1. KAPITEL

Das wird eine unglaubliche Nacht, Sam!“, schrie Carly über die Musik hinweg, die um uns herumdröhnte.

„Denkst du?“, brüllte ich zurück.

„Die beste Nacht aller Zeiten!“

Klar. Mein Hals tat jetzt schon weh, und wir waren nicht mal seit einer halben Stunde da. Bisher war es eine Freitagnacht wie jede andere im Crave, zusammengepfercht mit anderen verschwitzten Leuten auf der Tanzfläche. Versteht mich nicht falsch, für einen der wenigen Clubs ohne Altersbeschränkung hier in Trinity war das ein ziemlich cooler Ort zum Abhängen – es deutete nur nichts darauf hin, dass das hier irgendwie mein Leben verändern würde.

Jeder, der uns beide ansah, würde meinen, dass wir das genaue Gegenteil voneinander wären – sowohl was unser Aussehen als auch unsere Ansichten betraf. Carly Kessler war eine kurvige, flippige Blondine mit sonnigem Gemüt, während ich eine dünne, nicht so sonnige, langhaarige Brünette bin. Trotzdem waren wir schon immer beste Freundinnen und würden es immer sein.

Ein paar Minuten später griff Carly meinen Arm, und ihr Gesicht rötete sich vor Aufregung.

„Achtung. Stephen Keyes sieht zu dir rüber.“ Ich blickte über meine Schulter und entdeckte ihn am Rand der Tanzfläche. Er schaute tatsächlich zu mir her. Jedenfalls schien es so.

Ich drehte mich wieder um, und mein Herz schlug wie wild.

Jede hat diesen einen Schwarm, den Typen, an den sie ständig denken muss, obwohl es total hoffnungslos ist.

Meiner war Stephen Keyes. Er war neunzehn – zwei Jahre älter als ich – und unglaublich umwerfend, mit pechschwarzem Haar und karamellfarbenen Augen.

Wir waren im selben Viertel aufgewachsen – zwei Häuser voneinander entfernt. Im Sommer mähte er den Rasen, und ich beobachtete ihn von meinem Fenster aus.

Das war echt ein Klischee. Das seltsame, unbeliebte Mädchen, welches sich unsterblich in die sexy Sportskanone verknallt.

Ich hatte gedacht, Stephen sei eigentlich zweitausend Meilen entfernt auf der Universität in Kalifornien. Ich hatte sogar zugesehen, wie ihm seine Eltern dabei halfen, seinen Wagen zu beladen, als er Ende August die Stadt verließ, und fragte mich, warum er jetzt nach ein paar Monaten wieder da war.

Plötzlich stand er nicht mehr entfernt und gut aussehend an der Tanzfläche, sondern direkt neben mir. Carly schaute mich an, und ihre Augen weiteten sich, während Stephen sich weit genug zu mir herunterbeugte, damit ich ihn trotz der lärmenden Musik hören konnte.

„Kann ich mit dir reden?“, fragte er. „Mit mir?“

Er nickte und lächelte. Und ich, die Romantik in jeder Form – Filme, Bücher, wahres Leben – mied und ins Lächerliche zog, wurde schwach wegen eines Typen, in den ich verliebt war. Wann immer ich in der Vergangenheit jemanden gemocht hatte – was, Stephen nicht mit eingerechnet, nur zweimal passiert war –, kam nicht die große Liebe dabei raus. Die zwei anderen Jungs, in die ich verknallt gewesen war, mochten mich nicht, und ich endete beide Male unbeachtet, mit gebrochenem Herzen und erniedrigt. Das hatte mich jedoch nicht davon abgehalten, Stephen zu mögen.

Sehr.

Stephen wartete nicht auf meine Antwort. Stattdessen schlängelte er sich durch das Labyrinth der schwitzenden Tänzer hindurch.

Etwas Böses nähert sich hier.

Die Zeile aus Macbeth, unserer derzeitigen Englischlektüre in der Schule, ging mir durch den Sinn. Das Zitat passte perfekt zu Stephen. Er mochte der Junge von nebenan sein, doch für mich hatte er immer etwas Verruchtes.

Und etwas Gefährliches.

Ich tat nichts Gefährliches. Nicht mehr. Auch kleine Gefahren neigten dazu, große Probleme zu machen. Vor sechs Monaten war ich beim Ladendiebstahl erwischt worden. Das war meine bescheuerte Art, mit der Scheidung meiner Eltern klarzukommen. Aber zum Glück wurde ich deswegen nicht verhaftet. Ich hatte im großen Stil gelernt, dass man die Hände von gefährlichen Dingen lassen sollte, weil sie sonst abgeschlagen werden.

