Mir wurde schwindelig bei dem Versuch, die Neuigkeit zu verarbeiten.
„Wo ist sie?“
„An einem sicheren Ort“, antwortete Natalie. „Nicht hier. Nur Stephen und ich wissen, wo sie ist.“
„Darum ist er weggerannt, nachdem er mich geküsst hat, richtig?“, fragte ich atemlos.
„Stephen?“, sagte sie und warf ihm einen Blick zu.
Stephen schluckte schwer und öffnete den Mund. Es schien so, als habe er Probleme, zu sprechen. „Das stimmt.“
Ich schaute zu Bishop hinüber. Er sah so überrascht aus, wie ich mich fühlte, aber es lag eine Spur von Hoffnung in seinem Blick.
„Und was ist mit Carlys Seele?“, erkundigte er sich. „Hast du die auch irgendwo versteckt? Das wäre eine perfekte Absicherung, um Samantha dazu zu bewegen, zu tun, was du willst.“
Carly sah uns mit glasigem, uninteressiertem Blick an. Aber sie passte genau auf. Ich war mir nicht sicher, ob ich wissen wollte, was in ihrem Kopf vorging. Sie mochte sich ohne Seele – ihr neues Selbstbewusstsein, die Aufmerksamkeit der Jungs –, und sie würde ihre Seele nicht zurückhaben wollen, auch wenn es die Möglichkeit gäbe. Doch ich musste die Wahrheit wissen. „Also?“, sagte ich und blickte jetzt Stephen an. „Hast du sie noch?“
„Stephen nickte. „Das habe ich.“
Erleichterung und Angst brachen über mich herein. Vielleicht konnte Carly wieder die Alte werden. Aber um welchen Preis?
Natalie verschränkte die Arme und nickte ein paar Grays hinter uns zu. „Haltet ihn fest.“
Bevor Bishop sich bewegen konnte, packten ihn zwei der männlichen Grays an den Armen. „Meine Jungs sind besonders stark“, meinte Natalie. „Wenn ich sie selbst erschaffe, haben sie dieses kleine Extra. Sie können deinen geschwächten Engel leicht in Schach halten.“
Panik stieg in mir auf. „Natalie, was tust du?“
„Ich beschleunige das hier etwas. Ich habe noch ein paar dringende Angelegenheiten zu erledigen. Stephen?“
Er war sofort an meiner Seite und hielt mich fest. „Ihre Tasche“, befahl Natalie.
Ehe ich die Chance hatte, mich zu wehren oder überhaupt nur zu begreifen, was gerade geschah, riss er die Tasche von meiner Schulter und stieß mich so heftig zurück, dass ich stolperte und auf dem Boden landete.
Bishop stieß ein wütendes Knurren aus und versuchte sich zu befreien. „Ich hätte dich in der Nacht töten sollen, als ich noch die Chance dazu hatte, du Dreckschwein.“
„Aber du hast es nicht getan“, antwortete Stephen. „Dein Fehler.“ Er warf meine Tasche hinüber zu Natalie. Sie öffnete sie, griff hinein und zog den Dolch heraus. Das goldene Messer glänzte im Licht der Lounge. Bishops Augen weiteten sich. Ich überraschte ihn. Zu schade, dass mein Plan nicht aufgegangen war – es war wohl auch nicht der beste gewesen. Ich hatte zu lange gewartet, in der Hoffnung, Natalie zu überzeugen. In der Hoffnung, dass alle das hier überleben könnten. Jetzt hatte sie den Dolch.
„Ich wusste, dass du gelogen hast, Samantha“, sagte Natalie, während sie die Klinge betrachtete. „Als du behauptet hast, dass du ihn nicht haben würdest, war die Lüge klar und deutlich an deinen Augen zu erkennen. Du bist eine sehr ehrliche Person. Diese Schwäche geht wohl auf die Gene deiner Mutter zurück.“
Ich hasste sie. Bis zu diesem Moment hatte ich noch nie jemanden mehr gehasst.
„Interessant, das könnte genau der gleiche Dolch sein, der Anna getötet hat.“ Natalie sah den gefallenen Engel an. „Wie viele davon gibt es?“
Bishop biss die Zähne zusammen. „Ich weiß es nicht.“
„Auch wenn du es wüsstest, würdest du es mir nicht sagen, habe ich recht?“
„Guter Punkt.“
„Hat er einen Namen? Diese ganzen schicken magischen Waffen haben doch normalerweise Namen.“
Bishop funkelte sie an. „Oh ja, ich nenne ihn gerne Goldie.“ „Du bist lustig – für einen Engel.“
„Eigentlich nicht. Ich bin nur gerade gut drauf“, erwiderte er sarkastisch. Sein Blick fiel auf den Dolch. „Willst du mich mit dem Ding umbringen? Dich an mir stellvertretend für die anderen rächen, die dich vor siebzehn Jahren dem Schwarz überlassen und vergessen haben, dass du existierst?“
Mir drehte sich der Magen um. Was tat er? Meine dämonische Tante dazu provozieren, ihn jetzt gleich zu töten?
