4. KAPITEL

Ich schrie auf. „Nein! Was tust du?“

Bishop schaute mich eindringlich an und rief: „Du solltest das hier nicht mitbekommen.“

Ich rannte auf ihn zu und griff nach dem Arm des Müll-Jungen, der zurückwich. Ein Blitz zuckte über den Himmel, gefolgt von Donner. Der Regen peitschte noch heftiger zu Boden.

„Du … du bist eine …“ Er packte mich und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich hingegen konnte den Blick nicht von dem immer größeren Blutfleck auf seinem Hemd abwenden. „Eine Gray.“

„Was?“, stieß ich aus.

Er ließ mich los, sackte auf die Knie und fiel schließlich leblos auf den Bürgersteig.

„Oh mein Gott! Du hast ihn umgebracht!“ Ich bekam kaum noch Luft und begann am ganzen Körper zu zittern.

Bishop griff nach meinem Arm und presste mich gegen die Mauer, dann drückte er mir den goldenen Dolch an den Hals.

„Eine Gray“, brachte er knurrend hervor und schien mir wirklich gleich die Kehle aufschlitzen zu wollen. „Ich wollte es einfach nicht wahrhaben … doch du bist tatsächlich eine von ihnen.“

„Lass mich los!“ Ich versuchte mich zu wehren, hatte aber Angst, mich dabei an der scharfen Klinge zu verletzen. Bishops regennasses Haar klebte an seiner Stirn, und seine Augen leuchteten in gleißendem Blau. Bis eben hatte ich seine Augen noch wunderschön gefunden, doch jetzt waren sie nur noch furchterregend. Und plötzlich konnte ich mich an diese Augen erinnern – an meinen Traum, als ich im Crave ohnmächtig wurde. Der Traum, in dem Bishop mich in die schreckliche Dunkelheit stürzen ließ.

Aus seinem Blick sprach jetzt bittere Enttäuschung. „Wie viele Seelen hast du verschlungen, seit du verwandelt wurdest?“

In meinen Augen brannten Tränen. „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“

„Du bist geküsst worden. Deine Seele ist verloren. Du bist jetzt eine von ihnen.“

Geküsst.

Glühender Zorn stieg in mir hoch. Ja, natürlich! Diese Kälte hatte durch Stephens Kuss von mir Besitz ergriffen. In dem Moment hatte es sich angefühlt wie eine Achterbahnfahrt im Winter. Aufregend und berauschend. Das war kein normaler Kuss gewesen. Eigentlich hatte ich es längst gewusst und die Erkenntnis nur verdrängt.

„Ich sollte dich warnen, es ist ein sehr gefährlicher Kuss“, hatte Stephen zu mir gesagt. „Er wird dein Leben für immer verändern.“

Bishop ließ das Messer für einen Augenblick sinken. „Ich verstehe nicht, warum du mir geholfen hast – warum du mir helfen konntest. Es heißt doch, dass Grays vollkommen von ihrem unstillbaren Hunger kontrolliert werden. Aber als du mich berührt hast …“

Apropos berühren. Ich rammte Bishop mit aller Kraft mein Knie zwischen die Beine. Er schnappte nach Luft, und ich konnte mich aus seiner Umklammerung befreien. Ohne zu zögern, lief ich los. Ich rannte so schnell und weit ich konnte durch das Labyrinth der Straßen und Hinterhöfe davon, ehe ich mich traute, mich auch nur einmal umzublicken. Meine Sicht war vom Regen und meinen Tränen verschwommen, dennoch nahm ich wahr, dass er mich nicht verfolgte.

Bishop war irre. Ein Mörder. Und ich hatte ihn direkt zu seinem Opfer geführt. Plötzlich tauchte ein Streifenwagen auf, und ich winkte ihn zu mir heran. „Jemand ist ermordet worden!“

Ich lotste die beiden Cops schnell zurück zur Gasse, die allerdings vollkommen verlassen war. Die Polizisten musterten mich skeptisch, während ich nach irgendeiner Spur von dem suchte, was sich hier abgespielt hatte. Doch nur der halb aufgegessene Hamburger lag noch immer in einer Pfütze auf der Erde.

