Der Lärm des Clubs dröhnte in meinen Ohren, und in meinem Kopf drehte sich alles. Ich war mir sicher, dass jetzt auch noch das letzte bisschen Farbe aus meinem Gesicht gewichen war.
„Du bist … meine Tante?“, konnte ich nach einigen Sekunden Starre herausbringen.
„Das bin ich.“
Ich versuchte es zu verarbeiten, ohne ohnmächtig zu werden. Zwischen uns bestand eine Familienähnlichkeit. Das hatte ich auch vorher schon bemerkt, doch das hier war die Bestätigung, dass wir verwandt waren. „Aber du bist so jung.“ Ihre braunen Augen, die meinen so ähnelten, begannen rot zu leuchten.
„Dämonen behalten die Gestalt, mit der sie als Menschen gestorben sind.“ Ihre Lippen zuckten. „Du hast schon erraten, dass ich ein Dämon bin, oder?“
Mein Mund war so trocken, dass ich kaum sprechen konnte. „Ich hatte da so eine Ahnung.“
„Nur du? Nicht dein Freund Bishop? Ich vermute, er weiß zu viel über mich.“
Ich ließ mich auf eins der roten Plüschsofas fallen und zwang meinen Mund, wieder Worte zu formen. „Warum sollte ich dir überhaupt glauben? Du könntest mich ebenso gut anlügen.“
Sie betrachtete mich lange und geduldig. „Weil ich weiß, dass dir dein Bauchgefühl verrät, dass ich die Wahrheit sage.“ Sie hatte recht. Das tat es. Es war so, als hätte sich ein weiteres Teilchen in mein Puzzle eingefügt. Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich das ganze Bild sehen wollte. Aber ich musste stark bleiben. Ich wollte die Wahrheit wissen. Schließlich hatte ich danach verlangt. Das hier war die Wahrheit. Natalie war meine Tante. Und sie war ein Dämon. Es gab noch so viel, was ich wissen musste, und ich konnte an dieser Stelle nicht aufhören.
„Meine wirklichen Eltern“, krächzte ich. „Mein Vater und … meine Mutter. Wer sind sie? Und wo?“
Natalie hatte neben mir Platz genommen, doch sie rutschte nicht näher oder versuchte meine Hand zu halten. Vielleicht wäre dies zu viel gewesen und ich wäre fortgelaufen, noch bevor ich alles in Erfahrung gebracht hätte, das ich unbedingt wissen musste. Ihr Gesichtsausdruck blieb ernst, aber ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. „Dein Vater ist mein älterer Bruder. Sein Name ist Nathan.“
Ich musste die nächste Frage stellen, allerdings fürchtete ich mich vor der Antwort. „Und wenn du ein Dämon bist …“ Das Was-ist-er-dann? blieb unausgesprochen.
Sie sah mich an. „Er ist auch ein Dämon.“
Ich zitterte. Es wäre natürlich möglich gewesen, dass er menschlich war, doch ich hatte das furchtbare Gefühl, dass es nicht so sein würde. Ich wollte diese Information nur zu gern verleugnen, aber sie passte ebenfalls genau ins Bild. „Und meine Mutter? War sie auch ein Dämon? Oder war sie ein Mensch?“
Ihre Lippen wurden schmal vor Abscheu. „Weder noch. Sie war ein Engel.“
Das war ein Schock. „Ein Engel? Warte, mein Vater war ein Dämon und meine Mutter war … ein Engel?“
„Ja.“
„Waren sie menschlich, als sie zusammenkamen?“
„Nein. Deine Eltern waren schon übernatürliche Wesen, als sie sich trafen – ein Engel und ein Dämon.“
„Aber … was bin ich denn dann?“
Ihr Lächeln kehrte zurück. „Etwas Besonderes.“ Das nächste Puzzleteil fügte sich.