„Du wolltest eben, dass Carly dich küsst.“ Sie kam ihm so nahe, dass ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. Langsam ließ sie den Dolch zur Mitte seiner Brust und wieder hinaufgleiten. „Deine Seele riecht so gut – viel besser noch als die eines Menschen. Wie schafft meine kleine Nichte das, ihre Lippen von dir zu lassen? Das muss ja die reinste Folter für sie sein.“ Sie sah ihn durchdringend an. „Doch du hast gar nicht mehr deine ganze Seele, oder? Das kann ich spüren. Ich glaube, sie hat mal genascht. Das kann ich ihr nicht vorwerfen.“
„Bringst du es endlich zu Ende? Küss mich schon und hol dir den Rest.“
„Hättest du das gerne? Oder willst du nur Samanthas Mund spüren?“
Ich sprang auf die Füße und stürmte auf sie zu, um ihr die Augen auszukratzen, aber Stephen hielt mich auf. „Bleib zurück“, warnte er mich.
„Warum tust du das?“
„Warum nicht? Es gibt nichts anderes mehr, das mich interessiert. Also kann ich mich genauso gut jemandem anschließen, der so mächtig ist wie Natalie.“
„Was ist mit Jordan?“
Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. „Sie ist Geschichte. Und wenn sie mir irgendwie zu nahe kommt, ist sie in ernsthaften Schwierigkeiten.“
Oh Gott, warum hatte ich Kraven nicht hiervon erzählt? Warum hatte ich ihn k. o. geschlagen? Er könnte jetzt hereinstürmen und dies hier beenden. Obwohl – ich war mir da nicht ganz sicher. Vielleicht würde er auch die Dinge einfach laufen lassen, damit die Mission erfolgreich wäre und er seine Belohnung erhielte. Die beiden Brüder empfanden ja nicht gerade eine große Zuneigung füreinander. Trotzdem: Das Hereinstürmen käme jetzt wirklich passend.
Wo bist du? Mach schon, Dämon. Das ist deine Chance, den Tag zu retten.
Aber nichts geschah. Ich hatte nicht wirklich erwartet, dass Kraven plötzlich heldenhaft auftauchte. Wir waren auf uns allein gestellt. Ein Seitenblick auf Carly machte deutlich, dass sie auch nicht gerade eine große Hilfe wäre.
„Ich könnte dich jetzt küssen“, sagte Natalie zu Bishop. „Oder ich könnte dich auch mit dem Dolch endgültig töten. Aber das kommt für mich beides nicht infrage. Ich brauche dich.“
Bishops Miene verfinsterte sich, und er richtete seine Aufmerksamkeit auf mich. Als sich unsere Blicke trafen, machte mein Herz einen Sprung. Je länger sie redete, den Dolch in der Hand haltend, während Bishop festgehalten wurde, desto nervöser wurde ich. Seine Seele raubte ihm Kraft, und er konnte sich nicht befreien.
„Bitte tu ihm nicht weh.“ Meine Stimme überschlug sich bei diesen Worten.
Sie sah mich an. „Wirst du den Dolch benutzen, damit ein Durchlass im Schutzwall entsteht, und mir dabei helfen, diese Stadt zu verlassen?“
Ich zitterte. „Ich weiß noch nicht einmal, ob ich das überhaupt kann.“
Natalie drehte sich zu Bishop um und stieß ihm den Dolch in die Schulter. Er keuchte vor Schmerzen, als sich das Blut an der Waffe sammelte. Natalie zog den Dolch heraus, und Bishops Blut bedeckte ihn. Das alles geschah so schnell, dass ich kaum realisierte, was sie getan hatte. Ich versuchte mich zu bewegen, doch Stephen riss mich so heftig zurück, dass mir der Atem wegblieb. „Was tust du? Nein, Natalie, bitte tu ihm nicht weh!“
Sie lächelte bösartig. „Siehst du? Ich hatte recht, er bedeutet dir etwas. Das sollte die Sache hier beschleunigen.“
Auf Bishops Stirn glänzte der Schweiß und er knirschte mit den Zähnen. „Denk doch mal nach, Dämon. Sogar du musst das Problem erkennen, wenn du mit deinen Fähigkeiten die Stadt verließest. Du würdest alles zerstören.“
„Da ist sicher was dran. Irgendwo.“ Sie jagte die Klinge dieses Mal in Bishops Bauch und drehte sie noch einmal herum. Er stöhnte vor Schmerzen, aber er schrie nicht.