„Es ist erst vor ein paar Minuten passiert. Bitte, Sie müssen mir glauben!“

Meine Beharrlichkeit schien sie zu überzeugen, und sie begannen, mich ernst zu nehmen. Sie fragten danach, was genau ich beobachtet hatte und wo ich am Abend gewesen war. Dann erzählten sie, dass seit Kurzem auffällig viele Personen in Trinity vermisst würden, und rieten mir, vorsichtig zu sein. Ich las weder Zeitung, noch schaute ich Nachrichten und wusste deshalb auch nichts darüber. Andernfalls hätte ich mich niemals so leichtsinnig verhalten und wäre allein nach Hause gegangen oder hätte angehalten, um einem gut aussehenden Typen auf der Straße zu helfen. Steckte Bishop hinter den Vermisstenfällen?

„Wir kommen morgen früh noch mal her und überprüfen die Gasse“, beruhigten mich die Polizisten. „Trotz des Regens würde ein Mord wie dieser irgendwelche Blutspuren hinterlassen, allerdings können wir hier keine entdecken.“ Der eine der beiden musterte mich. „Könnte es sein, dass dir deine Fantasie einen Streich gespielt hat? Du hast heute Abend einen Horrorfilm gesehen, oder?“

Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloss ihn dann aber wieder.

Er hatte recht. Es gab keinerlei Beweise für meine Behauptungen – was sollten die beiden Cops also glauben?

Und ich – was sollte ich glauben?

Die Polizisten fuhren mich nach Hause und sagten mir noch einmal, dass ich mir keine Sorgen machen müsse und die Polizei sich um alles kümmern werde. Die Stadt sei sicher, und ich hätte wohl nur eine etwas zu blumige Fantasie.

Ich nickte, und in meinem Kopf drehte sich alles. Mir wurde plötzlich schrecklich übel.

Die Cops brachten mich noch zur Eingangstür und warteten, bis ich sie aufgesperrt hatte und das Haus betreten hatte. Dann kehrten sie zu ihrem Streifenwagen zurück und stiegen ein.

Ich war vom Regen komplett durchnässt und zitterte vor Angst und Kälte am ganzen Körper.

Meine Mutter hatte ein Geschäftsessen mit ihren Maklerkollegen und würde nicht vor Mitternacht zurück sein. Ich verbrachte wenig Zeit mit ihr, denn wir hatten fast nichts mehr gemeinsam, heute allerdings wünschte ich mir verzweifelt, dass sie zu Hause wäre.

Also beschloss ich, Carly anzurufen und ihr alles zu erzählen. Ich holte mein Handy aus der Tasche, aber das Display flackerte und wurde dunkel, als ich durchs Telefonbuch scrollte. Akku leer. Leise fluchte ich vor mich hin.

Bevor ich zum Festnetztelefon griff, dachte ich noch einmal nach. Ich konnte nicht beweisen, dass irgendetwas von dem, was ich gesehen hatte, überhaupt real war. Und es schien mir unlogisch, dass Bishop genug Zeit gehabt haben sollte, die Leiche ohne Spuren fortzuschaffen.

Dennoch – ich hatte das alles wirklich beobachtet. Ich war nicht verrückt!

Misstrauisch schaute ich aus dem schmalen Fenster an der Eingangstür, ob mir vielleicht jemand gefolgt war.

Grays werden von ihrem unstillbaren Hunger kontrolliert.

Mühsam unterdrückte ich ein Schluchzen. Ich wusste noch nicht einmal, was ein Gray überhaupt war. Doch den unstillbaren , konstanten Hunger spürte ich tatsächlich. Und tief in meinem Inneren war mir klar, dass er durch eine gewöhnliche Pizza oder ein paar Hamburger nicht zu stillen war.

Das Gesicht des blonden Jungen verfolgte mich. Er schien so einsam und verwirrt. Aber dann war Hoffnung in seinem Blick aufgeleuchtet, während er sich mit Bishop unterhalten hatte.

Doch statt ihm zu helfen, hatte Bishop ihm das Herz mit einem Dolch durchbohrt.

Und dann waren sie alle beide fort gewesen.

Ich fror noch immer, was allerdings nicht der einzige Grund dafür war, dass ich am ganzen Körper zitterte. Mal ehrlich – nach den Erlebnissen. Gott, ich wollte nur noch schlafen. Also genehmigte ich mir drei Stücke kalte Pizza und verzog mich in mein Bett. Mein Magen hatte den Mord offenbar besser verkraftet als mein Verstand.

Ich schloss fest die Augen und versuchte zu verdrängen, was ich in der Gasse gesehen hatte. Doch die Bilder spukten durch meinen Kopf wie ein endloser Horrorfilm-Marathon. Eigentlich liebte ich Horrorfilme; sie waren meine Flucht vor der Realität. Allerdings machten sie nicht halb so viel Spaß, wenn sie plötzlich Wirklichkeit wurden.