Ich sprang so schnell auf, dass mir schwindelig wurde, und wollte an die frische Luft, doch ich war wie festgefroren und konnte mich nicht bewegen. Es fühlte sich so an, als sei Blei in meinen Schuhen. Ich war wie betäubt. Ich zwang mich, ruhig ein- und auszuatmen. Alles wurde allmählich wieder klar, und mein Herzschlag normalisierte sich. Es brauchte eine Weile. „Aber Engel und Dämonen mögen sich nicht“, sagte ich, denn das hatte Bishop behauptet. „Sie hassen einander.“
„Normalerweise schon. Ich persönlich verabscheue Engel.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Doch du weißt ja, wie es so schön heißt – die Liebe geht manchmal seltsame Wege.“
Wie konnte sie so leichtfertig darüber sprechen? „Was ist passiert?“
Sie drehte eine Haarsträhne um den Finger, was mich gleich an meine eigene nervöse Geste erinnerte. Diese Frau – dieser Dämon – wirkte jedoch nicht so, als würde sie besonders häufig nervös werden. „Genau das Gleiche, was gerade geschieht. Ein Team aus Engeln und Dämonen wurde geschickt und sollte sich um ein Problem kümmern. Deine Eltern trafen sich. Aus Hass wurde schließlich etwas anderes – frag mich aber nicht, wie. Wahre Liebe.“ Sie sagte es sehr trocken und schien selbst nicht daran zu glauben. „Das Problem war, dass es verboten ist. Engel und Dämonen dürfen nicht auf diese Weise zusammen sein. Besonders nicht in der Welt der Menschen.“
„Warum nicht?“
Sie sah an mir herunter. „Weil es einen Preis für so eine unkontrollierbare und unnatürliche Leidenschaft zu zahlen gibt. Engel und Dämonen pflanzen sich nicht miteinander oder mit anderen fort. Anders jedoch in der Welt der Menschen. Wahre und leidenschaftliche Liebe spielt eine große Rolle in der Biologie. Du bist eine Anomalie, Samantha. Das unfassbar seltene Resultat einer verbotenen Affäre zwischen Engel und Dämon.“ Sie lächelte mich breit an. „Und du bist fantastisch, wenn ich das so sagen darf.“
„Ich bin eine Anomalie.“ Das war das gleiche Wort, was Bishop benutzt hatte, um die Quelle zu beschreiben, einen Dämon, der menschliche Seelen verschlingen konnte. Also: meine Tante. Er hatte sich gefragt, ob der Dämon von damals zurückgekehrt war. Es klang für mich so, als hätte er damit absolut recht.
„Du bist der Nexus, das Bindeglied“, erklärte sie. „Der Nachkomme eines Engels und eines Dämons. Du wurdest als Mensch geboren – doch du bist ein besonderer Mensch mit Fähigkeiten von Engeln und von Dämonen zugleich, die von deiner Seele blockiert wurden.“
Darum konnte ich all diese Dinge mit den anderen Engeln und Dämonen tun. Sie finden, diese elektrische Spannung entladen, ihre Gedanken lesen. Ich hatte eine Verbindung zu ihnen, eine tief liegende Verbindung, die mir angeboren war. Und nur ohne meine Seele konnte ich darauf zugreifen. Die Kräfte von Himmel und Hölle – von Engeln und Dämonen – in mir …
Das war für einen Donnerstagabend eine Menge zu verarbeiten. „Also bin ich eigentlich keine Gray“, sagte ich still.
