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Sonntag. Abreisetag von den van Geests. Abschied von den Emmersons, Abschied von Gerlos. "Wir bleiben in Verbindung”, sagte Piet.
"Sobald die Fotos ausgearbeitet sind, die wir von euch gemacht haben, schicken wir sie euch”, versprach Hadubrand Emmerson.
"Solltet ihr in diesem Jahr mal nach Rotterdam kommen, müsst ihr uns unbedingt besuchen.”
"Dasselbe gilt für euch”, erwiderte Hadubrand. "Wenn ihr nach München kommt - unbedingt vorher anrufen, damit wir uns für euch Zeit nehmen können. Ihr könnt selbstverständlich bei uns wohnen.”
Meitje van Geest küsste Laetitia auf die Wangen. Dreimal. In Holland küsst man dreimal. Sie küsste auch Hadubrand. Ebenfalls dreimal. "Wir schreiben euch”, versprach sie.
"War nett - die Zeit mit euch”, sagte Hadubrand. Er half Piet, das Gepäck zum Wagen zu tragen - und dann kam der große Schock: der Holländer fand die Autoschlüssel nicht. Hektisches Suchen. Zurück ins Hotel. Hinauf ins Zimmer. Die Mädchen waren bereits damit beschäftigt, die Betten frisch zu beziehen. Piet van Geest sah mit wachsender Unruhe in alle Schränke und Laden. Nichts. Blieb nichts anderes übrig, als das ganze Gepäck nach den Schlüsseln zu durchstöbern. Im Tischtennisraum des Hotels öffneten die Holländer ihre beiden Koffer. Meitje van Geest kehrte das Unterste zuoberst. Nichts. Meitje nahm sich die Reisetasche vor.
"Du musst die Schlüssel verloren haben”, sagte sie zu ihrem Mann. Es war kein Vorwurf, sondern nur eine Feststellung.
Als solche fasste Piet es auch auf. "Aber wann?” fragte er niedergeschlagen. "Und wo?”
"Hattest du sie gestern bei dir?”
"Ich glaube schon”, sagte Piet, "ich bin nicht sicher.”
"Wenn du sie auf dem Weg zur Lacknalm verloren hast, kommen sie - wenn überhaupt - erst bei der Schneeschmelze wieder zum Vorschein.”
"Und dann kommt eine Kuh und deckt sie mit einem dicken Fladen wieder zu", grollte Piet.
Laetitia Emmerson und ihr Mann standen dabei und konnten nicht helfen. Die Holländer durchwühlten ihr Gepäck noch einmal - mit demselben enttäuschenden Ergebnis.
Piet sah seine Frau ratlos an. "Wie kommen wir jetzt von hier weg?”
"Ihr braucht einen Ersatzschlüssel”, sagte Hadubrand Emmerson.
"Und wo nehmen wir den her?”
"Wir reden mal mit der Wirtin”, schlug Dr. Emmerson vor. "Vielleicht gibt es in der Nähe einen Schlüsseldienst.”
Es gab einen solchen Dienst, jedoch nicht in der Nähe, sondern unten im Zillertal. In Uderns. Aber der Mann, der die Schlüssel anfertigte, war Schi laufen. Es war schließlich Sonntag. Die Wirtin sprach nur mit dem Vater, und der konnte nichts tun, weil er mit dem Firmencomputer nicht vertraut war. Der Mann konnte Piet van Geest aber immerhin mitteilen, dass die Schlüsselnummer für die Herstellung eines Duplikates unerlässlich sei. Die Schlüsselnummer war im Serviceheft eingetragen, und dieses befand sich im Handschuhfach des abgeschlossenen Fahrzeugs! Also brauchte man jemanden, der imstande war, Piet van Geests Wagen aufzubrechen. Ein Hotelgast erklärte sich dazu bereit. Mit zwei Schraubenziehern, einem Hammer und einem Kleiderbügel aus Draht rückte er um elf Uhr an. Um zwölf hatte er den Wagen endlich offen. Piet van Geest schnappte sich das Serviceheft und rannte damit ins Hotel. Er gab die Schlüsselnummer nach Uderns durch, und der alte Mann unten im Tal sagte: "Ich gebe meinem Sohn Bescheid, sobald er nach Hause kommt.”
"Wann wird das sein?” fragte der Niederländer bedrückt.
"So gegen fünfzehn Uhr.”
"Ach, Herrje…”, stöhnte Piet.
"Tut mir leid. Mein Sohn wird Sie anrufen.”
Drei Stunden saßen die van Geests auf Nadeln. Drei Stunden standen sie unter Strom. Sie hatten eine Zwölf-Stunden-Fahrt vor sich und noch keinen einzigen Kilometer zurückgelegt. Das Warten zerrte mächtig an ihren Nerven. Um fünfzehn Uhr rief der Junior an. "Ich bin in zehn Minuten in der Firma”, sagte er. "Dann melde ich mich wieder.” Im Zillertal schienen die Uhren anders zu gehen, denn der junge Mann ließ erst fünfundvierzig Minuten später wieder von sich hören. "Ich kann den Ersatzschlüssel anfertigen”, sagte er. "Aber Sie müssen sich ein Taxi nehmen und ihn sich holen.”
"Taxi brauchst du keines”, sagte Dr. Emmerson. "Ich fahre mit dir nach Uderns.”
