Der Stress, der mich die letzten Nächte wach gehalten hatte, forderte jetzt seinen Tribut. Oder der Einblick in Bishops Kopf hatte mir nicht nur eine Migräne verpasst, sondern mich auch ermüdet. Ich eilte in die Küche und stellte fest, dass meine Mutter noch nicht von der Arbeit wieder da war. Sie hatte heute Morgen eine Nachricht an den Kühlschrank geheftet, die mir mitteilte, dass sie noch ein Meeting haben würde. Sie würde gegen neun Uhr zu Hause sein und …

Zack!

Ich befand mich vor der Kirche auf dem wild wuchernden Rasen.

Auch wenn das Schild zerbrochen war und einige Buchstaben fehlten, konnte ich seine letzte Botschaft noch entziffern:

Vollkommen am Ende? Zeit für ein paar Glaubens-Vitamine!

„Du verstehst das nicht“, sagte Bishop mit ruhiger, aber fester Stimme. „Ich muss das tun.“

Kraven stand vor ihm, als würde er ihm den Weg versperren. „Du hast keine Ahnung, was passieren wird. Den Rest deiner Seele zu verlieren könnte dich umbringen.“

Bishop schnaubte. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass dir das besonders viel ausmacht. Bruderliebe? Nach dieser ganzen Zeit? Wem willst du was vormachen?“

Kraven funkelte ihn an. „Leck mich. Die einzige Sache, an der ich interessiert bin, ist diese verdammte Mission. Wenn du abhaust und dein eigenes Ding durchziehst, ist das nicht gut für das Team.“

„Jemand wie du will mir etwas über Führungsqualitäten erzählen. Fantastisch. Ich bin überrascht, dass du mich aufhalten willst. Wenn ich weg bin, kannst du die Regeln aufstellen. Du bist hier die Nummer zwei in der Befehlskette.“

Kravens Gesichtsausdruck blieb unverändert. „Ich übernehme, wenn du weg bist, aber Roth hätte diese Idee nicht in dein kaputtes Hirn pflanzen sollen.“

„Er sagt nur, was er denkt.“ „Er ist ein Arsch.“

„Er ist ein Dämon.“

„Touché. Aber wir sind nicht alle so dämlich. Es ist das Risiko nicht wert, das du eingehst.“

Es gab eine längere Pause.

„Wo wir gerade von Risiken sprechen, welchen Deal haben sie dir für diese Mission angeboten? Ich weiß ja, dass die Hölle einige Versuchungen bereithält. Geld, Ansehen, Macht, Frauen – all deine Schwächen.“

Kraven schaute ihn verächtlich an. „Lustig, ich dachte immer, das seien deine Schwächen.“

„Was hat das Rennen gemacht, James?“ Bishops Stimme überschlug sich fast. „Warum bist du so interessiert daran, dass diese Mission ein voller Erfolg wird? Und wusstest du, dass ich daran beteiligt sein würde, oder warst du ebenso schockiert, mich zu sehen, wie ich dich?“

Ein Auto fuhr vorbei, und die Scheinwerfer beleuchteten Kravens dunkelblondes Haar. Außerdem war zu erkennen, dass sich seine Miene verfinstert hatte. Er verschränkte die Arme, ging zurück zu dem Schild und trat nach dem zerbrochenen Glas, anschließend drehte er sich wieder um, damit er Bishop anschauen konnte. „Wenn deine Chefs entscheiden, einen auf alte Schule zu machen, werden wir alle von der Landkarte gefegt, wenn wir scheitern. Klingt nach einem guten Grund, erfolgreich zu sein.“

„Ganz genau. Was bedeutet, dass du deinen Arsch riskierst, um hier dabei zu sein. Aber wofür? Was ist die glänzende Belohnung?“

„Wenn wir Erfolg haben?“, sagte Kraven widerwillig nach einer Weile. „Dann muss ich nicht zurück in die Hölle. Ich bekomme hier eine neue Chance.“

Bishop schnaubte leise. „Klar. Eine neue Chance. Du stehst darauf, schlechte Entscheidungen zu treffen. Glaubst du daran, dass sich je etwas ändern wird?“

