13. KAPITEL

Moment mal. Hatte er gerade gesagt, Bishop sei sein Bruder? Sein Bruder??

Ich stand in der Auffahrt und sah die leere Straße entlang, auf der Kraven gerade verschwunden war. Ich war schockiert. Das war unmöglich. Und dennoch – irgendetwas hatte ich zwischen den beiden gespürt. Etwas, das tiefer ging als die Abneigung, die ein Engel und ein Dämon, welche gezwungen waren, für eine Weile zusammenzuarbeiten, gegeneinander hegten. Bishop und Kraven waren einmal menschlich gewesen. Und sie waren Brüder.

Ja, definitiv ein Schock. Das war gewaltig. Zu gewaltig. Bishop hatte es mir nicht erzählt. Aber er wusste es – es war nicht so, als hätte er es vergessen. Sowie er Kraven in der Gasse entdeckt hatte, das hatte ich gespürt. Es war nur ein kleines Zögern bei ihm gewesen. Wie lange mochten sie sich schon nicht mehr gesehen haben? Wie wurde der eine Bruder zum Engel und der andere zum Dämon?

Das war keine besonders herzliche Familienzusammenführung gewesen. Unter der Oberfläche gab es böses Blut. Brüder. Wow. Das hatte ich nicht geahnt. Ich meine, sie sahen einander noch nicht mal besonders ähnlich. Dieselbe Statur und Größe, beide umwerfend, aber vollkommen verschiedene Haar- und Augenfarben. Dennoch waren sie Brüder.

Ich verließ die dunkle Straße und ging zur Vordertür. Meine Mutter ging die Post durch, als ich das Haus betrat. Sie strahlte mich an, während ich die Türe hinter mir schloss und verriegelte. „Er ist sehr süß“, sagte sie. „Trefft ihr euch schon länger?“

Ich verzog das Gesicht. „Er ist nur ein Freund.“

„Im Moment vielleicht schon. Aber Jungs bringen Mädchen nicht ohne Grund nach Hause. Vertrau mir.“ Damit hatte sie recht. Unglücklicherweise war der Grund allerdings in diesem Fall, mich in einem Stück abzuliefern, weil ein aufgebrachter Dämon mir das Genick wie einen trockenen Ast gebrochen hatte. Ich schauderte und griff mir unwillkürlich an die Kehle, obwohl ich keine Schmerzen mehr hatte. Noch nicht einmal blaue Flecken.

„Ich erinnere mich noch an meinen ersten ernsthaften Freund“, erzählte sie wehmütig, ohne meinen niedergeschlagenen Gesichtsausdruck zu bemerken. „Der Kapitän des Footballteams, unglaublicherweise. Ich war total verrückt nach ihm. Damals an der Highschool waren Dates und die Zeit mit meinen Freunden das Wichtigste für mich. Du bist in letzter Zeit so ehrgeizig bei deinen Noten – worüber ich mich keinesfalls beschweren möchte –, doch ich glaube nicht, dass du viel Zeit für Jungs hattest.“

Ich hörte ihr kaum zu und dachte noch immer an all das, was Kraven mir vor ein paar Minuten erzählt hatte. „Bin ich adoptiert?“ Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass sie nicht geantwortet hatte. Sie starrte mich nur überrascht an.

„Was hast du gesagt?“, fragte sie schließlich. „Adoptiert?“

Als sie es laut aussprach, bemerkte ich, wie lächerlich es klang. Ich wünschte, dass ich gar nichts gesagt hätte. „Vergiss es, es ist nichts.“

„Was um Himmels willen hat dich auf diese Idee gebracht?“

„Kraven – er hat gemeint, wir sähen uns überhaupt nicht ähnlich, und wenn ich darüber nachdenke, hat er irgendwie recht. Du bist blond, genau wie Dad, obwohl er etwas dunklere Haare hat. Aber halt nicht so dunkel wie ich.“

