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Abgespannt verließ Schwester Claudette den Operationssaal. Welch ein Beruf, dachte sie und gähnte verhalten. Die ganze Welt amüsiert sich, feiert den Jahreswechsel mit Pomp und Trara, und ich helfe hier, jene, die es ein bisschen übertrieben haben, wieder zusammenzuflicken. Bereits lange vor Mitternacht hatte in der Notaufnahme Hochbetrieb geherrscht. Eine junge Frau, die von ihrem Lebenspartner verlassen worden war, hatte das neue Jahr nicht erleben wollen und sich aus diesem Grund die Pulsadern aufgeschnitten. Nachbarn hatten sie gefunden und im eigenen Wagen in die Kronwasser-Klinik gebracht… Eine Meinungsverschiedenheit im Gastarbeitermilieu hatte zu wüsten Handgreiflichkeiten geführt - Endstation war für die Hitzköpfe dann die Kronwasser-Klinik gewesen… Unfälle mit Feuer, Gas und Strom… Verletzungen durch Messer, Gabeln, Scheren, Haushaltsgeräte und Feuerwerkskörper… Alkoholvergiftungen… Verbrennungen… Verbrühungen… Unvernunft und Unvorsichtigkeit hatten in dieser großen Winternacht mal wieder Hochkonjunktur. Am schlimmsten hatte es die junge Mutter getroffen, die soeben aus dem Operationssaal gebracht worden war. Sie war im siebenten Monat schwanger gewesen. Die Silvesternacht bei guten Freunden hatte Benita Sommerfeldt - so hieß die Frau - bewusst solide verbracht. Keine Zigaretten, kein Alkohol. Auch Rüdiger Sommerfeldt, ihr Mann, hatte nur ein Glas Bowle und um Mitternacht ein halbes Glas Sekt getrunken. Um die werdende Mutter nicht zu sehr zu strapazieren, hatte Herr Sommerfeldt sie um zwei Uhr nach Hause bringen wollen, aber anstatt nach zwanzig Minuten zu Hause anzukommen, war das Ehepaar schwerverletzt in der Kronwasser-Klinik gelandet. Ein alkoholisierter Autorowdy hatte sie seitlich gerammt und war selbst - das Leben kann manchmal sehr ungerecht sein - unverletzt geblieben. Offener Unterschenkelbruch, Schulterluxation, schwerer Schock - das hatte die Untersuchung von Rüdiger Sommerfeldt ergeben. Bei seiner Frau hatte man ein Schädeltrauma und schwere innere Blutungen festgestellt. Es hatte Lebensgefahr für Mutter und Kind bestanden. Dr. Bertrand Wolling, Chefarzt der Chirurgie, hatte das Baby mittels Kaiserschnitt holen müssen. Es lag nun im Brutkasten, und es war noch nicht sicher, ob es durchkommen würde. Die inneren Blutungen der Mutter hatte Dr. Wolling während einer einstündigen Operation, die vollste Konzentration erfordert hatte, stoppen können. Benita Sommerfeldt hatte sehr viel Blut verloren und etliche Konserven transfundiert bekommen. Nun war sie außer Lebensgefahr, und man würde sie auf der Intensivstation aufmerksam beobachten und ihr jegliche medizinische Behandlung angedeihen lassen, die möglich war.
"Schwester Claudette!”
Die OP-Schwester drehte sich um. Sie war eine schlanke, mittelgroße, gepflegte Frau, blond wie ihre Tochter, und man sah ihr ihre vierzig Jahre selbst nach einer so langen, kräfteraubenden Nachtarbeit nicht an.
"Alles in Ordnung?” erkundigte sich Dr. Wolling.
Claudette Pessacker nickte. "Ja.”
"Sie haben sehr gute Arbeit geleistet”, sagte Dr. Wolling anerkennend.
"Das wird im Allgemeinen von einer OP-Schwester verlangt.”
"Müde?” fragte Dr. Wolling.
"Ein bisschen”, gab Schwester Claudette ehrlich zu.