„Geh“, drängte Carly. „Das ist so genial!“ Sie war keine große Hilfe. Carly würde sich kopfüber in die Gefahr stürzen, wenn sie sich davon Spaß versprach. Als Kind hatte sie ihren Kopf einmal in einen Bienenstock gesteckt, da sie den Honig probieren wollte. Auch wenn das kein gutes Ende genommen hatte, bewunderte ich sie dafür … Na ja, es sich wenigstens getraut zu haben – trotz aller Warnzeichen. Sie stellte sich selbst nicht infrage. Außerdem bereute sie nichts, das sie versuchte – auch die verrückten Sachen.

Mit einem letzten Blick auf Carly folgte ich Stephen von der Tanzfläche runter. Ich war wahnsinnig neugierig, worüber er mit mir sprechen wollte. Ich meine, obwohl wir fast nebeneinander wohnten, kannte er mich kaum.

Er ging eine Wendeltreppe zu einer Lounge im zweiten Stock hinauf, die von einer klaren Glaswand mit gefrosteten kleinen Spiralmustern umgeben war. Hier oben, weg von der Masse, den DJs und den Lautsprechern, konnte ich auch wieder etwas hören. In der Lounge gab es einige Pooltische, rote Sofas und Stühle. Stephen lehnte sich gegen eins der Sofas und musterte mich.

Er trug ein einfaches schwarzes Shirt und schwarze Jeans.

Sein Haar war aus seinem schönen Gesicht gestrichen. Mein Bauch kribbelte.

„Also …“, begann ich, als er schwieg. „Kommst du öfters her?“

Oh Gott. Ich war eigentlich stolz auf meine Schlagfertigkeit und meine witzigen Sprüche, und das kam aus meinem Mund?

Ich wollte im Boden versinken.

Stephen grinste und zeigte dabei seine blendend weißen Zähne. „Ich bin neuerdings jeden Abend hier. Auch unter der Woche.“

„Jeden Abend? Wirklich?“ Ich spielte mit meinen Haaren. „Cool.“

Cool? Wirklich? Ich hatte das nicht gut im Griff. Mein Gehirn und meine Stimme arbeiteten nicht zusammen.

„Ähm, was tust du in Trinity?“, wollte ich wissen. „Ich dachte, du bist jetzt auf der Uni.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich nehme mir eine Pause, um herauszufinden, was ich mit meinem Leben anfangen will. Darum bin ich für ’ne Weile zurück.“

Ich nickte nur und versuchte sehr angestrengt, nicht wieder mit „cool“ zu antworten.

„Du bist jeden Freitag hier, Samantha, oder?“ Mir lief ein Schauer über den Rücken. Es war völlig okay, wenn mich meine Freunde Sam nannten, doch es gefiel mir, wie er meinen vollen Namen sagte.

„Eigentlich schon.“

„Gefällt es dir hier?“

Ich schaute mich um. Heute waren nicht viele Leute in der Lounge. Ich war zum ersten Mal hier oben. Ein Pärchen auf dem Sofa beobachtete uns, als würden sie sich fragen, warum Stephen Keyes mit mir sprach. Die meisten waren unten auf der Tanzfläche und im Barbereich, die man beide durch die Scheiben sehen konnte. Von meinem Platz aus konnte ich sogar Carlys blonden Lockenkopf erspähen.

„Ja, das ist okay hier.“

„Nur okay?“

Ich zuckte die Achseln und presste meine trockenen Lippen aufeinander, während ich mich zu ihm wandte. Mein Lipgloss war schon lange verschwunden. „Einige Abende sind besser als andere.“

Stephen streckte mir seine Hand entgegen. „Komm her.“ Wenn es bei ihm nicht wie eine charmante Einladung geklungen hätte, wäre ich vielleicht in der Lage gewesen, ihm zu widerstehen. Aber ich ging näher an ihn heran, bis ich nur noch wenige Schritte entfernt vor ihm stand. Da war etwas Seltsames in seinem Blick, als er mich eindringlich anschaute. Ich konnte es nicht genau benennen, dennoch durchlief mich ein eisiger Schauer.

Ich räusperte mich. „Du hast gemeint, du willst mit mir über etwas reden?“

„Du bist also die eine Besondere, oder nicht?“

Das waren die letzten Worte, die ich von ihm erwartet hatte. „Besondere?“

„Das ist es, was sie gesagt hat. Darum will sie, dass ich das tue. Normalerweise würde ich es lassen, weil du noch so jung bist.“

Sie? Wer war sie? Ich betrachtete ihn missbilligend. „Ich bin siebzehn.“

„Genau. Das ist jung“, erwiderte er. „Nein, ist es nicht.“

„Vertrau mir, Samantha. Das ist es.“

Er legte seinen Arm um meine Taille, sodass seine Hand auf meinem Rücken lag, und zog mich zu sich heran. Seine Berührung durchdrang mich und fühlte sich auf meiner heißen Haut kühl an. „Wer hat erzählt, ich sei etwas Besonderes?“

Er antwortete nicht. Sowie ich ihn ansah, bemerkte ich, dass er sich näher zu mir hinbeugte, näher und näher, bis seine Lippen meine berührten. Ich keuchte, und er wich etwas zurück.