Bishop und Kraven hatten verschiedene Haarfarben, dennoch waren sie verwandt. Das musste das Gleiche sein. Ich hätte es sofort wieder vergessen, wenn da nicht der schockierte Gesichtsausdruck meiner Mutter gewesen wäre. Sie war vollkommen sprachlos. „Also, bin ich?“ Plötzlich fühlte ich mich irgendwie krank. „So etwas würdest du mir doch sagen, oder?“

Schließlich hatte sie sich wieder im Griff und glättete ihr Haar mit den Händen. „Natürlich würde ich das, Samantha. Du hättest das Recht, so etwas Wichtiges zu erfahren.“

„Na dann, okay …“

Da sie Kravens Verdacht nicht wirklich entkräftet hatte, war ich noch immer nicht beruhigt. Sie hatte gezögert, als ich sie gefragt hatte, ob ich adoptiert sei, etwas, das mir in den letzten siebzehn Jahren nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen war. Wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein. Immerhin hatte ich einen ziemlich harten Tag hinter mir.

In dieser Nacht schlief ich kaum. Stattdessen blieb ich wach und starrte die gruseligen Formen an, die von den Schatten an meine Decke geworfen wurden, und malte mir das „Worst-Case-Szenario“ aus. Nicht wirklich ein Spaß um drei Uhr morgens. Mein Wecker konnte gar nicht früh genug klingeln. Als er es schließlich tat, fragte ich mich, ob ich tatsächlich in die Schule gehen sollte. Für einen Augenblick wäre ich lieber zu Hause geblieben und hätte mich versteckt, so wie Kraven es vorgeschlagen hatte. Aber genau dieser Gedanke trieb mich schließlich aus dem Bett und zur Schule. Sich zu verstecken war etwas für Leute, die darauf warteten, von anderen gerettet zu werden. So war ich nicht. Ich würde meinen Problemen entgegentreten.

Also, was ich meine, ist … Ich würde das eigentlich lieber nicht tun, trotzdem war ich bereit dazu, wenn ich es müsste. Sobald er sein Team im Griff und die Quelle der Gray gefunden hatte, würde er mir wie versprochen helfen. Ich fragte mich, ob ich ihn danach je wiedersehen würde. Nachdem er in den Himmel zurückgekehrt war und wir beide wieder unser normales Leben führten. Vielleicht würde er mich vergessen. Ich glaubte nicht, dass ich ihn je vergessen würde. Der Gedanke daran zog mir das Herz zusammen.

So lange würde ich mich darauf konzentrieren, normal zu sein. Falls ich das nicht täte, wäre nach der ganzen Sache hier zu viel Schaden wiedergutzumachen. Nachdem ich in der letzten Zeit so viel gegessen hatte, wunderte ich mich, dass die Waage sogar ein Pfund weniger anzeigte. Carly würde das gar nicht gefallen. Ich denke, sie hätte es fair gefunden, dass ich einiges an Gewicht zulegte nach den Mengen, die ich in mich hineingestopft hatte.

Oh verdammt, Carly. Ich hatte letzte Nacht vergessen, sie anzurufen, um mich zu vergewissern, dass sie heil nach Hause gekommen war, und ihr damit die zensierte Variante dessen, was mit Stephen passiert war, zu erzählen. Sie würde mich umbringen.

Ich checkte mein Handy, während ich in der Schule auf dem Linoleumboden bei unseren Schränken saß, aber es funktionierte immer noch nicht. Der Akku schien immer nur für ein paar Minuten zu halten. Also hatte ich keine Ahnung, ob sie angerufen oder getextet hatte, weil sie wütend war, dass ich sie gestern hatte stehen lassen. Obwohl ich sie ja eigentlich gar nicht wirklich hatte stehen lassen. Die Dinge waren im Moment nur irgendwie kompliziert. Sie würde das verstehen. Wahrscheinlich.

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich schließlich, dass sie sich unseren Schränken näherte. Sie hatte ein breites Grinsen im Gesicht, was mich total überraschte, da sie nicht gerade ein Morgenmensch war.

Langsam stand ich auf. „Du siehst heute sehr glücklich aus“, bemerkte ich vorsichtig.