Ihr Lächeln verschwand. „Ich war absolut davon überzeugt, dass Stephens Kuss dich nur von deiner Seele befreien und deine versteckten Fähigkeiten aufdecken würde. Für mich war es überraschend, dass du auch den Hunger entwickelt hast.“
Ich blickte sie finster an. „Es war also nur eine Ahnung von dir? Und du hast es trotzdem getan? Ohne mir vorher irgendetwas zu erklären? Ohne mir die Wahl zu lassen?“
Sie verzog das Gesicht und sah wenigstens schuldbewusst aus. „Es tut mir leid. Ich weiß, dass der Hunger … unangenehm ist. Aber mir ist gar nicht in den Sinn gekommen, dass er ein Problem darstellen könnte. Es wäre sehr gut möglich, dass der Hunger verschwindet, wenn sich dein Körper daran gewöhnt hat, ohne Seele zu sein.“
„Ist das auch eine Vermutung?“
„Du bist nicht wie die anderen, Samantha. Du bist etwas Besonderes.“
„Du kannst mich mal kreuzweise“, fuhr ich sie an. Meine Wut wuchs mit jeder neuen Information, die ich erhielt. „Du hättest mich verdammt noch mal zuerst fragen müssen, denn ich hätte Nein gesagt.“
„Dich zu verletzen war das Letzte, was ich vorhatte.“ Doch ihr Tonfall wurde schärfer. „Aber es ist passiert, und es gibt keinen Weg zurück, du musst nach vorn schauen. Ich glaube, dass du aufgrund deiner Fähigkeiten mit Bishops Dolch einen temporären Durchlass durch die Barriere erschaffen kannst, die uns hier gefangen hält.“
„Bishop …“ Ich sprach seinen Namen laut aus, und mein angeschlagenes Herz schmerzte noch mehr. Ich wünschte, ich wüsste, wo er jetzt gerade war und ob es ihm gut ging. Noch immer versuchte ich stark zu bleiben, trotzdem wollte ich so schnell ich konnte zu ihm. Würde er doch nur zu mir kommen, wenn er Hilfe bräuchte.
„Er ist ein Engel, oder?“ Ein rotes Glimmen flammte in ihren Augen auf, sowie sich ihre Miene verdüsterte. „Er hat deine Fähigkeiten von dem Moment an ausgenutzt, als ihr euch getroffen habt.“
„Klingt so, als würdest du das Gleiche probieren.“ Es jagte mir Angst ein, dass sie wusste, wer Bishop war, ohne dass ich es bestätigt hatte.
„Ich möchte uns beide retten, nicht nur mich. Die Familie steht immer an erster Stelle, Samantha.“
Ich krallte mich an dem roten Sofa fest, als wäre es für mich ein Anker. „Wo sind meine Eltern? Warum haben sie mich verlassen? Haben sie mich einfach bei einer Adoptionsagentur abgegeben und sind nach Tahiti abgehauen oder was? Warum höre ich nach siebzehn Jahren zum ersten Mal davon?“ Jeder Rest von Heiterkeit verschwand jetzt aus Natalies hübschem Gesicht. Sie setzte sich wieder auf die Kante der Couch und deutete mir an, das Gleiche zu tun. Dann warf sie noch einen Blick auf die umstehenden Grays, die alle auf Abstand blieben. Niemand war in Hörweite. „Es ist mein Fehler“, sagte sie. „Alles. Wozu ich fähig bin, was ich getan habe … Ich bin nicht stolz darauf, Samantha.“
„Wovon redest du?“
„Mein Hunger.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Mein Fluch. Er war sehr schwer zu kontrollieren, seit ich zum Dämon wurde. Die Verwandlung in einen Dämon ist härter als die zum Engel. Die Glückspilze. Mein Bruder und ich – bei uns beiden gab es Komplikationen. Nathan konnte Lebensenergie aussaugen – er konnte durch Berührungen töten –, aber er hatte es vollkommen im Griff. Ich war gierig nach einer anderen Art von Energie, und ich konnte es nicht kontrollieren, egal wie sehr ich mich auch bemühte.“