„Ist das in Ordnung?“, fragte er. „Darf ich dich küssen?“

Meine Wangen färbten sich rot. „Ich … ähm …“

Er sprach sanft in mein Ohr. „Ich sollte dich warnen. Es ist ein sehr gefährlicher Kuss. Er wird dein Leben für immer verändern, also musst du ihn auch wollen.“

Wenn ich nicht so durcheinander gewesen wäre, hätte ich ihn für arrogant gehalten. Ich meine, bitte! Ein Kuss, der mein Leben für immer verändern könnte?

Allerdings glaubte ich ihm irgendwie. Und nach Monaten, in denen ich mich bemüht hatte, nach der Ladendiebstahl-Episode ein perfekter Engel zu sein, wollte ich meine mir selbst auferlegten Grenzen ein bisschen erweitern.

Außerdem war das hier etwas Besonderes – ein Junge, den ich mochte und der mich auch mochte. Ich konnte nicht einfach fortgehen.

Diesmal küsste ich ihn, schob meine Finger in sein schwarzes Haar und dirigierte seinen Mund zu meinem, als könnte ich Stephen nicht widerstehen.

Ich hatte noch nicht viele Jungs geküsst, also hoffte ich es richtig zu machen. Es fühlte sich richtig an. Genau genommen fühlte es sich sehr richtig an. Meine Lippen teilten sich, sobald der Kuss sich vertiefte. Seine Finger gruben sich in meine Taille. Das hier kam mir vor wie in einem Film – einer von diesen romantischen, die ich mir nie anschaute, weil sie mir Unbehagen bereiteten. Ich wollte mich nicht mit all diesen Gefühlen auseinandersetzen, diesen Liebesschwüren und ewiger Hingabe. Ich meine – verschont mich mit dem Drama.

„Du bist köstlich“, flüsterte Stephen, bevor er seinen Mund wieder auf meinen presste, und mein Herz fühlte sich an, als würde es gleich aus der Brust springen.

Und dann wurde es seltsam.

Das kühle Gefühl seiner Berührung wurde eisig und ergriff von dem Kuss Besitz. Ich zitterte. Die Kälte glitt meine Kehle hinunter zu meinem Magen und breitete sich in meinen Armen und Beinen aus. Mein ganzer Körper wurde kalt. Auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Schwindel überkam mich. Das war schräg, dennoch fühlte es sich nicht schlecht an. Es war aufregend, ein Rausch, als säße man mitten im Winter in einer Achterbahn.

Ich verlor jedes Zeitgefühl. Für mich existierte nichts als Stephen. Seine Lippen lösten sich nicht von meinen – und ich wollte nicht, dass dieser Kuss endete.

Minuten, Stunden – ich wusste nicht, wie lange er mich geküsst hatte. Ich wusste nur, dass ich nicht aufhören konnte, ihn zu küssen, auch wenn ich es gewollt hätte.

Doch schließlich unterbrach er den Kuss. Er hielt mein Gesicht zwischen seinen Händen und starrte mich einen bedeutsamen Moment lang an. Seine Augen sahen in den Schatten hier oben sehr dunkel aus. „Tut mir leid, Kleines. Wirklich.“

Dann ließ er mich los und drehte sich um.

Kleines?

Die Zeit verging in Zeitlupe, während er die Treppe hinunterstieg und verschwand. Die Musik wurde zu einem hohlen Echo in meinen Ohren. Mein Gesicht brannte, auch wenn sich mein Brustkorb jetzt wie ein Eisklotz anfühlte.

Der Geruch von Schweiß und Parfum holte mich langsam aus meiner Benommenheit zurück. Links konnte ich die mehrfarbigen Lichter über der Tanzfläche erkennen. Sogar hier oben wurde der Boden vom Trampeln der Menge da unten erschüttert.

Carly tauchte am Absatz der Treppe auf und kam näher, unterdessen schaute sie unentwegt in die Richtung, in die Stephen abgehauen war. „Sam! Was ist passiert?“

Ich versuchte, meine Stimme wiederzufinden. „Stephen Keyes hat mich geküsst.“

Ihre Augen weiteten sich. „Oh mein Gott! Du hast so ein Glück!“

Er hatte mich geküsst. Und dann hatte er mich „Kleines“ genannt und war gegangen.

„Glück“, wiederholte ich. Dann drehte sich alles um mich herum, meine Knie gaben nach, und alles wurde schwarz.