Nachdem ich schließlich eingeschlafen war, träumte ich von Bishop. Er kam mir auf der Straße entgegen und streckte die Hand aus, als wollte er mich berühren.

Ich schreckte vor ihm zurück und rief: „Lass mich in Ruhe!“

Sein Gesicht wirkte angespannt und gequält. „Du weißt, dass ich das nicht kann. Nicht mehr.“

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich einen Dolch – seinen Dolch in der Hand hielt.

„Bleib weg von mir, oder ich tue es. Ich werde dich töten.“

Trotz meiner Warnung kam er näher, ganz so als könnte er nicht anders.

Ich erinnerte mich nicht daran, dass ich auf ihn eingestochen hätte, aber es musste wohl so gewesen sein, denn im nächsten Moment fiel er auf die Knie und umfasste mit zitternden Händen den Griff des Dolches, der aus seiner Brust ragte.

Bishops Blick suchte meinen. „Sie dürfen dich nicht erwischen – versprich es mir, Samantha. Lass das nicht zu.“ Er sackte zur Seite, das Leuchten in seinen Augen erlosch, und dann bewegte er sich nicht mehr. Ein Schrei löste sich aus meiner Kehle.

Plötzlich wollte ich ihn berühren, ihn heilen und alles wiedergutmachen. Doch es war zu spät.

Von allen Seiten schlichen Schatten auf mich zu. Als sie ins Bishops Körper krochen, verschwand er, so als wäre er niemals hier gewesen.

„Du musst uns begleiten, Samantha“, wisperten Stimmen, während die Schatten immer näher kamen.

Eisige Hände griffen nach mir, raubten meinem Körper die letzte Wärme, und ich schien nur noch aus Angst zu bestehen.

„Du bist jetzt eine von uns. Du wirst immer eine von uns sein.“

„Nein!“ Sowie ich versuchte, sie abzuwehren, rissen sie mich in Stücke, aber statt Blut floss Dunkelheit aus meinen Wunden.

Mein eigener markerschütternder Schrei weckte mich.

Meine Mutter stürmte durch den Flur und öffnete meine Schlafzimmertür.

„Was ist passiert?“ Ihr sonst stets perfekt sitzendes blondes Haar war zerwühlt. Sie wickelte den Bademantel enger um sich. Unter ihren blauen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Meine Mutter litt an Schlaflosigkeit und bekam jede Nacht nur ein paar Stunden Ruhe. Eine schreiende Tochter war da nicht sehr hilfreich.

„Schlecht geträumt. Ich hab einfach schlecht geträumt.“

„Ein Albtraum? Mehr nicht? Ich dachte, du wirst hier drinnen abgestochen.“

Ich zuckte bei dieser Wortwahl zusammen und wollte ihr alles erzählen. Doch natürlich würde sie mir kein Wort glauben. Wie auch? Ich glaubte mir ja selbst kaum.

„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.“

Sie lehnte die Stirn gegen den Türrahmen. „Fühlst du dich denn wieder besser?“

„Ich werd’s überleben.“

„Mir hilft manchmal warme Milch. Magst du welche?“

„Nein, danke.“ Schon bei dem Gedanken drehte sich mir der Magen um.

Nicht einmal mein wiedererwachter Heißhunger konnte daran etwas ändern.

Immer wenn ich als Kind Albträume gehabt hatte, war meine Mutter zu mir ins Zimmer gekommen und hatte mir vorgelesen, bis ich wieder eingeschlafen war. Ich konnte mich besonders an eine Geschichte über einen Hasen erinnern, der sich im Wald verlaufen hatte und auf seiner Suche nach dem Heimweg vom Wohlwollen Fremder abhängig war. Auch von denen, die ihn normalerweise zum Abendessen verspeist hätten.

Zum Glück gab es ein Happy End. Nicht alle Wölfe hatten Appetit auf niedliche Häschen.

Am liebsten hätte ich sie gebeten, mir jetzt vorzulesen, hielt aber den Mund. Schließlich war ich kein Kind mehr.

„Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt“, sagte sie erschöpft und rieb sich die Augen. „Aber ich bin froh, dass alles in Ordnung ist. Probier etwas zu schlafen. Die neue Woche fängt gerade erst an. Hoffentlich wird sie gut.“ Als sie ging, ließ sie die Tür einen Spalt offen stehen. Das war nicht ganz so beruhigend wie eine Gutenachtgeschichte über Hasen und Wölfe, die Freunde wurden, doch immerhin besser als nichts.