Ich sah sie mit aufgerissenen Augen an. „Seelen.“
Sie nickte mit ausdruckslosem Gesicht. „Es wurde zu einer Sucht, und mir war klar, dass die mir jedes Mal Probleme bereiten würde, wenn ich in der Welt der Menschen war. Dennoch konnte ich nicht aufhören. Nathan versuchte mir zu helfen, aber schließlich rannte ich fort. Ich versteckte mich hier, und meine Gier wurde nur noch schlimmer. Dadurch stand ich auf der Abschussliste von Himmel und Hölle. Ich zerstörte das, was sie am meisten schätzten, und musste in ihren Augen vernichtet werden. Sie schickten ein Team aus Engeln und Dämonen, um das zu erledigen. Einer davon war mein Bruder, den sie auserwählt hatten, weil sie hofften, dass er mich kontrollieren könne … und Anna, deine Mutter. So sind sie sich begegnet.“
Anna. Der Name brannte sich mir gleich ins Gedächtnis ein. Ich schluckte schwer. „Was ist dann geschehen?“
„Sie haben mich natürlich gefunden. Doch das hat viele Monate gedauert. Zu dem Zeitpunkt war Anna schon hochschwanger.“ Sie lachte freudlos. „Glaub mir, sie waren so geschockt darüber, dass es passiert war, wie alle anderen. Sie wussten noch nicht einmal, dass das möglich war. Aber“, Natalie nahm meine Hand und schaute mir tief in die Augen, „sie wollten dich unbedingt haben, Samantha. Sie liebten dich schon, bevor du geboren warst.“
Ich zog meine Hand nicht weg, aber meine Handflächen schwitzten. „Und dann?“
„Obwohl sie alles getan haben, es geheim zu halten, fanden die anderen Teammitglieder heraus, dass sie eine unerlaubte Beziehung hatten. Sie wurden voneinander getrennt, und ihnen wurde verboten, einander jemals wiederzusehen. Du warst da schon geboren und wurdest versteckt. Anna hatte vor, dich so bald wie möglich zurückzuholen.“
„Aber das hat sie nicht.“
„Nein.“ Natalie drückte meine Hand noch fester. „Es gab einen Kampf. Einen großen Kampf, und Anna wurde mit einem Dolch erstochen, wie Bishop ihn bei sich trägt. Das Schwarz öffnete sich und hat sie verschlungen. Nathan war so verzweifelt bei dem Gedanken, sie zu verlieren, dass er gleich hinterhergesprungen ist.“ Ihre Miene spannte sich an. „Und der Rest des Teams hat mich ebenfalls hineingeworfen. Sie wollten nicht die Chance vertun, gleich drei Probleme auf einmal loszuwerden.“
Ich sah sie schockiert an. Mein Herz schlug dreimal so schnell wie sonst. „Sie haben sie umgebracht?“
Natalie nickte. „Es tut mir leid.“
Trauer um eine Frau, die ich nie gekannt hatte, stieg in mir auf, und mir traten Tränen in die Augen. Ich zwang mich, sie zu unterdrücken. „Was ist das Schwarz? Ich höre das ständig, aber ich weiß nicht, was es ist. Dorthin gehen die übernatürlichen Wesen, wenn sie sterben, oder?“
Sie presste die Lippen aufeinander. „Es ist ein schwarzes Loch, in die all der unerwünschte Abfall von Himmel und Hölle geworfen wird, und sie machen da keine Unterschiede. Es öffnet sich hier in der menschlichen Welt nur dann, wenn ein übernatürliches Wesen zerstört wird – es saugt alles auf, was ihm in die Quere kommt. Nichts ist jemals von dort zurückgekehrt. Es ist die ultimative Müllkippe.“
Das klang nach einem Albtraum. Ein furchtbarer, endloser Albtraum. Doch dann schoss mir etwas durch den Sinn. „Warte mal eine Minute. Du hast gesagt, dass nie etwas von dort zurückgekehrt ist. Aber … du bist hier. Du hast es geschafft.“
Der gequälte, ernsthafte Ausdruck blieb in ihrem Gesicht, aber in ihren Augen flackerte etwas auf. „Das habe ich wohl, oder nicht?“