„Ich bin heute sehr glücklich.“

Wenn sie glücklich war, dann war ich es auch. Nicht ganz, doch ich tat mein Bestes. „Tut mir leid, dass ich dich gestern Abend nicht angerufen habe.“

Das trübte ihr Lächeln etwas. Sie warf mir einen Seitenblick zu. „Ich nehme an, du warst beschäftigt. Hattest du Spaß mit … wie war noch gleich sein Name? Bishop?“

„Klar. Spaß. Den hatte ich.“ Ich schnappte mir meine Bücher und schloss den Schrank. „Du willst wahrscheinlich alles darüber wissen … und über Stephen.“

„Wir reden später“, meinte sie. „Versprochen. Tschüss!“ Und das war’s. Sie ging zum Kunstunterricht. Dass sie nach allem, was gestern Abend geschehen war, nicht sauer auf mich war, hätte mich beruhigen sollen. Ein Problem weniger. Aber aus irgendeinem Grund fühlte sich ihre gute Stimmung nicht echt an. Wir waren seit meinem fünften Lebensjahr beste Freundinnen, und ich konnte die echte Carly von der unechten unterscheiden. Mit dieser Carly hier stimmte etwas nicht. Na prima. Sie war wütend auf mich und versuchte es zu verbergen. Mein Pech! Vielleicht hätte ich heute zu Hause bleiben sollen. Und morgen. Und das ganze letzte Schuljahr.

Aber ich folgte dem Rat von Bishop und schlurfte den Flur entlang zum Englischunterricht. Es dauerte nicht lange, bis mich jemand einholte, und ich wusste, ohne hinzusehen, wer es war. Ein weiteres Problem, von dem ich keine Ahnung hatte, wie ich damit umgehen sollte.

„Du hast mir gestern nicht geantwortet“, sagte Colin.

Oh ja, gestern. Als ich ihn fast verschlungen hatte, weil mich mein Hunger dazu trieb. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte ich ihm einen falschen Eindruck vermittelt. Das konnte ich ihm nicht vorwerfen. Ich hätte genau denselben Eindruck bekommen, wenn ein Typ die Hände und Lippen nicht von mir lassen könnte.

Wir gingen mit einem Haufen anderer Leute durch den Gang, die sich in alle Richtungen verstreuten, als schließlich die Glocke läutete. Das Geräusch von zuschlagenden Schranktüren klang durch den Schulflur. „Wir sollten vielleicht reden“, sagte ich zu ihm und bemühte mich, mindestens einen halben Meter Abstand zwischen uns zu halten.

„Ich bin ganz deiner Meinung.“

Am besten sollte ich es schnell hinter mich bringen. Das Pflaster mit einem Ruck abreißen, damit es nicht allzu wehtat. „Aus uns beiden wird nichts werden“, meinte ich.

Sein Lächeln verschwand, und er wurde nur einige Schritte von unserem Klassenzimmer entfernt langsamer. Der Korridor war jetzt bis auf einige Nachzügler wie uns weitgehend leer.

Verdammt. Vielleicht hätte ich jetzt doch nicht davon anfangen sollen, denn jetzt konnte ich nicht vor ihm weglaufen. So kaltherzig war ich nicht.

„Du gibst uns noch nicht einmal eine Chance“, sagte er. „Ich habe es gestern gespürt, da ist etwas zwischen uns.“

Ich konnte ihm schlecht erklären, dass das daran lag, dass er mir zu nahe gekommen war und er damit meinen Hunger auf seine Seele erweckt hatte. Das würde er mir wohl kaum glauben. Ich achtete jetzt sehr genau darauf, ausreichend Abstand und Distanz zu den anderen zu wahren. Im Gang zwischen meinen Mitschülern hatte ich ständig Hunger, doch ich fiel über niemanden her, da die meisten Leute mir nicht zu sehr auf die Pelle rückten. Aber Colin wollte aus irgendeinem verrückten Grund viel mehr als eine Freundschaft und versuchte, mir näherzukommen. Genau das war das Problem. Zu nah, und mein Hunger drehte völlig durch.

