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              "Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?” fragte Dr. Peter Eibesfeld, als er mit Schwester Claudette die Kronwasser-Klinik verließ. Der kräfteraubende Nachtdienst war zu Ende, und Claudette Pessacker sehnte sich nach Ruhe, Entspannung und erholsamem Schlaf.

              "Das wäre sehr nett”, antwortete die OP-Schwester.

              "Mach’ ich doch gerne. Kommen Sie.” Während der Fahrt sprach der achtunddreißigjährige Dr. Eibesfeld von seiner Frau.

              "Musste sie die Silvesternacht allein verbringen?” fragte Schwester Claudette.

              Dr. Eibesfeld schüttelte den Kopf. "Sie hat mit ihren Verwandten gefeiert. Ich hole sie von da jetzt ab und fahre mit ihr nach Hause.”

              "Hat sie Ihnen wegen Ihres Berufs noch nie Vorwürfe gemacht?” fragte Schwester Claudette.

              "Sie ist eine vernünftige Frau. Sie weiß, dass man hin und wieder Opfer bringen muss, wenn man mit einem Arzt verheiratet ist. Im Grunde genommen bin ich nicht schlechter dran als ein Kellner, ein Taxifahrer, ein Fernsehsprecher oder ein Flugzeugpilot. Es gibt eben nicht nur Jobs, die von Montag bis Freitag um neun Uhr beginnen und um fünf Uhr enden.”

              Sie fuhren über die Isar. Kurz darauf sagte Schwester Claudette: "Sehen Sie die Videothek dort an der Ecke? Wenn Sie mich da absetzen, bin ich in fünf Minuten daheim.”

              "Ach was, den kleinen Umweg mache ich gerne für Sie.”

              Schwester Claudette wollte protestieren.

              "Lassen Sie mich im neuen Jahr meine erste gute Tat tun”, bat Dr. Eibesfeld schmunzelnd und bog rechts ab.

              Claudette Pessacker zeigte ihm das Haus, in dem sie wohnte.

              Als sie ausstieg, sagte er: "Ich wünsche Ihnen eine angenehme Ruhe. Hoffentlich machen Ihre Nachbarn nicht zu viel Krach.”

              Schwester Claudette lachte. "Wenn ich schlafe, können Sie neben mir eine Kanone abfeuern, ich höre es nicht.”

              "Dann ist es ja gut.”

              Claudette bedankte sich noch einmal fürs Bringen und drückte den Wagenschlag zu. Dr. Eibesfeld fuhr weiter, und Schwester Claudette schloss das Haustor auf. Als sie wenig später ihre Wohnung betrat - leise, weil sie Waltraude nicht wecken wollte, falls sie schon zu Hause war -, hörte sie ihre Tochter in der Küche rumoren.

              "Bist du noch oder schon wieder auf?” fragte Claudette Pessacker.

              Waltraude fuhr herum. "Mein Gott, Mutti, hast du mich erschreckt. Ich habe dich nicht heimkommen gehört.”

              "Ich wünsche dir ein frohes neues Jahr.” Claudette Pessacker umarmte ihre Tochter innig.

              "Ich dir auch. Du siehst müde aus. War wohl viel zu tun in der Kronwasser-Klinik.”

              Claudette seufzte und schlüpfte aus den Schuhen. "Wie jede Silvesternacht. Bist du erst nach Hause gekommen? Warst du auch noch nicht im Bett?” Sie hängte ihren Mantel auf.

              Waltraude dachte an den grandiosesten Fick ihres Lebens, zuckte unmerklich zusammen und fragte schnell: "Möchtest du Tee? Oder Kaffee? Ich kann dir auch ein Spiegelei machen.”

              Claudette hob abwehrend die Hand. "Ich krieche gleich in die Federn”, sagte sie und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar. "Wie war es auf der Silvesterparty?”

              "Ganz nett. Ich habe viel getanzt.”

              Claudette sah die beiden Kaffeetassen auf dem Wohnzimmertisch stehen. "Hat Rigobert Köberl dich nach Hause gebracht?”

              "Nein, nicht Rigobert, sondern Adalbert. Adalbert Siebenstern.”

              Claudette dachte nach. "Kenne ich den?”

              "Nein. Vielleicht vom Sehen, denn er wohnt auch in Haidhausen. Namentlich ist er dir sicher nicht bekannt.” Kurze Pause. Dann: "Ich - ich habe mich in ihn verliebt.”

              Claudette sah ihre Tochter überrascht an. "Und Rigobert?”

              "Der war doch nur ein Notnagel.”

              "Du bist also wieder einmal verliebt.” Für Claudette war das nichts Neues mehr. Waltraude verliebte sich pausenlos - in der Schule in den Turnlehrer, in Kitzbühel in den Schilehrer, im Kino in die Filmschauspieler, im Tanzunterricht in ihre jeweiligen Partner, im Büro in ihre Arbeitskollegen… Sie kam zu manchen Zeiten aus dem Verliebtsein gar nicht mehr heraus.

              Waltraude nickte heftig. "Ja, ganz schrecklich.”

              "Und wie lange wird es diesmal dauern?” fragte Claudette nüchtern.

              "Das mit Adalbert, das - das ist kein Strohfeuer, Mutti”, beteuerte Waltraude. Ihre veilchenblauen Augen strahlten und funkelten. "Ich liebe ihn ganz irrsinnig.”

              Claudette wiegte sanft lächelnd den Kopf. "Mir ist so, als hätte ich das schon mal gehört.”

              "Mit Adalbert ist es anders, ehrlich. Er ist der Richtige für mich.”

              Claudette betrachtete ihre Tochter nachdenklich. "Er scheint dich wirklich verzaubert zu haben.”

              Vor Waltraudes innerem Auge lief ein extrem erotischer Film ab, und die Hauptdarsteller waren sie und Adalbert. Sie sah seinen Kopf zwischen ihren Schenkeln, sah sich auf seiner mächtigen Lanze geradewegs in den siebten Himmel reiten... "O Mutti, ich bin ja so glücklich. Wenn du Adalbert kennenlernst, wirst du ihn auch mögen.”

              "Wie sieht er aus?” erkundigte sich Claudette Pessacker.

              "Phantastisch.”

              Natürlich, dachte Claudette. Die Frage hätte ich mir sparen können. "Hat er einen Beruf?”

              "Er ist Grafiker”, antwortete Waltraude.

              "Und er ist auch in dich verliebt.”

              "Genauso wie ich in ihn.” Glückseligkeit ließ Waltraudes Stimme beben.

              Claudette lächelte mild. "Mehr kann eine Mutter sich für ihr Kind eigentlich nicht wünschen.”

              "Er holt mich heute ab. Wir wollen einen Neujahrsspaziergang machen. Wenn du möchtest, stelle ich ihn dir vor.”

              "Zuvor muss ich aber ein paar Stunden schlafen”, schmunzelte Claudette. "Ich möchte schließlich nicht, dass deine große Liebe mich mit Krähenfüßen kennenlernt.”