Aber ich tat es. Ich schrie so laut, dass ich nicht glauben konnte, dass niemand sofort die Treppen heraufstürmte, um nachzusehen, wer hier oben gefoltert wurde.
Stephen war für eine Sekunde abgelenkt, und ich ergriff die Möglichkeit, ihm mein Knie zwischen die Beine zu rammen. Er ließ mich los und taumelte zurück. Ich stürzte quer durch die Lounge, um Natalies Arm zu greifen, bevor sie den Dolch wieder in Bishops Körper stieß. „Hör auf!“, brachte ich heraus, und meine Augen waren mit Tränen gefüllt. „Bitte hör auf!“
„Dann sag, dass du mir hilfst. So einfach ist das. Ich kann das hier stundenlang tun – dieser Raum ist für alle anderen unsichtbar. Niemand wird etwas sehen oder hören, egal wie laut du für ihn schreist.“ Sie suchte meinen Blick. „Es muss nicht so sein. Verzweifelte Zeiten bedürfen verzweifelter Maßnahmen, Samantha. Ich bin gerade verzweifelt, und ich setze alles daran, zu überleben. Also mach dem ein Ende.“
Tränen liefen über meine Wangen. „Ich hasse dich.“
„Hass macht dich stark, Liebe macht dich schwach. Ich habe das von meinem Bruder gelernt. Er ist jetzt stark, Samantha. Du hast keine Ahnung, wie sehr. Er will dich treffen – dich kennenlernen. Ich kann dich zu ihm bringen. Das ist deine Chance, eine Familie zu haben, die dich so akzeptiert, wie du bist – ohne Einschränkungen.“
Eine Familie, die mich nicht ignorierte und für die ich nur eine Last darstellte. Einen Ort, wo ich hingehörte, mit Leuten, die mich in ihrer Nähe haben wollten. Das wäre einmal genug gewesen, um mich in Versuchung zu führen. Aber nicht heute Nacht.
Ich grub meine Fingernägel in ihren Arm. Mir war klar, dass sie meine Hand leicht wieder abschütteln und Bishop weiterhin Schmerzen zufügen konnte, dennoch krallte ich mich so fest, wie ich nur konnte. Ich versuchte meine Kräfte zu aktivieren, um ihr einen elektrischen Schlag zu versetzen, doch ich war nicht in der Lage, auch nur einen Funken zu erzeugen. Sie hatte nicht nur die Lounge geschützt, sondern auch sich selbst. Ihr Schutzschild war stärker als alles, was ich bisher gespürt hatte. Ich konnte ihn nicht durchdringen.
Ich sah, dass Bishop in sich zusammengesunken war und nur noch von den Grays aufrecht gehalten wurde. Blut tropfte aus seinen Wunden auf den Holzboden. Carly stand ruhig hinter Stephen, der sich langsam von meinem Tritt erholte. Ich hatte keine Zeit, meinen Freund zu betrauern oder mich mit dem Gedanken zu beschäftigen, dass ich Natalie mit allen Konsequenzen zur Flucht aus Trinity verhelfen müsste, wenn ich Carly retten wollte. Ich musste mitspielen. Ich musste sie davon überzeugen, dass ich ihr helfen wollte, damit ich den Dolch in die Hände bekam. Und dann würde ich all meinen Mut zusammennehmen müssen, um dies ein für alle Mal zu beenden.
„Ich … ich werde es tun“, flüsterte ich.
„Samantha, nein“, krächzte Bishop.
Natalie hob den Kopf. „Ist das dein Ernst?“
„Ja, das ist es. Tu ihm nicht weh. Ich mache, was du willst.“ Ich streckte ihr die Hand entgegen. „Gib mir den Dolch.“ Ihr Blick traf auf meinen, und wir sahen uns einen langen Moment an, in dem ich meinen Atem anhielt.
„Ich wusste, dass du deine Meinung ändern würdest“, erwiderte sie triumphierend.
„Ich würde sagen, du kennst mich.“
„Ja, ich glaube, das tue ich.“
Für einen Augenblick glaubte ich, es geschafft zu haben – ich hatte sie davon überzeugt, dass ich machen würde, was sie von mir verlangte. Leider war meine Tante nicht dumm.