"Es ist Ihr dritter Nachtdienst in dieser Woche.”
Claudette lächelte. "Ich habe eine Top-Kondition.”
"Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?”
Sie sah den Chirurgen erstaunt an. "Wie kommen Sie dazu?”
"Ich möchte, dass mir jemand Gesellschaft leistet.”
Sie tranken den Kaffee in Dr. Wollings Büro.
"Was hätten Sie gemacht, wenn Sie nicht hätten einspringen müssen?” erkundigte sich der Chefarzt.
"Ich hätte mit meiner Tochter Silvester gefeiert.”
"Sitzt sie jetzt allein zu Hause?” fragte Dr. Wolling.
"O nein. Ein junger Mann hat sie zu einer Riesenfete abgeholt.”
Dr. Wolling nahm einen Schluck vom Kaffee. "Wie heißt Ihre Tochter?”
"Waltraude”, antwortete Schwester Claudette.
"Wie alt ist sie?”
"Einundzwanzig”, sagte die OP-Schwester.
Dr. Wolling staunte. "Das gibt es nicht.” Er schüttelte ungläubig den Kopf.
Schwester Claudette lachte. "Wieso nicht?”
"Sie können doch nicht schon eine einundzwanzigjährige Tochter haben.”
"Doch”, sagte Schwester Claudette amüsiert.
"Es fällt mir schwer, das zu glauben.”
"Vielen Dank.” Die Worte des Chirurgen schmeichelten der OP-Schwester.
"Haben Sie ein gutes Mutter-Tochter-Verhältnis?” forschte Dr. Wolling weiter.
"Ich denke schon. Ich versuche nicht nur Waltraudes Mutter, sondern auch ihre Freundin zu sein. Zumeist gelingt mir das auch. Waltraude weiht mich fast in all ihre Probleme ein. Es kommt nur ganz selten vor, dass sie mich in irgendeiner Angelegenheit nicht ins Vertrauen zieht.”
"Was werden Sie tun, wenn Ihre Tochter auch so früh Mutter wird, wie Sie es geworden sind?”
Schwester Claudette lächelte. "Ich werde mich freuen.”
"Es würde Ihnen nichts ausmachen?”
Schwester Claudette schüttelte den Kopf. "Nicht das Geringste. Mir ist nur eines wichtig: dass Waltraude glücklich ist.”
Dr. Wolling leerte seine Kaffeetasse. "Wissen Sie, wem es zurzeit besser geht als uns? Unserem Chef Dr. Emmerson. Er macht mit seiner Familie Urlaub im schönen Gerlos, macht Langlauf, geht spazieren, erholt sich prächtig und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein.”
"Er hatte diesen Urlaub schon sehr nötig. Vor allem über die Weihnachtsfeiertage war er ja fast pausenlos im Einsatz.”
Dr. Wolling hatte gehofft, in dieser anstrengenden Nacht nicht mehr operieren zu müssen, aber dann wurde ein junger Mann mit schweren inneren Verletzungen eingeliefert, und der Chirurg und die OP-Schwester mussten noch mal in den Operationssaal.
"Rauschgift”, sagte Dr. Peter Eibesfeld knapp. "Der Junge bildete sich plötzlich ein, er könne fliegen, und sprang im dritten Stock vom Balkon. Hohe, verfilzte Büsche haben seinen Aufprall etwas gemildert, sonst hätte man ihn uns nicht mehr zu bringen brauchen.”
Rauschgift… Schwester Claudette fröstelte. Heute kommt man viel zu leicht an Drogen, dachte sie. Und die gewissenlosen Dealer machen sich schon auf dem Schulhof an die Kinder heran, um ihren Kundenstock zu vergrößern. Eltern, deren Kinder nie mit Suchtmitteln in Berührung kommen, können sich glücklich preisen… Sie wusch ihre Hände mit antiseptischer Seife, und wenig später stand sie hinter Dr. Wolling und Dr. Eibesfeld und reichte ihnen das sterile Besteck, nach dem sie verlangten.