„Was soll das heißen?“
„Das heißt, das Schwarz ist nicht das, wofür es alle halten. Es hat sich verändert.“ Es lag eine große Portion Verachtung und Selbstgefälligkeit in ihrer Stimme. „Sie haben keine Ahnung, was inzwischen möglich ist. Sie haben mich auf den Müll geworfen, weil ich anders bin. Haben sie darüber nachgedacht, mir zu helfen, wie mein Bruder es wollte? Nein, natürlich nicht. Es war ein Problem, und ihre Lösung dafür war drauftreten und den Rest in den Müll werfen. Allerdings bin ich wieder da.“
Sie erschreckte mich. „Du bist zurück, und jetzt kannst du mehr von denen erschaffen, die dasselbe tun können wie du.“
„Das war eine Überraschung, glaub mir. Ich war vorher nicht so, und ich bin davon überzeugt, dass Himmel und Hölle ganz schön schockiert waren, als ich wieder auf ihrem Radar auftauchte. Wenn ich jemanden küsse – so wie ich es mit Stephen gemacht habe –, verändert sich diese Person. Sie wird so wie ich. Aber sie müssen aufpassen, dass sie nicht zu gierig werden. Ihre Körper werden zu übernatürlichen Wesen, dennoch ist ihr Verstand immer noch so zerbrechlich wie der eines Menschen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und Menschen sind von Natur aus sehr gierige Kreaturen. Bring sie auf den Geschmack, und sie kommen wieder.“
Ich bemühte mich, so normal wie möglich zu atmen. „Also hast du Stephen geküsst, ohne zu wissen, was es ihm antun würde.“
Sie grinste verschlagen. „Was soll ich sagen? Er ist niedlich. Ich mag niedliche Jungs. Sie sind unterhaltsam.“ Sie blickte zu ihm hinüber. „Er hatte eine Freundin, der hat er jedoch den Laufpass gegeben. Ich hatte mir eingebildet, dass er die ganze Zeit bei mir sein wollte, aber ich habe so den Verdacht, dass er sie retten wollte. Er wollte ihr nicht die Seele nehmen.“
Das schockierte mich. Jordan war verletzt, dass Stephen sie verlassen hatte und danach mit mir gesehen wurde, doch vielleicht hatte er nur versucht, sie zu beschützen. Vielleicht. Ich war mir nicht sicher, ob Stephen zu so einer selbstlosen Tat fähig war.
Natalie drückte erneut meine Hand, und ich sah sie erschrocken an. „Du musst den Dolch besorgen, damit wir entkommen können, Samantha. Mich können sie nicht finden. Und wenn sie herauskriegen, was du bist, werden sie dich genauso als Anomalie betrachten wie mich. Mein Hunger ist nicht mehr so schlimm, wie er einmal war. Ich kann ihn jetzt kontrollieren. Ich gebe zu, dass ich hier einigen Schaden angerichtet habe, ehe ich bemerkt habe, was los ist, und ich bin nicht stolz darauf.“ Sie schaute sich betroffen in der Lounge um. „Aber ich glaube, dass der Hunger der anderen wie bei dir irgendwann abnehmen wird, wenn sie ihm widerstehen. Menschen können ganz prima ohne Seele überleben. Sie brauchen sie nicht wirklich, und es ist in vielfacher Hinsicht eine Befreiung. Stephen ist dafür ein perfektes Beispiel. Er ist jetzt stärker als jemals zuvor.“
Er hatte mir dasselbe erzählt. Seine Seele hatte ihn blockiert, und er war voller Zweifel und unglücklich gewesen. Jetzt war er eine verbesserte Version seines alten Ichs. Wenn Natalie recht hatte, konnte es dann wirklich okay sein, wenn Grays – Menschen ohne Seelen – Seite an Seite mit normalen Menschen lebten? Wenn sie sich so fühlten wie ich mich im Moment, konnte ich keinen Grund dagegen entdecken.