„Ja“, sagte sie sanft. Jede Wärme wich aus ihrem Blick, und ihre Augen leuchteten wieder rot und verengten sich. „Definitiv die Gene deiner Mutter. Du bist so eine furchtbare Lügnerin, dass ich nicht begreife, warum du es überhaupt versuchst.“
„Vergiss Samantha“, presste Bishop knurrend hervor. „Du warst jetzt fast zwei Jahrzehnte lang im Schwarz gefangen. Welches Grauen hast du da unten gesehen? Gib mir die Schuld dafür und töte mich deswegen. Wenn ich damals Teil dieses Teams gewesen wäre, hätte ich dich mit dem allergrößten Vergnügen ins Schwarz geworfen.“
Mein Magen schmerzte. „Bishop, nein!“
Wut flackerte in ihren Augen. „Halt mich nicht für einen Idioten, Engel. Es wird nicht mehr lange dauern, und dann wird sie mir helfen. Ich weiß, dass dieser Moment kommen wird. Das kann ich in ihren Augen sehen.“ Sie machte eine Bewegung, als wollte sie die Klinge wieder in Bishops Körper stoßen. Ich dachte nicht mehr nach. Ich griff einfach an und packte mir ihren rechten Arm, um sie daran zu hindern. Ich hatte keine Nexus-Fähigkeiten, mit denen ich sie stoppen konnte, sondern nur den puren Willen, sie davon abzuhalten, Bishop zu verletzen.
Ich mochte nicht so stark sein wie ein hundertprozentiger Dämon, aber ich war schnell und drahtig, und ich verfolgte nur ein Ziel, während ich um sie herumsprang: sie dazu zu bringen, den Dolch fallen zu lassen. Das gelang mir schließlich mit einem Fußtritt, bei dem mein Schuh von der Klinge aufgeschnitten wurde. Der Dolch landete scheppernd auf dem Boden.
Natalie packte mich an meinem Shirt und zog mich zu sich heran. „Du bist eine schlechte Lügnerin, allerdings bist du so unbarmherzig wie ein Dämon. Vielleicht kommst du doch auf deinen Vater. Er wird sich freuen, das zu hören.“
Dann schlug sie mir so hart ins Gesicht, dass ich für einen Augenblick dachte, ich würde ohnmächtig. Mein Kopf schmerzte, und ich schmeckte Blut auf der Zunge. Der Schlag hatte mich von ihr fort auf die Erde geschleudert. Alles, was ich tun konnte, war, an die Decke zu starren und nach Luft zu schnappen. Das war nicht so leicht.
„Nein!“, schrie Bishop. „Samantha, lauf!“
Aber ich konnte nicht rennen. Ich konnte mich kaum bewegen.
„Ich wollte dich nicht verletzen“, fauchte mich Natalie an, während sie sich über mich beugte. „Aber ich werde es tun. Jetzt wirst du genau das tun, was ich dir sage, oder ich schneide den Engel vor deinen Augen langsam in Stücke, bis du einwilligst. Und dasselbe werde ich mit deiner Freundin und danach mit dir anstellen. Ich schwöre dir, dass du mir noch mit deinem letzten Atemzug helfen wirst, die Stadt zu verlassen.“
Sie trat mit dem Absatz ihres Stilettos auf meinen Hals und drückte mir die Luft ab. Ich keuchte vor Schmerzen und wurde von Panik ergriffen. Sie versuchte nicht, mich umzubringen sie wollte mich nur verletzen, damit ich sah, dass sie keine Spielchen mehr spielte.
„Ich werde dich umbringen!“ Bishops Stimme bebte vor Wut.
„Nein, das wirst du nicht. Du kannst kaum aufrecht stehen, Engel. Es ist vorbei – ich habe gewonnen.“
Sie hatte recht. Es war vorbei. Sie würde mich zwingen, zu tun, was sie wollte. Nach ihren furchtbaren Drohungen wusste ich, dass ich es machen würde, um Bishop zu retten. Und für Carly. Und schließlich auch für mich selbst. Es würde meine Schuld sein, dass die Welt vernichtet wurde.
„Ähm, Entschuldigung?“, sagte Carly.
Genervt stieß Natalie die Luft aus und sah die kurvige Blondine an, die jetzt neben ihr stand. „Was ist los?“
„Niemand darf meiner besten Freundin wehtun“, erklärte sie ruhig. „Noch nicht einmal du.“
Und dann versenkte Carly den Dolch tief in Natalies Brust.