Und gerade kam er mir zu nah. Es war nicht so, dass Colin nicht auch aus anderen Gründen anziehend auf mich wirkte. Er war sehr süß. Seit dem Sommer, in dem er Carly datete, war er sogar noch attraktiver geworden, auch wenn er mal einen Haarschnitt gebrauchen konnte. Plötzlich strich ich sein blondes Haar aus seiner Stirn, als hätte ich keinerlei Kontrolle darüber, was meine Hand tat. Ich schaute ihn gierig an.

Böse. Das war böse. Er war mir zu nahe gekommen. Jetzt war er nur noch einen Schritt entfernt, und ich fühlte mich wie benebelt. Und sein Geruch – nach Zimt und Apfelkuchen, warm und würzig – war nicht mehr zu ignorieren. Bishop roch sogar noch besser, aber der war nicht hier, und er hatte keine Seele zu verlieren. Colin schon.

Seine braunen Augen wurden noch dunkler, und er schlang einen Arm um meine Taille und drückte mich gegen eine Schrankreihe. „Sag mir nicht, dass du das nicht auch fühlst, Sam.“

„Das tue ich nicht.“ Ich klang außer Atem. So ein Hunger.

„Mir ist klar, dass du Carly nicht verletzen möchtest. Das verstehe ich. Aber gib mir doch einfach eine Chance.“

Ich schüttelte den Kopf. Zu nahe, viel zu nahe. „Ich kann das nicht tun.“

Er ließ sich nicht im Geringsten irritieren. „Ich will dich jetzt unbedingt küssen.“

„Ich auch.“

Warum hatte Bishop vorgeschlagen, ich solle zur Schule gehen, wo er doch wusste, was ich war und womit ich zu kämpfen hatte? Ich kam mir gerade kein bisschen normal vor. Alles, was ich spürte, war Heißhunger.

„Ich hatte recht.“ Er grinste. „Wir finden eine Lösung. Niemand wird verletzt, ich verspreche es.“ Und dann gab er mich plötzlich frei und schlüpfte ins Klassenzimmer. Der Nebel verschwand sofort aus meinem Kopf, und ich atmete tief durch. Niemand muss verletzt werden. Ich wünschte mir wirklich, dass er sich nicht irren würde.

Eines wusste ich jedoch mit Sicherheit: Obwohl wir mitten auf dem Gang in der Schule standen, hätte ich ihn eben fast geküsst, dabei kannte ich die fatalen Folgen nur zu gut. Vielleicht würde ich jeden küssen, der eine Seele hatte und nur einen Schritt von mir entfernt stand. Ehe ich das Ganze nicht kontrollieren könnte, musste ich solche Situationen vermeiden.

Als ich die Klasse betreten wollte, bemerkte ich, dass mich jemand beobachtete. Es war meine rothaarige Erzfeindin Jordan.

„Was für eine Überraschung.“ Eine Falte zierte ihre Stirn. „Du machst dich in dieser Woche an alle Freunde von anderen Mädchen ran, oder? Wer hätte gedacht, dass du so ein Miststück bist?“

Ich hob meinen Mittelfinger und warf ihr einen eisigen Blick zu. Dann schob ich mich durch die Tür.

Während der ganzen Stunde spürte ich, wie Colin mich anstarrte, während ich versuchte, meinen unkontrollierbaren Hunger in den Griff zu bekommen. So viel zum Thema Normalität.

Ich hasste Dienstage.

Den ganzen Tag lang war es beinahe unmöglich, mich auf irgendetwas zu konzentrieren, allerdings kann ich auch nicht gerade behaupten, dass ich mich besonders bei dem Versuch angestrengt hätte. Dennoch musste ich meine Noten halten, damit ich einen Platz im College meiner Wahl bekommen würde. Wenn ich daran dachte, half es ein bisschen. Über die Jahre hatte ich begonnen, diese Stadt zu hassen, und sie zu verlassen war mein größtes Ziel. Auch schon bevor ich von einem übernatürlichen Schutzwall hier gefangen gehalten wurde. Ich würde es den Profis überlassen, die Balance im Universum zu sichern.