„Du und ich müssen heute Nacht die Stadt verlassen“, meinte sie entschlossen. „Spätestens morgen. Es gibt keine Zeit zu verlieren. Es muss niemand mehr verletzt werden. Bitte, Samantha. Wir sind Familie. Wir brauchen einander, vor allem jetzt.“
„Mein Vater …“, flüsterte ich. „Geht es ihm gut? Kann ich ihn sehen?“
„Hol mir den Dolch, und ich bringe dich auf direktem Weg zu ihm. Er war derjenige, der wollte, dass ich dich wiederfinde.“
„Willst du damit sagen, dass er auch geflohen ist? Ist er mit dir zusammen aus dem Schwarz entkommen?“
Sie starrte mich an, und ich sah, dass in ihren Augen Tränen schimmerten. „Ich kann dir jetzt nicht mehr sagen. Zuerst musst du mir beweisen, dass ich dir vertrauen kann. Aber er wird froh sein, dich zu sehen, und stolz darauf sein, wie schön du geworden bist. Er würde alles für dich tun, genauso wie er es für Anna getan hätte.“
Mein Vater. Ein Dämon, der sich in einen Engel verliebt hatte. Der ihr ohne zu zögern in das endlose Schwarz gefolgt war in dem Wissen, dass es wahrscheinlich kein Zurück gab. Aber das gab es – Natalie war der Beweis dafür. Das Schwarz war nicht das, was alle glaubten. Es war nicht das Ende. Ich hätte gedacht, dass ich vor einem Dämon Angst haben würde, doch ich fürchtete mich nicht. Ich wollte ihn treffen und kennenlernen . Dafür musste ich Natalie helfen und ihr Bishops Dolch besorgen.
„Ich möchte jetzt gehen“, meinte ich schwach.
„Bitte denk über alles nach, was ich dir gesagt habe. Du bist jetzt meine einzige Hoffnung, Samantha. Ich weiß, dass deine Eltern beide sehr stolz auf dich wären. Du bist so etwas Besonderes. Zweifle niemals daran.“
Langsam stand ich vom Sofa auf und testete vorsichtig, ob mich meine Beine tragen würden. Stephen sah zu mir herüber, während ich mich auf die Treppe zubewegte, allerdings machte er keine Anstalten, mich aufzuhalten. War alles wahr, was mir Natalie gerade erzählt hatte? Die Grays waren unter Kontrolle bis auf ein paar Ausnahmen, um die sich Bishops Team kümmern würde. Ihr Hunger würde nachlassen, wenn sie ihm nicht nachgaben. Meine Fähigkeiten stammten von beiden Seiten – Himmel und Hölle. Und ich konnte mit Bishops Dolch einen Durchlass durch die Barriere schaffen, durch den meine Tante fliehen könnte, um nicht gefangen genommen und getötet zu werden.
Ich ging die Treppe hinunter und war kaum in der Lage, mich auf die Richtung zu konzentrieren. Das Gespräch mit Natalie schwirrte in meinem Kopf herum und drohte mich zu überwältigen. Bishop wusste nicht, was ich war. Er war genauso überrascht wie alle anderen darüber, was ich tun konnte. Genauso erstaunt war ich über unsere seltsame Verbindung und darüber, dass ich in seiner Nähe nicht aufhören konnte, daran zu denken, ihn zu küssen.
Carly saß immer noch mit Paul in der Sitzecke. Ich wollte sie nicht stören, aber ich wollte kurz Hallo sagen, ehe ich abhaute. So wie es aussah, hatte ihr Date sich etwas beschleunigt und sie waren von den Chicken Wings zur nächsten Phase übergegangen. Es war eigentlich lustig, den Carly war noch nie so direkt gewesen. Tatsächlich hatte sie Colin erst beim fünften Date geküsst . Das war ihr erstes Date mit Paul, und schon …
Einen Augenblick.
Carly küsste Paul. Leidenschaftlich. Hatte sie vergessen, was das bedeutete? Ich rannte hinüber zu ihrem Tisch und packte sie am Arm. „Carly, warte! Du kannst nicht …“
Als sie sich umdrehte und mich ansah, hätte ich beinahe geschrien. Ihre Augen waren pechschwarz, und der Ausdruck darin war der eines Raubtiers, das sich gerade über seine Beute hermacht. Mir gefror das Blut in den Adern. Paul brach neben ihr auf der Bank zusammen. Sein Atem ging schnell, er schien Schwierigkeiten zu haben, Luft zu bekommen. Seine Gesichtszüge waren erstarrt, seine Augen glänzten, und um seinen Mund verliefen seltsame schwarze Linien, die jetzt verschwanden. Seine Haut war blass wie die von einem Geist.
