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              Kurz vor München sagte Rüdiger aufatmend: "Die Heimat hat uns wieder.”

              "Wenn ich an die Mathearbeit denke, die auf mich wartet, wird mir ganz schlecht”, stöhnte seine hübsche Zwillingsschwester Yvette.

              "Wieder mal zu wenig gelernt, wie?” grinste Rüdiger.

              "Ich bin für die Abschaffung der Schulnoten!” meldete sich Leo zu Wort. "Wenn es keine Noten gäbe, würde ich viel lieber in die Schule gehen.”

              "Ich auch!” rief Lottchen. "Ohne Noten würde die Schule viel mehr Spaß machen.”

              Hadubrand Emmerson warf seiner Frau einen amüsierten Blick zu. Sie hörten all das nicht zum ersten Mal. Irgendeines der Kinder hatte immer eine Idee, wie man die Schule attraktiver beziehungsweise erträglicher machen könnte. Die Abschaffung jeglicher Klassifizierung stand dabei fast immer an erster Stelle… Es war viel Verkehr in München. Um rascher voranzukommen, fuhr Hadubrand Emmerson einige Schleichwege. Und dann waren sie endlich zu Hause. Als der Wagen vor der Emmersonschen Villa ausrollte, erschien Bärbel, die Haushälterin, um "ihre” Familie herzlich zu begrüßen.

              "Irgendwelche Katastrophenmeldungen?” erkundigte sich Dr. Emmerson.

              Die Wirtschafterin sah ihn irritiert an. "Nein… Wieso…?”

              Hadubrand legte ihr die Hand auf die Schulter. "War bloß ein Scherz. Sie sehen gut aus, Bärbel. Nicht wahr, Laetitia?”

              "Ja”, bestätigte Laetitia Emmerson. "Sie haben sich prächtig von uns erholt.”

              "Erholt. Vermisst habe ich euch.”

              "Wir wollten Sie ja mitnehmen”, sagte Hadubrand. "Sie haben unser Angebot leider abgelehnt.”

              "Soll ich auf meine alten Tage etwa noch auf einem Snowboard über die Pisten flitzen?”

              "Au ja, das hätte ich gerne mal gesehen”, grinste Leo.

              "Jesus, bin ich froh, dass ihr alle wieder da seid”, seufzte Bärbel selig. "Und dass eure Knochen heil geblieben sind. Das ist bei Leuten, die Winterurlaub machen, nämlich absolut keine Selbstverständlichkeit. Und braun seid ihr alle, so schön braun. Ihr müsst viel Sonne gehabt haben. Hier in München ließ sie sich kaum blicken.”

              "Ist doch klar”, feixte Leo. "Wenn sie in Gerlos scheint, kann sie nicht gleichzeitig auch in München scheinen.”

              "Unser Einstein hat heute mal wieder den totalen Durchblick”, sagte Rüdiger.

              Hadubrand öffnete den Kofferraum, und jeder trug sein Gepäck ins Haus. Wunderbare Düfte kamen aus der Küche.

              "Das riecht ja herrlich”, stellte Laetitia erfreut fest.

              "Ich hoffe, ihr habt genug Hunger mitgebracht”, lächelte Bärbel.

              "Was gibt es denn Gutes?” erkundigte sich Hadubrand Emmerson.

              "Kartoffel-Spinat-Gratin mit Lachs und hinterher einen gefüllten Hefezopf”, verkündete die Wirtschafterin stolz.

              Vor dem Essen rief Dr. Emmerson noch die Kronwasser-Klinik an. Senta Semmelgroot, seine Sekretärin, meldete sich.

              "Oh, hallo, Chef!” rief sie aufgekratzt. "Wie war’s in Gerlos?”

              "Herrlich”, antwortete Dr. Emmerson.

              "Haben Sie neue Kräfte getankt?”

              "Jede Menge”, gab der Klinikchef zurück.

              Senta Semmelgroot lachte. "Sie werden sie brauchen.”

              "Wieso?”

              "Wir sind bis unters Dach voll mit Patienten. Jedes Notbett ist belegt”, informierte Senta Semmelgroot ihren Chef.

              "Was ist denn los?”

              "Eine Grippeepidemie”, berichtete die Sekretärin. "Ganz böser Erreger. Greift gerne die Lunge an. Kommen Sie morgen in die Klinik?”

              "Ja, morgen sehen Sie mich wieder.”

              "Ihr Terminkalender ist zum Bersten voll”, bereitete ihn Senta Semmelgroot auf die viele Arbeit vor, die auf ihn wartete.

              "Senta, Senta”, sagte Dr. Emmerson in gespielt rügendem Ton. "Wenn ich Ihnen mal für ein paar Tage den Rücken kehre, spielen Sie mir gleich einen üblen Streich nach dem andern. Ich finde das nicht besonders nett von Ihnen. Nächstens nehme ich Sie und Ihren Mann mit, damit Sie keinen Unfug mehr anstellen können, während ich weg bin.”

              "Gute Idee, Chef. Wohin geht denn die nächste Reise?”

              "Weiß ich noch nicht”, antwortete Dr. Emmerson, "aber ich lasse es Sie zeitgerecht wissen. Irgendetwas Wichtiges?”

              "Nichts, was nicht bis morgen warten könnte.”

              "Dann bis morgen”, sagte Dr. Emmerson.

              Senta Semmelgroot schien in diesem Augenblick die Sprechmuschel mit der Hand abzudecken. "Soeben ist Schwester Walpurga hereingekommen”, meldete sie in der nächsten Sekunde. "Ich soll Sie herzlich von ihr grüßen.”

              "Geben Sie sie mir”, verlangte der Klinikchef.

              "Mach’ ich gerne. Einen Moment.”

              Kurze Funkstille. Dann kam Schwester Walpurgas unverwechselbares Organ durch die Leitung: "Hallo, Chef.”

              "Hallo, alles im Lot?” erkundigte sich Dr. Emmerson.

              "Ich kann nicht klagen.”

              Hadubrand grinste. "Wenn das ein Anwalt sagen muss, ist er arm dran.”

        "Arm dran ist besser als Arm ab", gab Walpurga zurück. "Haben Sie schon von der Grippeepidemie gehört?”

              "Ja”, sagte Dr. Emmerson. "Lassen Sie sich nicht anstecken.”

              "Ich werde versuchen, Ihren Rat zu beherzigen, Chef. Sehen wir uns morgen?”

              "In alter Frische”, antwortete Hadubrand.

              "Fein. Ich freue mich.”

              "Ich freue mich auch.” Hadubrand beendete das Gespräch - und Bärbel servierte fünf Minuten später im Speisezimmer das Essen.