Beim Mittagessen entschied ich mich, zum Einzelgänger zu werden, und hielt mich von meinen verlockend riechenden Mitschülern fern. Ich stopfte mir das Schinkensandwich fast in einem Stück in den Mund. Leider konnte das meinen Hunger kaum stillen, aber es gelang mir, mich zu beherrschen und halbwegs normal zu wirken. So gesehen war das ein erfolgreicher Tag.

Ich sah weder Colin noch Carly bis zum Ende des Schultages. Wahrscheinlich mied sie mich. Stumpf blickte ich auf mein dunkles Handy-Display, während ich draußen auf der Treppe auf sie wartete. Meine Ledertasche presste ich an mich. Endlich verließ Carly das Schulgebäude. Als sie mich sah, kam sie auf direktem Weg auf mich zu und wirkte nicht annähernd so fröhlich wie heute Morgen. „Wir müssen reden.“

Okay. Ich hatte das ungute Gefühl, das Thema schon zu kennen. Die Labertasche Jordan hatte mitbekommen, wie ich heute Morgen nahezu über Colin hergefallen war. Hatte sie es allen erzählt? Ich würde sie umbringen. Aber zuerst musste ich mit Carly ein sehr unangenehmes Gespräch darüber führen, dass ich meine Finger von ihrem Exfreund lassen solle.

„Es ist nicht das, was du glaubst“, begann ich, während wir die Stufen hinuntergingen und genau den Weg nahmen, auf dem ich gestern Morgen Kraven gefolgt war. Trockene Blätter raschelten unter unseren Füßen. Carly blickte mich an. „Wovon redest du?“ Sie sah tatsächlich verwirrt aus, also atmete ich tief durch, bevor ich völlig unnötig irgendetwas zugab. „Okay, worüber wolltest du sprechen? Oh, warte – ich weiß. Ich habe gesagt, wir reden über Bishop und Stephen. Darum geht es, oder?“

„Du benimmst dich heute seltsam.“

Ich warf meinen Rucksack über die Schulter und bemerkte, dass ich wie eine wirr redende Wahnsinnige klang. „Ja, ich bin seltsam. Das war dir aber schon klar.“

„Ja, aber das ist sogar für dich extrem. Es ist dieser Typ, oder? Bishop. Er macht dich total verrückt.“

Das war eine interessante Wortwahl. Der Parkplatz lag vor uns, und ich konnte Carlys roten Wagen dort sehen. „Das könnte man so sagen.“

Sie zog eine dunkle Sonnenbrille aus ihrer Tasche und setzte sie auf. „Wer ist er, und wo geht er zur Schule?“

„Er … geht gerade nicht zur Schule.“

Sie hüpfte den Bordstein hinauf und setzte sich auf die Kante. Um uns herum stiegen Leute in ihre Autos und verließen den Parkplatz. Ich versuchte, mich voll und ganz auf Carly zu konzentrieren und ihre Fragen zu meinem Engel zu beantworten.

„Wie hast du ihn kennengelernt?“, löcherte sie mich weiter. „Erst letzte Nacht im Crave oder woanders?“

Gefährliches Thema. Ich spielte nervös mit meinen Haaren. „Ich habe ihn Sonntagabend nach dem Kino auf dem Heimweg getroffen. Wir haben uns gleich gut verstanden.“

„Datest du ihn?“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und nahm mir vor, meine Winterjacke früher als gewöhnlich aus dem Schrank zu holen. Vielleicht half das gegen meine Kälte. „Daten. Nein, so würde ich es nicht nennen.“

„Wie würdest du es denn dann nennen?“

Das hier führte zu nichts, vor allem weil ich ihr nicht die Wahrheit sagen konnte. „Wieso quetschst du mich so aus?“

Sie presste die Lippen aufeinander. „Ich finde, er sollte schon jemand ganz Besonderes sein, da du mich letzte Nacht seinetwegen hast stehen lassen.“

Da war es. Ihr strahlender Auftritt heute Morgen war nur Theater gewesen. Aber da war noch etwas. Sie erschien mir verändert. „Ich wusste, dass du darüber wütend warst, doch du kamst mir heute Morgen so glücklich vor.“