Das war nicht einfach nur ein erster Kuss – Carly hatte seine Seele ausgesaugt. Mitten im Crave. Während ich sie entsetzt anschaute, wechselte ihre Augenfarbe wieder zum normalen Blau, und der eisige Ausdruck in ihrer Miene verschwand. Sie lächelte mich an.
„Hey, ich wusste nicht, dass du schon hier bist.“
„Ich … ich bin hier.“ Mein Blick wanderte zwischen ihr und Paul hin und her. Paul hatte sich jetzt so weit erholt, dass er sich Fritten vom Teller vor ihm in den Mund schob. „Hey, Sam“, begrüßte er mich. „Wie läuft’s?“
„Großartig“, quietschte ich. „Wirklich fantastisch. Und bei dir?“
Er zuckte die Achseln und grinste mich an. Immer noch sah er sehr blass aus. „Ich bin mit Carly zusammen, also bin ich wohl ziemlich glücklich, würde ich sagen.“
„Na klar.“ Ich schluckte. Er verstand überhaupt nicht, was geschehen war. Er glaubte gerade bei einem ersten Date ein Mädchen geküsst zu haben, in das er sehr verliebt war.
Mir war schlecht.
„Setz dich dazu.“ Carly rutschte beiseite.
Sie sah jetzt so normal aus, dass ich beinahe vergessen hätte, was ich gerade beobachtet hatte – ein schwarzäugiges Monster, das eine menschliche Seele verschlang. Ein Monster, das mich einen Moment so angesehen hatte, als wollte es mich dafür in Stücke reißen, dass ich es unterbrochen hatte. Sie hatte gesagt, dass sie so etwas nicht tun werde, dass sie es unter Kontrolle habe und ich ihr vertrauen solle. Das Monster war nun spurlos verschwunden, und sie wirkte wieder normal. Aber ich wusste, dass es nicht so war. Ich schaute mich um, doch niemand außer mir schien gesehen zu haben, was passiert war.
„Ich, ähm … kann nicht bleiben. Ich wollte nur kurz Hallo sagen.“ Ich warf einen Blick auf ihren noch halb vollen Teller. Wäre das meiner gewesen, wäre der jetzt komplett geleert.
Sie runzelte die Stirn und berührte meinen Arm. Ihre Haut fühlte sich eiskalt an, und ich zuckte zurück. „Du siehst nicht gut aus. Bist du dir sicher, dass du dich nicht noch einen Moment setzen willst?“
Das war nicht der Zeitpunkt für Vorwürfe. Vielleicht war ihr gar nicht bewusst, was sie gerade getan hatte. Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss wirklich gehen.“
„Ich auch“, verkündete Paul. „Es war toll, Carly. Tut mir leid, dass ich so früh los muss. Vielleicht machen wir das mal wieder?“
„Auf jeden Fall“, antwortete sie mit einem breiten Grinsen. „Vielen Dank für das Abendessen.“
Ich glaubte nicht, dass sie nur von den Chicken Wings sprach. Ich blieb noch einen Augenblick, um mich zu vergewissern, dass Paul den Club verließ, und beobachtete, wie er langsam auf den Ausgang zusteuerte, als sei er auf unerklärliche Weise erschöpft. Carly umarmte mich, schaute mich dann fragend an und runzelte die Stirn.
„Ich weiß, was du denkst“, sagte sie. „Aber das ist keine große Sache, okay? Er ist in Ordnung. Ich habe kaum etwas genommen. Aber ich musste es tun. Es ging nicht anders – ich hatte so einen Hunger.“
Ich nickte nur. „Wenn du es sagst.“ Als ich mich zum Ausgang bewegte, sah ich, wie sie die Treppe hinaufging, um oben mit den anderen Grays rumzuhängen.
Und ich machte mich auf die Suche nach einer verlassenen Kirche auf der Wellesley Avenue.