Ich hatte einen alten Teddy namens Fritz, der auf den Schaukelstuhl neben meinem überladenen Bücherregal verbannt war. Ihm fehlte ein Auge, und sein linker Arm war halb abgerissen. Schnell holte ich ihn zu mir ins Bett und drückte ihn an mich, allerdings konnte er mir nicht die gleiche Geborgenheit schenken wie in meiner Kindheit.

Eine Stunde später gab ich den Versuch zu schlafen auf. Ich griff nach meinem Laptop auf dem Boden neben meinem Bett und rief die Seite des Trinity Chronicle auf. Dann suchte ich in den aktuellen Nachrichten nach Meldungen über Messerstechereien und Morde. Nichts. Es war fast, als wäre das alles nie geschehen.

Doch das war es.

Ich ging die Vermisstenmeldungen durch, aber nichts wollte zu meinen Erlebnissen passen.

Trinity war eine große Stadt mit einer Million Einwohnern. Jahrein, jahraus passierten hier schlimme Verbrechen. Das Unglück machte weder vor den ganz Jungen noch vor den Alten halt. Es war ihm egal, wen es traf, Frau oder Mann, schön oder hässlich, reich oder arm. Es wählte seine Opfer blind aus.

Ich stopfte mir die Kissen in den Rücken und zog meine dicke Bettdecke hoch, um nicht mehr so zu frieren. Dann googelte ich Gray – ohne brauchbares Ergebnis. Es war eben eine Farbe, sonst nichts. Aber so hatte der dunkelblonde Junge mich genannt. Bishop hatte mich danach angesehen, als wäre ich ein Monster. In Wirklichkeit war es genau umgekehrt – er war das Monster.

Ich klappte den Laptop wieder zu und nahm mir vor, ihn und alles, was ich gesehen und erlebt hatte, vollständig aus meiner Erinnerung zu streichen.

Ein prima Plan – der natürlich unmöglich durchzuführen war.

Der Montagmorgen kam viel zu früh. Am liebsten wäre ich daheimgeblieben und hätte mich vor der Welt versteckt, doch das ging nicht.

Also zwang ich mich, aufzustehen und für die Schule fertig zu machen.

Meine Mutter war schon auf dem Weg zur Arbeit, als ich nach unten kam. Ich machte mir Rühreier und Toast zum Frühstück – und dann noch mehr Toast –, was an meinem Hunger nicht das Geringste änderte.

Ein Blick in den großen Badezimmerspiegel bewies, dass ich genauso aussah wie immer – klein, dünn und mit langem zerzaustem Haar, das ich zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Etwas pfirsichfarbenes Lipgloss und ein Hauch Mascara bildeten mein übliches Schönheitsprogramm für einen normalen Schultag. Alles wie immer.

Dennoch – irgendetwas schien sich verändert zu haben. Die Schüler an der McCarthy High schauten mich anders an. Ich versuchte, die neugierigen Blicke zu ignorieren. Vielleicht starrten sie mich an, weil ich aussah, als hätte ich die letzte Nacht mit einem höllisch attraktiven Killer verbracht. Ein Mörder, der sich zusammen mit seinem Opfer in Luft aufgelöst hatte und mich an meinem Verstand und meiner Sehkraft zweifeln ließ.

Sehr viel wahrscheinlicher aber hatte die Geschichte von Stephens Kuss im Crave die Runde gemacht. Bestimmt erzählte Jordan überall herum, ich sei eine Schlampe. Super, mein Leben war ja auch wirklich noch nicht kompliziert genug!

„Ms Day!“ Mein Englischlehrer Mr Saunders blickte mich über seine Brille hinweg an wie eine missbilligende Eule. „Hören Sie mir heute überhaupt zu?“

Ich setzte mich gerade hin, legte meine Hände auf die Tischplatte und schüttelte meine trüben Gedanken ab. „Natürlich tue ich das.“

„Was habe ich denn gerade gesagt?“ Alles starrte mich an.

„Sie haben gesagt …“ Ich schluckte und suchte an der Tafel nach einem Hinweis. „Etwas über Macbeth?“

„Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“

„Eine Feststellung. Auf jeden Fall eine Feststellung.“

„Da wir uns diese Woche mit dem Stück beschäftigen, dürfte die Vermutung naheliegend sein. Aber was habe ich genau darüber gesagt?“

Es kam mir vor, als würden die Wände auf mich zukommen, und ich kriegte plötzlich kaum noch Luft. Ich musste unbedingt raus aus dem Klassenzimmer, und zwar sofort, für Erklärungen hatte ich keine Zeit mehr. Mit den Konsequenzen würde ich mich später auseinandersetzen.