Kraven warf ihm einen düsteren Blick zu. „Als würde es mich interessieren, was du denkst. Ich will eine zweite Chance, und ich werde alles dafür tun, sie zu kriegen.“

Es dauerte einen Moment, bis Bishop antwortete: „Dann solltest du sie vielleicht auch bekommen.“

Ein Grinsen breitete sich auf dem hübschen Gesicht des Dämons aus. „Oh Mann. Du bist so bemitleidenswert – das hat sich nicht geändert. Du hast mir tatsächlich geglaubt. Was für ein Witz. Klar, ich bin bereit, meine gesamte Existenz für die Möglichkeit aufs Spiel zu setzen, hier in dieser armseligen Stadt zu bleiben. Aber sicher.“

„Du hast gelogen?“

„Jepp, ich habe gelogen, du Idiot. Ich habe natürlich wegen der Mädels und der Macht unterschrieben. Ich kann es nicht abwarten, meine Belohnung zu kassieren. Es wird eine Riesenparty geben – verrückte, selbstverliebte Engel sind nicht eingeladen.“

Ich konnte nicht einschätzen, ob er die Wahrheit sagte. In seinem leeren Blick schwang noch etwas anderes mit. Sehnsucht, Neid – ich war mir nicht sicher. Und dann wandte er sich ab, und ich konnte ihn nicht mehr beobachten. Eigentlich war ich auch nicht besonders scharf darauf.

„Danke für das nette Gespräch.“ Bishops Worte waren von Wut gefärbt und von etwas anderem – Gewohnheit. Diese Art von Scherzen war ihm bei Kraven nicht neu.

„Was für ein Spaß.“

„Wirst du mich aufhalten?“

Kraven blickte sich um. „Nee. Stell dich nur deinem Schicksal. Lass die Würfel rollen und sieh, ob du eine Reise zurück ins Land der Harfen bekommst. Sieht so aus, als hätte ich jetzt das Kommando. Das fühlt sich gut an.“

„Viel Glück.“

„Ja, was auch immer. Such dir eine Gray, die bereit ist, den Rest deiner Seele auszusaugen. Ich glaube, diese Carly hat dich neulich draußen vor dem Club angemacht. Lass sie ihre Zunge in deinen Hals stecken.“

„Vielleicht mache ich das.“ Bishop streckte seine Hand aus. „Gib mir den Dolch.“

Das Futteral, das normalerweise um Bishops Brustkorb befestigt war, trug nun Kraven. „Und riskieren, dass er im Schwarz versinkt? Keine Chance! Wenn du weg bist, brauche ich den, damit ich meine Belohnung erhalten kann. Warum suchst du dir jetzt nicht eine tödliche blonde Schnecke und gehst mir aus den Augen? Und versuch es diesmal für immer zu bleiben.“ Kraven bewegte sich von ihm fort zurück in die Kirche und … Zack!

Ich war wieder in der Küche und stützte mich auf den Tresen, während mein Herz wie wild hämmerte. „Bishop, nein“, flüsterte ich. Wenn er eine Gray fand, die den Rest seiner Seele stahl, hatte er vielleicht die Möglichkeit, in den Himmel zurückzukehren, wenn die Seele wirklich alles war, das einen gefallenen Engel in der menschlichen Welt festhielt. Im Himmel würde sein Verstand komplett geheilt werden, und er könnte nach einem Weg suchen, meine Seele zu retten, wie er es versprochen hatte.

Aber der Verlust seiner Seele konnte ihn auch an Ort und Stelle töten. Und dann würde ihn das Schwarz verschlingen. Natalie hatte zwar von dort fliehen können, doch sie hatte auch zugegeben, eine Anomalie zu sein, und nicht nur, was ihren Hunger betraf. Es gab keine Garantie dafür, dass Bishop es auch schaffen würde. Und Natalie war nicht getötet worden: Als sie in den Strudel geworfen wurde, lebte sie noch.

Der Gedanke, dass Bishop sterben könnte, versetzte meinem Herzen einen Stich. Ich schluchzte. Gestern Nacht war er schon nahe dran gewesen.

