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              Die Tribüne war ziemlich voll. Jeder Spieler hatte Freunde, Bekannte und Verwandte mobilisiert, damit das Match vor der richtigen Kulisse ablief. Das Spielfeld war noch leer. Erwartungsvolle Spannung erfüllte die Sporthalle. Waltraude hielt Adalberts kleine, handliche Videokamera, ein japanisches Produkt, bereit. Der Platz links neben ihr war frei. An ihrer rechten Seite saß Arnulf Ransmaier, ein Freund von Adalbert. Blass, schmal, rotblond, mit Brille. Er hätte eigentlich mitspielen sollen - im Tor -, war aber gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe. Angeblich war er kein schlechter Tormann, obwohl sich Waltraude das nur sehr schwer vorstellen konnte. Brach er nicht in der Mitte auseinander, wenn ein scharfer Schuss ihn traf? Arnulf erklärte ihr die Handhabung der Videokamera besser, als Adalbert es getan hatte. Er kannte sich mit allen elektronischen Geräten sehr gut aus.

              "Sein Haus ist vollgestopft mit Elektronik”, hatte Adalbert erst vor wenigen Minuten zu Waltraude gesagt. "Es gibt nichts, was er nicht besitzt. Das Beste ist für ihn gerade gut genug. Sündteure HiFi-Anlage, Sensorround-TV, Musikberieselung in allen Räumen, auch im Bad. Er hat einfach alles. Nur eines hat er nicht: eine Freundin. Im Ernst. Der arme Kerl war noch nie mit einem Mädchen zusammen. Er muss es sich immer selber machen.”

              "Wieso findet er kein Mädchen?” hatte Waltraude mit einem heimlichen Blick auf Arnulf Ransmaier, der in der Nähe gestanden hatte, gefragt. Ein Adonis war der junge Mann zwar nicht gerade, aber man konnte auch nicht behaupten, dass er hässlich war. Er war unscheinbar. Ja, unscheinbar, das war das richtige Wort.

              "Er greift immer nach den Sternen - und ist enttäuscht und deprimiert, wenn er sie nicht erreicht”, hatte Adalbert gesagt.

              "Was ist er von Beruf?”

              "Bankangestellter”, hatte Adalbert geantwortet.

              "Wie kann er sich mit dem Gehalt eines Bankangestellten ein Haus und all die teure Unterhaltungselektronik leisten?” hatte Waltraude verwundert gefragt.

              "Er wird von seinen Eltern gesponsert. Eigentlich sind es seine Großeltern. Aber er sagt Mutter und Vater zu ihnen.”

              "Und was ist mit seinen richtigen Eltern?”

              Adalbert hatte mit den Schultern gezuckt. "Über die hat er noch nie gesprochen.”

              "Vielleicht leben sie nicht mehr.”

              "Doch, sie leben”, hatte Adalbert bestimmt erwidert, "aber das ist das einzige, was ich definitiv über sie weiß.”

              Und nun saß Arnulf Ransmaier neben Waltraude und sprach über automatischen Weißabgleich, Zoom, Datumseinblendung, Autofocus, Review, Fader, Lux und dergleichen mehr, als hätte er das kleine elektronische Wunderding selbst gebaut.

              "Alles klar?” fragte er zum Schluss, und seine Augen blinzelten freundlich durch die Brille.

              "Auf jeden Fall weiß ich jetzt besser Bescheid als vorher”, gab Waltraude schmunzelnd zurück.

              Auf den freien Platz links neben Waltraude setzte sich ein großer, gutaussehender Bursche. Er trug spitze Lederstiefeletten, verwaschene Jeans und eine modern geschnittene hellbraune Lederjacke mit abnehmbaren Ärmeln. Sein streichholzlanges Haar war dicht und pechschwarz, und er grinste Waltraude mit blitzweißen, regelmäßigen Zähnen an.

              "Hallo”, sagte er, und ein frecher Ausdruck funkelte in seinen samtbraunen Augen. Wahrscheinlich vögelte er alles, was bei drei nicht auf dem Baum war.

              "Hallo”, gab Waltraude zurück. Irgendetwas war an diesem Typ…

              "Kennst du dich aus mit der Videokamera?”

              "Ich denke, ich komme damit klar.” Waltraude wog die leichte Kamera in der Hand.

              "Hat Arnulf dir alles haargenau erklärt?”

              Waltraude nickte. "Hat er.”

              "Fein. Ich bin übrigens Gregor Massinger. Und wie heißt du?”

              "Waltraude Pessacker.”

              "Waltraude, soso.” Gregor musterte sie angetan. "Ist ein schöner Name.” Er lächelte mit seinen blitzweißen, regelmäßigen Zähnen. "Schöner Name, schönes Mädchen. Ich habe dich mit Adalbert Siebenstern zusammen gesehen.”

              "Ja.”

              "Du bist mir sofort aufgefallen”, sagte Gregor Massinger.

              "Bist du ein Freund von Adalbert?”