„Ich bin glücklich.“ Sie nahm ihre Autoschlüssel aus der Tasche, und ich hoffte, die Unterhaltung war damit zu Ende. „Ich möchte, dass du mir mehr von Bishop erzählst.“

„Er ist bloß so ein Typ.“ Außerdem ein wundervoller Engel, der mein Herz höher schlagen lässt als irgendjemand sonst, der Bruder eines Dämons und ein Teilzeit-Verrückter. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

„Nur so ein Typ“, wiederholte sie, als würde sie mir nicht glauben. Schließlich kannte sie mich ebenso gut wie ich sie, und ich war mir sicher, dass sie spürte, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte.

„Was ist das Problem?“, fragte ich. „Ernsthaft, was ist los? Geht es nur um das Sitzenlassen? Es tut mir leid! Das wird nicht wieder passieren. Du weißt nicht, wie es gewesen ist. Nachdem ich mir Stephen vorgeknöpft hatte …“

„Du warst nicht die Einzige, die sich gestern Nacht Stephen vorgeknöpft hat.“

Mir klappte die Kinnlade runter. „Bitte?“

„Ich war auch wütend auf ihn. Es gefällt mir nicht, wenn andere meine Freunde schlecht behandeln und ihre Gefühle verletzen. Ich wollte ihm die Meinung sagen.“

Mir lief es eiskalt den Rücken herunter, und das hatte nichts mit der Temperatur zu tun. „Bitte sag mir, dass du Witze machst.“

„Mir war klar, dass es dir nicht passen würde, aber ich musste es tun. Nachdem du gegangen warst, bin ich im Club geblieben, bis er nach unten kam. Dann hatte ich mit ihm ein kleines Gespräch.“

Ich biss mir so fest auf die Zunge, dass sie beinahe blutete. Das Auto neben Carlys fuhr jetzt ebenfalls vom Parkplatz. Mein Herz hämmerte inzwischen so laut, dass ich kaum noch denken konnte. „Das hättest du nicht machen sollen“, presste ich hervor, und mir wurde schwindelig. „Du weißt nicht … Oh mein Gott, Carly. Du hast keine Ahnung, was für eine schlechte Idee das war! Als er mich geküsst hat …“

„Er hat mich auch geküsst.“

Ich hörte einfach auf zu atmen und starrte sie nur entsetzt an. Das Blut wich aus meinem Gesicht. „Oh Carly, nein, bitte sag das nicht! Du hast keinen Schimmer davon, was das heißt. Er ist nicht einfach irgend so ein gut aussehender Typ. Wenn er dich geküsst hat, dann könnte es bedeuten, dass …“

„Es bedeutet, dass ich jetzt wie er bin“, erwiderte sie ruhig.

„Genau wie du. Ich weiß, er hat mir alles erzählt. Also, zuerst habe ich ihn angeschrien, weil er dich benutzt hat und dann einfach abgehauen ist. Nachdem er mich geküsst hatte, ergab alles plötzlich viel mehr Sinn. Also, nachdem ich aufgewacht bin. Genau wie du bin ich für einen Moment ohnmächtig geworden. Mich hat er auch zurückgelassen, aber dann kam er zurück.“ Sie runzelte die Stirn. „Du siehst aus, als würdest du dich gleich übergeben.“

Das hätte ich sicher auch getan, wenn ich nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre, nicht zu hyperventilieren. Das konnte nicht wirklich passieren. Das war ein Albtraum, und ich würde jeden Augenblick aufwachen. „Oh nein, Carly, bitte sag mir, dass du mich nur auf den Arm nimmst.“

Sie sah mich missbilligend an. „Es ist okay, Sam. Alles ist in Ordnung. Stephen hat mir erklärt, dass dir das Ganze noch schwerfällt und du nicht erkennst, wie großartig es ist. Aber es ist großartig. Wir sind jetzt etwas viel Besseres, fühlst du das nicht?“ Sie strich mit den Händen über ihre Hüften. „Ich fühle mich sogar leichter – wenigstens fünf Pfund. Ich frage mich, wie viel eine Seele wiegt …“