Kraven hatte vorgeschlagen, er solle für den Kuss zu Carly gehen. Meine Hände zitterten, als ich ihre Nummer wählte und hoffte, dass sie noch nicht ins Crave aufgebrochen war. Obwohl mein Handy nicht funktionierte, tat es zum Glück das Festnetz. Nach dem fünften Klingeln nahm ihre Mutter endlich ab und sagte mir, dass Carly nicht zu Hause war. Sie war ausgegangen – und ich wusste, wohin.

„Ich habe keine Ahnung, was mit ihr los ist“, sagte Mrs Kessler. „Sie verhält sich diese Woche so seltsam.“

Mein Magen verkrampfte sich. „Tatsächlich? Inwiefern?“

„Sie ist … anders als sonst. Und da ist etwas Sonderbares in ihrem Blick. Als wäre sie mit den Gedanken eine Million Meilen entfernt. Trifft sie jemanden, der dafür verantwortlich ist? Sie will mir nichts erzählen. Ich weiß wirklich nicht, was sich verändert hat. Ist es dir auch aufgefallen?“

Ich umklammerte das Telefon, bis meine Hand schmerzte. „Ja, aber ich bin mir sicher, es ist nur so eine Phase.“

Ich hasste es, zu lügen. Das war nicht vorübergehend, aber ich hatte auch noch nicht akzeptiert, dass es permanent war.

Ich würde alles in meiner Macht Stehende tun, damit es nicht noch schlimmer wurde.

„Ich weiß nicht, Samantha. Der Blick, den sie mir heute Abend zuwarf, als ich sie davon abhalten wollte, auszugehen – na ja, eigentlich jeden Abend diese Woche –, der hat mir Angst gemacht. Sie will mir nicht einmal sagen, wohin sie geht und mit wem. Ich hatte gehofft, sie sei mit dir unterwegs.“

Ich lehnte mich an den Küchentresen und versuchte ruhig zu atmen. „Es tut mir leid.“

„Es ist nicht deine Schuld. Teenager können sich manchmal von einem Augenblick auf den anderen verändern. Das weiß ich. Aber das …“ Ihre Stimme bebte. „Ich fürchte mich davor, dass meine Carly sich für immer verändert haben könnte.“

Es versetzte mir einen Stich. „Ich auch.“ Ich beendete das Telefonat, und mir war übel, allerdings wusste ich jetzt mit Gewissheit, wo Carly sich aufhielt. Im Crave. Mit Natalie. Mit Stephen. Und mit einer üppigen Anzahl an Teenagern, die den Hunger weiter anfachten und dafür sorgten, dass man die Kontrolle verlor.

Ich rannte aus dem Haus. Ich musste Bishop finden, bevor er Carly traf … wenn das tatsächlich sein Plan war. Sonst hätte ich nicht gewusst, wo ich hingehen sollte. Ich konnte ihn nicht auf diese Weise verlieren. Nicht solange er bei klarem Verstand war. Niemals. Ich konnte nicht zulassen, dass er Carly küsste. Und mein Herz raste noch aus einem anderen Grund – Eifersucht. Das war irrational, mir war das klar. Das war kein romantischer Kuss. Er würde es tun, weil er glaubte, er habe keine andere Wahl.

Bishop gehört mir.

Das war ein heftiger und beängstigender Gedanke, der mich für einen Moment überkam, und ich blieb kurz auf dem Gehweg stehen. Ich kannte ihn weniger als eine Woche. Doch das änderte nichts. Er hatte mein Herz im Sturm erobert. Er war mein Herz. Vielleicht war er auch meine Seele. Dieser romantische Gedanke ließ mich nicht wie in der Vergangenheit die Augen verdrehen. Stattdessen beängstigte er mich. Es war die schlichte Wahrheit. Ich hatte mich so heftig in ihn verliebt, dass ich am Boden zerstört zurückbleiben würde. Ich würde ihn retten! Auch vor mir selbst. Und wenn Carly es wagte, ihn zu küssen, würde ich ihr eine verpassen.