              "Nein.” Gregor schürzte die Lippen und schüttelte langsam den Kopf. "Nein, ich glaube nicht, dass ich das bin. Adalbert und ich - wir haben irgendwie nicht die gleiche Wellenlänge, weißt du? Gehst du mit Adalbert?”

              "Ja”, antwortete Waltraude offen.

              "Habt ihr was miteinander?”

              Waltraude errötete. "Ich wüsste nicht, was dich das angeht”, sagte sie heiser.

              Gregor lachte. "Also ja.”

              Waltraudes Wangen wurden flammendrot. "Hör mal, was fällt dir ein…”

              Gregor hob die Arme, als wollte er sich ergeben. "Entschuldigung. Entschuldigung. Ich bin zu neugierig.”

              "Allerdings”, stieß Waltraude ärgerlich hervor.

              "Und zu direkt.”

              "Das auch.” Waltraudes Stimme bebte.

              Gregor hob die Schultern. "Aber wenn man keine Fragen stellt, bekommt man keine Antworten.”

              "Es gibt Fragen, die stellt man einfach nicht.”

              "Ich verspreche, mich zu bessern.” Gregor stand auf. "Viel Spaß noch.” Er ging zum anderen Ende der Tribüne, bewegte sich sehr geschmeidig und selbstbewusst.

              Arnulf Ransmaier sah ihm mit finsterem Blick nach. "Nimm dich vor dem in acht, Waltraude.”

              "Warum?”

              Arnulf rümpfte die Nase. "Der Typ ist nicht ganz sauber.”

              "Was meinst du mit ‘nicht ganz sauber’?”

              "Es heißt, er macht krumme Geschäfte”, sagte Arnulf und rückte seine Brille zurecht.

              "Womit?” wollte Waltraude wissen.

              "Mit allem, was Geld einbringt, und er soll einen ganz miesen Charakter haben. Besser, man streift nicht an ihn an.”

              Gregor sieht gut aus, ging es Waltraude durch den Sinn. Ob Arnulf ihm das neidet? Spricht er deshalb schlecht über Gregor Massinger? Sie sah zu Gregor hinüber. Es war ihr peinlich, dass sich ihre Blicke trafen. Gregor hob lächelnd die Hand und winkte ihr. Waltraude schaute rasch weg. Und dann kam der Einmarsch der Gladiatoren. Adalbert Siebenstern trug ein weißes T-Shirt, weiße Shorts und eine knallrote Schärpe, die diagonal von der rechten Schulter zur linken Hüfte verlief. Alle, die zu seiner Mannschaft gehörten, waren mit einer solchen Schärpe gekennzeichnet. Die Freizeitsportler wurden mit lauten Bravo-Rufen, gellenden Pfiffen und frenetischem Beifall empfangen. Sie nahmen in der Mitte des Spielfeldes Aufstellung und ließen sich grinsend bejubeln. Adalbert hatte den Lederball unter seinen linken Arm geklemmt. Jetzt ließ er ihn auf den Boden fallen, und die Kicker verteilten sich über die beiden Spielfeldhälften. Waltraude hielt das alles auf Magnetband fest. Die Anzeigetafel befand sich genau gegenüber. Sie filmte die Uhrzeit und den Spielstand: 0:0. Das Match begann, und Waltraude verfolgte einen Großteil des Spielverlaufs auf dem Farb-LCD-Schirm der Kamera.

              "Halt einfach drauf”, hatte ihr Adalbert geraten. "Ich schneide dann später die besten Passagen zu einem netten kleinen Erinnerungsfilm zusammen.”

              Arnulf Ransmaier hatte ihr empfohlen, so wenig wie möglich zu zoomen, und sie hielt sich an diesen Rat, damit die Aufnahmen nicht zu unruhig wurden. Das Filmen machte ihr Spaß, und sie war schon sehr auf das Ergebnis gespannt. Ab und zu fiel ihr auf, dass Gregor Massinger zu ihr herübersah. Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, tat aber so, als würde sie es nicht merken. Es schmeichelte ihr, so großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Aber er hatte natürlich nicht die geringste Chance bei ihr, denn sie liebte Adalbert Siebenstern. Wenn das allerdings nicht der Fall gewesen wäre…

              "Tooor!”

              Arme flogen hoch, Zuschauer sprangen jubelnd auf. Leider hatte Adalberts Mannschaft kein Tor geschossen, sondern eines bekommen, und die Fans der Gegner brüllten: "Zu-ga-be! Zu-ga-be! Zu-ga-be!”

              Zwei Minuten später schrien sich die Anhänger der Schärpenmannschaft die Kehle heiser, denn Adalbert hatte sein erstes Tor mit einem Bombenschuss aus vollem Lauf erzielt. Arnulf Ransmaier schnellte hoch und dirigierte sofort mit fuchtelnden Armen einen dröhnenden Sprechchor, dem sich auch Waltraude anschloss. "A-dal-bert! A-dal-bert! A-dal-bert!”