„Deine Antworten gefunden?“, fragte der Obdachlose, als ich an ihm vorbeilief. „Oder nur noch mehr Fragen? Du hast sie gesehen, oder nicht? Sie ist genauso wie beim letzten Mal, nur schlimmer, viel schlimmer.“ Er wusste über Natalie Bescheid – darüber, dass sie schon einmal hier gewesen war. Ich hatte vorgehabt, weiterzugehen, aber stattdessen hockte mich auf Augenhöhe vor ihn. Er sah mich überrascht an, so als hätte er erwartet, dass ich ihn ignorieren würde. Ich streckte meinen Arm aus und nahm seine dreckige Hand in meine. Elektrizität knisterte meinen Arm entlang – kribbelnd, aber nicht schmerzhaft. Und vertraut. Ich betrachtete ihn genau und beobachtete, dass die Verwirrung ein wenig aus seinem Blick wich. „Du bist ein Engel, oder?“, fragte ich. Er atmete erschrocken ein und starrte mich an.
„Ich habe es damals versaut – ihnen zufolge. Jetzt bin ich für immer gestraft. Sie haben keine Ahnung, was sie mir angetan haben.“
„Kannst du klar denken?“ Ich drückte seine Hand. „Hilft das?“
Er schaute hinunter auf unsere Hände. „Nichts besänftigt meine Schmerzen, nicht lange. Ich versuche es immer wieder, aber ich kann ihnen nicht entkommen. Die Fußfesseln sind schwer. Ich fühle sie sogar jetzt. Eines Tages werde ich frei sein.“ Er klang immer noch verrückt. Ich hatte gehofft, es wäre nicht so, dass ich ihm helfen könnte und dass er im Gegenzug dann mir helfen würde.
„Woher weißt du das über sie?“, bohrte ich weiter.
Er schüttelte nur immer wieder den Kopf und presste die Lippen aufeinander, bis er schließlich sprach. „Versuchte zu helfen. War nicht wichtig. Sie war außer Kontrolle. Musste vernichtet werden. Konnte nicht bleiben. Musste gehen.“
War er Teil des Teams von Engeln und Dämonen, die meine Mutter getötet hatten? Die meinen Vater und Natalie in das Schwarz geschickt hatten? Trauer und Wut überfielen mich bei dem Gedanken. Nein, mit diesen Dingen konnte ich mich nicht befassen. Nicht jetzt. Sie waren zu grundlegend, um mich im Moment damit auseinanderzusetzen.
„Ich habe einen Freund mit Namen Bishop“, sagte ich. „Er ist wie du, glaube ich, allerdings hat es bei ihm erst angefangen. Kannst du mir irgendeinen Rat geben?“
„Wächter der Nacht, wütend und verletzlich. Wird jetzt nicht mehr lange dauern. Ohne dich ist er verloren, denn seine Ketten werden immer schwerer. Du musst mir helfen, schöner Stern. Du bist die Einzige, die das kann.“
„Ich weiß nicht, wie.“
Er war ein Engel, genau wie Bishop, aber er war nicht in den Himmel zurückgekehrt. Er hing hier aus irgendeinem Grund fest, und sein Verstand war auf Dauer zerstört. Bishop hatte gemeint, dass er geheilt werde, wenn er wieder in den Himmel aufstieg. Wie lange war dieser Typ hier gewesen? Natalie hatte gesagt, dass das Erscheinungsbild der Engel und Dämonen immer dem Alter entspreche, in dem ihr menschlicher Körper gestorben war, als konnte ich nicht allein nach dem Aussehen gehen.
Heute Nacht hatte ich keine Zeit, diesem Engel zu helfen, obwohl ich es gern tun wollte.
„Wir sehen uns wieder“, sagte ich schweren Herzens zu ihm. „Und wenn es mir möglich ist, werde ich versuchen dir zu helfen , das verspreche ich.“
Er hielt mich nicht auf, als ich losrannte. Ich musste den anderen Engel sehen, den, von dem ich wusste, dass ich ihm noch helfen konnte. Und der Engel, von dem ich verzweifelt hoffte, dass er mich im Gegenzug auch retten konnte.