„Wunderschöner Stern.“ Eine Stimme drang durch meine finsteren Grübeleien. „Sie ist heute gekommen, um die Welt zu retten und für uns alle gegen die Dunkelheit zu kämpfen.“

Der Obdachlose – der gefallene Engel – blickte von seinem Platz auf dem Bürgersteig zu mir auf, die Beine auf der Straße ausgestreckt. Dunkle verschlissene Jeans und ein graues Sweatshirt, das schon mal bessere Tage gesehen hatte, machten das Bild komplett. Es war verwirrend, wie sehr er mich an meine erste Begegnung mit Bishop erinnerte.

„Du hast dir heute einen anderen Platz ausgesucht“, stellte ich fest. Ich war auf halbem Weg zum Crave.

„Ich bewege mich. Meine Beine helfen dabei.“

„Ja, ich bin mir sicher, das tun sie.“ Ich sah mit ernstem Blick auf ihn hinunter und studierte sein Gesicht, um vielleicht Hinweise darauf zu finden, wie ich ihm helfen konnte – und wie ich Bishop retten konnte. „Wie ist dein Name?“

Er seufzte. „Ich hatte vor langer Zeit einen Namen.“

„Wie war der?“

„Seth“, sagte er nach einer Weile, als hätte er sich sehr stark konzentrieren müssen, damit er sich erinnern konnte. „Seth denkt an den Atem. Seth denkt an den Tod. Die zwei Seiten einer Münze, Atem und Tod. Verliere den einen und gewinne den anderen – ein Geschenk oder ein Fluch, aber ich schätze, das liegt bei dir. Oder ihnen. Oder ihm. Oder irgendjemandem.“

Ich wollte mehr über ihn wissen, doch dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich Bishop nicht mehr davon abhalten, Carly zu finden. „Ich muss gehen.“

„Deine verlorene Liebe geht durchs Dunkel, ohne darauf zu achten, wohin er geht. Er sucht nach anderen Lippen, aber er wünschte, es wären deine.“

Ich hielt die Luft an. „Du weißt von Bishop? Du kannst sehen, was er vorhat?“

Seth presste seine Finger an die Schläfen. „Ich sehe Dinge. Durcheinandergeworfen. Kann nicht alles sehen. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Weiß nicht, was wahr und was falsch ist. Was gut ist und was böse. Hier werden Schwarz und Weiß zu Grau. Und das Schwarz hat seinen Schlund geöffnet, immer hungrig, saugt alles auf.“ Er griff meine Hand, und die Funken knisterten an meinem Arm entlang. „Es will nicht, dass du es aufhältst. Es hat seinen finsteren Pfad gewählt, damit es das hier beenden kann.“

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken und machte die Nacht noch frostiger. „Ich muss ihn aufhalten, auch wenn er nicht will, dass ich es tue.“ So nahe bei einem gefallenen Engel, konnte ich seine Seele spüren – jetzt, wo ich wusste, dass er eine hatte. Es weckte meinen Hunger. Aber ich war keinesfalls versucht, ihn zu küssen, und zwar nicht nur, weil er alt und schmutzig war. Ich meine, wirklich nicht!

„Der Schlund ist geöffnet. Alles verschlingen will es. Es wartet …“, meinte er. „Nur ein Riss, aber es gibt sein Gift langsam ab. Es ist verändert – gewachsen. Und es hasst so sehr, wie es liebt. So ist sie zurückgekehrt.“

Das Schwarz. Es war keine Sackgasse. Es war nicht endlos. Woher wusste Seth das? Ich musste es Bishop und den anderen erzählen. Wenn ich diesen Schlamassel heute geklärt hatte – und ich weigerte mich, daran zu denken, dass ich scheitern könnte –, würde ich ihnen sagen, sie sollten Seth finden. Obwohl er wirres Zeug redete, verfügte er über nützliche Informationen.

Ich musste Bishop erreichen. Und wenn er nicht wollte, dass ich ihn aufhalte? Das war verdammt schlecht, denn ich würde es trotzdem tun. Als ich um die nächste Ecke bog, versperrte mir etwas den Weg. Etwas mit breiten Schultern, dunkelblonden Haaren und genervtem Blick: Kraven.