„Wie kannst du das sagen, so als sei es keine große Sache?“ Ich musste mich hinsetzen, sonst wäre ich umgekippt. Langsam kroch ich zum Bordstein und ließ mich schwer darauffallen. Der ganze Stress, den ich tagsüber bekämpft hatte, brach wieder über mich herein. „Ich werde ihn umbringen, weil er dir das angetan hat.“

Sie hockte sich neben mich und legte einen Arm um mich. „Nein, das wirst du nicht tun. Erst mal wirst du ein paarmal tief durchatmen. Es ist in Ordnung, Sam. Wirklich.“

Entsetzt starrte ich sie an. „Nein, ist es nicht! Und dass du so cool bist wegen des Kusses, obwohl du weißt, was das jetzt für dich bedeutet, treibt mich noch mehr in den Wahnsinn!“

Sie nahm meine Hand und drückte sie. „Schau mal, dieser Bishop hat dir lauter Lügen aufgetischt. Doch Stephen will nur dein Bestes, Sam. Er war besorgt, als du gestern gegangen bist, und er weiß, dass er die Sache falsch angegangen ist. Entspann dich einfach. Alles wird gut.“

Nein, das hier war in keiner Weise gut. Stephen hatte Carly geküsst. Er wusste, dass sie meine beste Freundin war, und er hatte sie aus Rache dafür, dass ich mit Bishop fortgegangen war, zu einer Gray gemacht. Ich versuchte die Ruhe zu bewahren. Ich konnte jetzt nicht zusammenbrechen. Ich hatte Carly davor schützen wollen, irgendetwas über diese Sache herauszufinden, aber jetzt war sie dennoch über die Wahrheit gestolpert. Es war allein meine Schuld, dass sie sich letzte Nacht im Club aufgehalten hatte, und dann war ich mit Bishop verschwunden – und hatte sie alleingelassen! Aber Bishop sagte, er könnte meine Seele retten, und wenn er das für mich tun konnte, dann könnte er auch Carly helfen. Ich würde das wieder in Ordnung bringen, es war noch nicht zu spät. Carly hatte sich unter Kontrolle und steckte diese verrückten Neuigkeiten gelassen weg. Jetzt war es raus, und wir konnten offen damit umgehen.

„Alles wird gut, Carly“, sagte ich schließlich und drückte ihre Hand.

„Natürlich ist es das. Also, wo ist Bishop? Wo kommt er her, und was will er?“

Die Antworten lagen mir schon auf der Zunge, doch ich hielt mich zurück. Sie war zu gierig nach diesen Informationen, zu drängend – wie eine Reporterin. Das war nicht ihre Art.

Ich würde wetten, dass Stephen ihr aufgetragen hatte, sie solle mich über Bishop ausfragen. Stephen war es gelungen, ihr einzureden, er wäre ein großer, düsterer und attraktiver Typ, der Mädchen half, sich von der Last ihrer Seele zu befreien. Im Augenblick hasste ich ihn mehr als jemals einen Menschen zuvor.

Trotz meiner finsteren Gedanken schaffte ich es, scheinbar gleichgültig mit den Schultern zu zucken. „Er ist nur irgend so ein Typ.“

„Okay, wenn du es sagst.“ Sie stand auf und zog mich hoch. „Wir beide werden heute Abend ins Crave gehen. Da wird jemand sein, der dich treffen möchte.“

„Wer?“ Es gefiel mir ganz und gar nicht, wieder den Club zu besuchen.

Sie runzelte die Stirn. „Ich weiß nur, dass sie wichtig ist.“

„Sie?“ Angst stieg in mir hoch. Vielleicht war sie die Quelle, nach der Bishop suchte.