Ich packte meine Ledertasche und die Bücher, dann stand ich auf. „Verzeihung, Mr Saunders. Ich … ich fühle mich nicht so gut.“

„Ms Day?“ Er schaute mir überrascht hinterher, als ich ohne ein weiteres Wort aus dem Raum flüchtete. Je mehr ich probierte, nicht an die vergangene Nacht zu denken, desto unerbittlicher überrollten mich die Erinnerungen. Ich brauchte dringend Frischluft!

Zuerst rannte ich zu meinem Spind, um meine Bücher loszuwerden.

„Hey, was ist denn mit dir los?“ Colin war mir aus dem Klassenraum gefolgt. Seine verknickte Ausgabe von Macbeth und seine Mappe hatte er lässig unter den Arm geklemmt. „Alles okay?“

Ich warf meine Bücher in den Spind, schmiss die Tür zu und verstellte den Zahlencode am Schloss. „Ja, es geht mir gut.“

„Freut mich zu hören.“

Weil ich immer noch fror, schlang ich die Arme um meinen Oberkörper. Colin trug kurze Ärmel – offenbar empfand nur ich es als kalt. „Bist du nur meinetwegen raus aus dem Unterricht?“

„Na ja, klar. Ich habe Saunders gesagt, dass ich nachsehen will, wie es dir geht. Er schien auch besorgt zu sein, also hatte er nichts dagegen. Du hast Glück, dass er dich mag.“

Sonst war mir niemand hinterhergelaufen. Ich hatte nicht allzu viele Freunde in der Schule. Offen gestanden hatte ich überhaupt nicht sehr viele Freunde. „Du bist ja süß.“

Ich hätte schwören können, dass er rot wurde. Aber es stimmte. Er war süß. Abgesehen von seiner Unfähigkeit, auf Partys nüchtern zu bleiben und die Finger von den Cheerleadern zu lassen, war er der perfekte Typ.

„Hör mal, Samantha …“ Er hob den Kopf und sah mich an. „Das mit Carly und mir hatte kein schönes Ende. Und es war bitter für mich, dass sie mir gestern ausgewichen ist.“ Er rieb sich die Stirn und schaute wieder runter auf seine Füße. „Du bist natürlich ihre Freundin …“

„Beste Freundin.“

„Klar. Beste Freundin. Trotzdem redest du noch mit mir. Du zeigst mir nicht die kalte Schulter wie ihre anderen Freunde.“

Scharfsinnig beobachtet. Machte ich tatsächlich nicht. Ich konnte einfach nicht anders, denn ich mochte Colin. Anscheinend ging es ihm mit mir genauso, sonst wäre er mir nicht gefolgt. „Carly findet das nicht gerade toll“, sagte ich und zuckte die Achseln. „Aber ich entscheide eben immer noch selbst, mit wem ich spreche.“

„Schön. Also, ich will natürlich nicht, dass es deshalb zwischen euch Krach gibt, aber ich muss dich einfach was fragen …“

„Was denn?“

Er hob wieder den Kopf und schaute mich an. „Würdest du dich mal mit mir treffen?“

Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte. „Wie treffen?“

„Du und ich, wir könnten vielleicht am Wochenende ins Kino gehen. Oder ins Crave.“

Oh Mann.

Ich sah schon deutlich vor mir, wie ich Carly das beichtete. Wahrscheinlich würde sie eine halbe Ewigkeit nicht mehr mit mir reden. Obwohl es gar nicht meine Schuld war. Oder vielleicht doch? Immerhin redete ich noch mit Colin, während alle anderen Freunde von Carly einstimmig beschlossen hatten, ihn mit Verachtung zu strafen.

Er machte ein paar Schritte auf mich zu, bis er nur noch eine Handbreit von mir entfernt war und damit deutlich zu nah. Wenn uns jemand sah, konnte er leicht einen falschen Eindruck bekommen.

Ich wickelte eine lose Haarsträhne um meinen Finger und holte tief Luft. „Mann, Colin. Ich, ähm … mag dich wirklich gerne, ehrlich, aber …“ Ich verstummte.

Sein Geruch – nein, das war ganz bestimmt nicht nur Seife, wie er gestern im Kino behauptet hatte. Er roch … lecker. Ungefähr wie ein Fünfsternemenü.