              So ging es weiter. Es fielen viele Tore, mal hier, mal dort, so dass die Fans beider Mannschaften immer wieder Grund zum Jubeln hatten. Es war ein sehr ausgeglichenes Match. Keine Mannschaft war der anderen besonders überlegen, und das machte das Spiel spannend und interessant, denn niemand konnte den Ausgang vorhersehen. Mit einem Spielstand von 7:7 gingen die Sportler in die Pause.

              "Hier”, sagte Gregor Massinger und drückte Waltraude eine eiskalte Coladose in die Hand. "Zur Stärkung.”

              "Danke.” Sie sah ihn an. Arnulf Ransmaier hätte ihn wohl gern auf dem Mond gesehen. "Zu wem hältst du eigentlich?” fragte Waltraude.

              "Zu den Typen mit der Schärpe, obwohl sie keinen Biss haben. Denen fehlt der richtige Motor. Ein Spielmacher, der keinen Zweikampf scheut, der sie unermüdlich nach vorn treibt. Jede Säuglingsmannschaft hätte in der ersten Spielhälfte mehr Durchschlagskraft als sie gehabt. Sie sollten endlich mal etwas gegen ihre Ladehemmung tun und mehr aufs gegnerische Tor schießen.”

              "Warum spielst du nicht mit, wenn du so gut Bescheid weißt?” fragte Waltraude.

              Gregor Massinger zog die Mundwinkel nach unten. "Ich mache mich mit dieser Dilettantentruppe doch nicht lächerlich. Was machst du nach dem Spiel?”

              Waltraude öffnete den Verschlus der Dose und trank mit gespitzten Lippen. "Ich weiß nicht, was Adalbert vorhat”, antwortete sie dann. "Wir werden hoffentlich den Sieg seiner Mannschaft feiern.”

              "Oder die Niederlage.”

              "Ist auch möglich.” Waltraude schmunzelte. "Hauptsache es wird gefeiert. Man muss das alles nicht so eng sehen. Ist ja bloß ein Spiel.”

              "Finde ich nicht. Wenn man etwas macht, egal, was, sollte man es immer richtig tun, mit vollem Einsatz, das ist meine Meinung. Was da unten in der ersten Spielhälfte ablief, war die armselige Darbietung zweier Rentner-Gangs.” Er kehrte an seinen Platz am anderen Ende der Tribüne zurück.

              "Gott, ist das ein elender Angeber”, stöhnte Arnulf Ransmaier. "Nicht auszuhalten, dieses prahlerische Geschwafel. Richtig schlecht kann einem davon werden.”

              Die Kicker kamen zurück, das Spiel ging weiter, und Waltraude filmte wieder. Vor allem Adalberts Zweikämpfe holte sie so nahe wie möglich heran, und sie fand, dass Gregor Massinger mit seiner Kritik nicht recht hatte, denn beide Mannschaften setzten sich mit großem Ehrgeiz ein. Vor allem Adalbert war emsig wie eine Biene und kämpfte verbissen um jeden Ball. Von wegen Säuglingsmannschaft. Von wegen Rentner-Gang. Soeben jagte Adalbert mit langen Sätzen dem gegnerischen Tor entgegen. Ein baumlanger Spieler stellte sich ihm in den Weg. Ein Felsen. Ein unüberwindbares Hindernis, an dem Adalbert nicht vorbeikam. Der Große ließ ihn auflaufen. Ihre Körper prallten heftig gegeneinander. Adalbert schlug ein Rad, landete mit dem Hinterkopf hart auf dem Boden und blieb liegen. Die Zuschauer standen auf. Gespannte, besorgte Gesichter. Niemand sagte etwas. Waltraude ließ die laufende Kamera sinken. Sie hatte vergessen, sie abzuschalten.

              Ihr Herz klopfte aufgeregt. "Mein Gott, Arnulf, was ist mit Adalbert?” presste sie heiser hervor. "Wieso steht er nicht auf?”

              Der Spieler, der sich Adalbert entgegengestellt hatte, sah betroffen aus. Das hatte er nicht gewollt. Verstört schaute er auf Adalbert, der mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag und kein Lebenszeichen erkennen ließ.

              Waltraude drückte Arnulf die Videokamera in die Hand. "Hier. Nimm. Ich muss zu Adalbert!”

              Arnulf Ransmaier schaltete die Kamera ab. Waltraude überkletterte die Bande. Inzwischen standen alle ratlos um Adalbert herum. Der Spieler, der Adalbert so unsanft "gelegt” hatte, versuchte ihn mit sanften Schlägen auf die Wangen zu sich zu bringen.

              Jemand sagte: "Er braucht einen Arzt.”

              Ein anderer rief zur Tribüne hinüber: "Einen Krankenwagen! Ruft einen Krankenwagen!”

              Waltraude kämpfte sich zu Adalbert durch. Sein Gesicht war wächsern. Waltraude warf sich neben Adalbert auf die Knie, griff nach seinen Schultern und schüttelte ihn.

              "Adalbert! Adalbert!” Er reagierte nicht. Waltraude hob den Kopf und sah mit tränenfeuchten Augen in die ratlosen Gesichter der Umstehenden. "Tut etwas! Verdammt noch mal, so tut doch endlich etwas!”