Carly schaute mich besorgt an. „Das ist schon okay, weißt du.“

„Ist es das?“

„Natürlich!“ Carly schob die Sonnenbrille aus dem Gesicht, damit ich ihre Augen sehen konnte. Sie wirkten nicht benebelt oder glasig, sondern sie sah wirklich besorgt aus. Sie machte sich Sorgen um mich. Nichts an ihr deutete auf ein irres, Seelen verschlingendes Monster hin. Wenn ich so recht darüber nachdachte, hatte ich noch keine dieser durchgedrehten, zombiehaften Grays entdeckt, von denen Bishop mir berichtet hatte. Carly schien genauso rational und vernünftig zu sein wie ich. Sie rannte nicht herum und versuchte Leute zu küssen. „Vertraust du mir?“, fragte sie.

Darüber musste ich nicht lange nachdenken. „Natürlich tue ich das.“

„Mehr als irgendjemandem sonst?“

Ich nickte. Zwölf Jahre lang beste Freundinnen zu sein musste etwas bedeuten.

„Und du willst die volle Wahrheit darüber erfahren, was im Moment in dieser Stadt passiert?“

„Natürlich will ich das.“

„Das kannst du heute Abend kriegen. Stephen war beunruhigt , ich könnte dich nicht davon überzeugen, zurückzukommen. Ihm ist klar, dass er bei dir einen wirklich schlechten Eindruck hinterlassen hat. Ich glaube, er ist nicht halb so cool, wie er tut.“

„Das ist mir nicht neu.“

„Also los, komm heute Abend mit mir zurück ins Crave.“ Sie grinste. „Dienstags ist Chicken-Wings-zum-halben-Preis-Nacht.“

Ich seufzte und ignorierte meinen knurrenden Magen. „Das klingt verlockend.“

„Dachte ich mir. Dieser Hunger – es ist nicht so einfach, damit umzugehen, oder?“

„Fühlst du ihn auch?“

„Oh mein Gott, ja. Du hättest sehen sollen, was ich alles zum Mittag gegessen habe. Ich bin zu McDonald’s gegangen. Sie fahnden wahrscheinlich schon nach dem Mädchen, das vier McChicken und zwei große Portionen Pommes verdrückt hat.“

„Wow. Beeindruckend.“

Das Einzige, was mich dazu verleitete, heute Abend ins Crave zu gehen, war die Aussicht auf Antworten. Echte Antworten diesmal und nicht irgendwelche Scheinwahrheiten und glitzernde Verkaufsangebote von Stephen. Ich brauchte Bishop, um meine Seele zu retten, aber inzwischen konnte ich auch einige eigene Recherchen anstellen. Ich konnte ihm auch helfen, wenn mich meine Nachforschungen zu der Quelle führten.

„Na gut“, sagte ich schließlich. „Ich werde dich begleiten.“

Sie umarmte mich und schloss dann ihren Wagen auf. „Ich hole dich um acht Uhr ab. Mach dich ein bisschen hübsch, ich glaube, wir sollten heute Abend richtig scharf aussehen.“

Ich sah sie vorwurfsvoll an. „Wie, du lässt mich einfach so hier stehen? Du könntest mich zumindest nach Hause fahren.“

„Du wohnst drei Blocks von hier entfernt.“ „Ja und?“

Sie lachte. „Na gut, faules Stück. Steig ein.“

Beste Freundinnen bis zum bitteren Ende. Das war immer unsere Philosophie gewesen. Jetzt waren wir durch einen Kuss von Stephen Keyes beide seelenlos. Und außer unserem gestiegenen Bedürfnis nach Chicken Wings und Fast Food schien sich nichts geändert zu haben. Das war eine große Erleichterung.

Vielleicht hatte Bishop ja unrecht bezüglich der Grays. Vielleicht hatte er einfach nur ein paar schlechte Informationen bekommen und die ganze Mission war eine riesige Verschwendung von Zeit und Energie. Vielleicht würde unabhängig von der Tatsache, ob ich meine Seele zurückbekam oder nicht, alles gut werden.

Nein, ich glaubte nicht, dass es auch nur ansatzweise so einfach sein würde.

Das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass ich heute Abend ein paar Antworten erhalten würde. Ich wünschte mir nur, dass die Fragen nicht so verdammt gruselig wären.