„Aber was?“

Ich erschauerte und war auf einmal völlig auf seinen Mund fixiert. „Oh Gott, ich habe gerade so einen Hunger.“

Er grinste. „Wie schaffst du es, dass der Satz bei dir so sexy klingt?“

„Sexy?“

„Und ob.“ Er beugte sich zu mir vor.

Nein, tat er nicht. Ich zog ihn näher an mich heran, ließ meine Hände über seine Schultern zu seinem Nacken gleiten und fuhr durch sein Haar.

Erst als meine Lippen nur noch einen Hauch von seinen entfernt waren, kam ich wieder zu mir. Ich legte meine Hände auf seine Brust und schob ihn von mir weg.

Verwirrt blickte er mich an. „Ähm, was war das denn?“

„Ich weiß nicht. Tut mir leid … Ich muss weg.“ Schwer schluckend verschwand ich so schnell wie möglich. Erst nachdem ich das Schulgebäude verlassen hatte und die kühle Morgenluft auf meinem Gesicht spürte, blieb ich stehen. Ich atmete tief ein und kämpfte gegen den Hunger an, der mich fast dazu gebracht hatte, Colin zu küssen. Es war beinahe unmöglich gewesen, dem Verlangen zu widerstehen.

Trotzdem war es mir gelungen.

Plötzlich fiel mir ein dunkelblonder Junge am Fuß der Treppe zum Parkplatz auf. Er stand da und beobachtete mich.

Mein Herz raste. Das war der Junge aus der Gasse.

Der Junge, den Bishop getötet hatte. Jetzt drehte er sich um und machte Anstalten, zu verschwinden. Ohne zu überlegen, rannte ich hinter ihm her.

„Warte!“ Ich stolperte über meine eigenen Füße und fiel fast hin, bis ich schwankend auf dem schmalen Weg, der sich über das Schulgelände wand, stoppte.

Der blonde Typ setzte sich auf eine Bank und betrachtete mich wieder. Seine blutige Kleidung von letzter Nacht hatte er gewechselt und trug jetzt blaue Jeans und ein langärmeliges schwarzes Shirt.

„Hallo“, begrüßte er mich lässig. „Samantha, stimmt’s?“

„Du …“ Ich brachte kaum ein vernünftiges Wort heraus. „Du bist es, oder?“

„Kommt drauf an, wen du damit meinst.“ „Du lebst.“

„Ja?“ Er blickte an sich herunter, streckte seine Arme aus und begutachtete sie, bevor er mich erneut musterte. „Hey, du auch. Was für ein Zufall.“

„Aber ich habe doch letzte Nacht miterlebt, wie dir jemand einen Dolch in die Brust gerammt hat.“

Er stand auf und näherte sich mir mit wenigen Schritten. Erschrocken wich ich zurück.

„Hast du wirklich gesehen, wie ich erstochen wurde?“, erkundigte er sich.

„Ja, hab ich.“

„Bist du dir da ganz sicher?“

Wütend funkelte ich ihn an. Er machte sich über mich lustig, und ich hatte keine Ahnung, warum. „Absolut.“

Er rieb sich die Brust. „Komisch, mir geht es nämlich bestens.“

„Ich bin nicht verrückt.“

Langsam ging er im Kreis um mich herum und betrachtete mich von Kopf bis Fuß.

„Ich bin Kraven.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das überhaupt nicht warm oder freundlich wirkte. „Ich würde ja gern behaupten, dass ich erfreut bin, dich kennenzulernen, allerdings wäre das eine Lüge. Ich meine, so was wie du ist doch der Grund für diesen ganzen Schlamassel.“

Mein Magen rebellierte, und ich zitterte. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“

Ich leugnete es weiter, sogar vor mir selbst. Wenn ich nämlich akzeptiert hätte, dass hier etwas furchtbar falsch lief – und zwar vor allem mit mir –, wäre es real geworden. Und ich war noch nicht bereit fürs Irrenhaus.

„Aber klar. Du bist nur ein normales Mädchen, hab ich recht? Und dieser unstillbare Hunger, den du plötzlich entwickelt hast – woher kommt der? Nur ein paar kleine Heißhungerattacken?“

Ich schüttelte den Kopf und versuchte auszublenden, wie viel er über mich zu wissen schien. „Bishop hat dich erstochen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Also, warum bist du nicht tot?“

Kravens bösartiges Grinsen wurde noch breiter, und seine bernsteinfarbenen Augen begannen rot zu leuchten.

„Weil es etwas mehr braucht, um einen Dämon zu erledigen.“