Das seien zwei Stunden Fahrt, eine hinunter ins Tal und eine zurück auf den Berg, sagte die Wirtin. In Wirklichkeit dauerte die ganze Schlüsselaktion jedoch wesentlich länger. Hadubrand Emmerson kehrte mit dem Holländer erst kurz vor zwanzig Uhr nach Gerlos zurück, und jeder sagte, es wäre nun nicht mehr ratsam, noch so weit zu fahren. Aber die van Geests mussten morgen früh in Rotterdam sein, sonst verloren sie einen wichtigen Druckauftrag. Abermaliger Abschied von der Familie Emmerson. Auch die Kinder waren angetreten. Wieder drei Küsse von Meitje. Und dann reisten die Holländer endlich ab.
Hadubrand Emmerson schaute auf seine Armbanduhr. Es war zwanzig Uhr acht. Hadubrand runzelte die Stirn. "Ich möchte nicht mit Piet tauschen. Hat Meitje den Führerschein?”
"Ja, aber sie kann Piet nicht ablösen”, antwortete Laetitia Emmerson.
"Warum nicht?” fragte Hadubrand.
"Sie ist nachtblind.”
Montag meldete sich Piet van Geest zu Mittag aus Rotterdam.
"Seid ihr gut nach Hause gekommen?” fragte Hadubrand Emmerson.
"Ja, wir sind gut gelandet, und ich möchte mich noch einmal ganz herzlich für deine Hilfe bedanken, Hadubrand.”
"Hättest du doch für mich auch getan”, sagte der Arzt.
"Trotzdem. Du hast etwas gut bei mir.”
"Ach, komm. Werdet ihr das Buch drucken?” wollte Hadubrand wissen.
"Ja, und wenn wir den Kunden zufriedenstellen, dürfen wir mit weiteren Aufträgen rechnen.”
"Gratuliere. Ist doch ein erfreulicher Auftakt für dieses Jahr.”
"Ich war gestern nahe daran, durchzudrehen”, gestand Piet van Geest.
"Tatsächlich? Das hat man dir aber nicht angemerkt.”
"So ist das immer bei mir”, sagte der hünenhafte Holländer. "Je mehr ich mich aufrege, desto ruhiger wirke ich - nach außen hin.”
Hadubrand lachte. "Und wie’s drinnen aussieht, geht keinen was an.”
"So ungefähr. Also nochmals vielen Dank und grüß deine Familie von Meitje und mir.” Es klickte in der Leitung. Piet van Geest hatte aufgelegt.
Danach näherte sich auch für die Emmersons das Urlaubsende mit Riesenschritten. Die schönen Stunden vergingen viel zu rasch, der Tag der Abreise rückte rasend schnell näher.
"Ich freue mich schon auf zu Hause”, sagte Leo.
Lottchen zog eine Schnute. "Ich nicht.”
"Warum nicht?” fragte Leo. Sie saßen allein im Aufenthaltsraum des Hotels und warteten auf den Rest der Familie.
"Weil ich dann wieder in die blöde Schule muss”, antwortete Lottchen ohne große Begeisterung.
"Denkst du, ich nicht?”
"Wieso freust dich auf sowas?” fragte Lottchen verständnislos.
"Ich freue mich doch nicht auf die Schule, du doofe Nuss. Auf meine Freunde freue ich mich.”
Über Lottchens Nasenwurzel entstand eine Unmutsfalte. "Wenn du noch mal doofe Nuss zu mir sagst, erzähle ich Mutti und Vati, dass du geraucht hast.”
"Hab’ ich ja gar nicht.”
"Ich habe die Zigarre in deiner Hand gesehen”, sagte Lottchen. "Denkst du, ich bin blind?”
"Ein Hotelgast hat mich gebeten, die Zigarre kurz für ihn zu halten.”
"Ich glaube dir kein Wort.”
Leo zuckte gleichgültig die Achseln. "Du kannst ihn fragen.”
Lottchen schüttelte ihre Locken in den Nacken. "Ich mache mich doch nicht lächerlich.”
"Das bist du sowieso”, stänkerte Leo grinsend.
"Was?”
"Lächerlich”, sagte Leo herausfordernd. Er liebte es, Lottchen zu necken.
"Das nimmst du sofort zurück!” verlangte Lottchen erbost.
"Ich denk’ nicht dran.”
"Na schön, wenn du es nicht anders willst. Dann sage ich Mutti und Vati…”
"Was sagst du Mutti und Vati?” fragte plötzlich Hadubrand Emmerson hinter der Kleinen.
Lottchen zuckte herum und sah Vati, Mutti, Rüdiger und Yvette. Sie hatte sie nicht kommen hören. Jetzt japste sie nach Luft und suchte nach einer Antwort.
"Dass… Dass… Dass…”
Hadubrand lächelte. "Was - dass?”
"Dass Leo…”
"Kleine Petze!” sagte Rüdiger und bedachte seine neunjährige Schwester mit einem vorwurfsvollen Blick.
"Dass Leo sich schon auf zu Hause freut”, sagte Lottchen gepresst und schlug die Augen nieder.
Hadubrand wusste, dass Lottchen etwas anderes hatte sagen wollen, aber er drang nicht weiter in sie, um sie nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Er strich ihr sanft übers Haar und meinte: "Wir freuen uns alle schon auf zu Hause. Man fährt zwar gerne weg, aber man kommt auch immer wieder gerne heim.”