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Zur selben Zeit in München…
"Jetzt reicht es mir”, stöhnte Waltraude Pessacker. "Ich bin fix und fertig.”
In einer Ecke hingen - völlig weltvergessen - Milena Schobern und Rigobert Köberl wie Kletten aneinander.
Adalbert Siebenstern schüttelte schmunzelnd den Kopf und meinte neidlos: "Nun sieh dir die beiden an.”
"Sie haben sich gesucht und gefunden.”
"Genau wie wir.”
Waltraude sagte nichts. Sie bedachte Adalbert nur mit einem langen, neugierigen Blick. Gefunden? Wirklich? Nun, es würde sich zeigen. Ein Schleier der Müdigkeit hing über ihren großen blauen Augen und ließ sie ein wenig trübe aussehen.
"Ich bringe dich heim”, sagte Adalbert.
Sie wohnten beide in Haidhausen, verkehrten in denselben Lokalen, deshalb kannten sie sich schon länger. Sie hatten hin und wieder ein paar Worte miteinander gewechselt, aber merklich nähergekommen waren sie sich erst in dieser Silvesternacht.
In Waltraudes Brust regte sich ein wunderbares Gefühl. Gütiger Himmel, ist das etwa Liebe? fragte sie sich, von wohligen Schauern durchrieselt.
Sie Claudettebschiedeten sich von niemandem, verschwanden einfach. Die meisten G"ste waren bereits gegangen, und jene, die noch da waren, sahen alle irgendwie gleich aus: sie hatten rote Augen, leere Blicke und blasse Gesichter - wie Zombies. Denen brauchte man nicht auf Wiedersehen zu sagen. Die bekamen sowieso nicht mehr richtig mit, was um sie herum passierte.
Dicke Mäntel wärmten Waltraude und Adalbert. Eng umschlungen hielten sie nach einem Taxi Ausschau, aber jene, die an ihnen vorbeifuhren, waren alle besetzt.
"Ich fürchte, wir müssen laufen”, sagte Adalbert bedauernd.
"Macht nichts”, erwiderte Waltraude, obwohl ihr die Füße wehtaten. "Ist ja nicht sehr weit.”
Während sie Richtung Isar gingen, sah sich Adalbert immer wieder um, doch je weiter sie gingen, desto weniger lohnte es sich, noch ein Taxi zu nehmen.
"Verrückter Zufall”, bemerkte Waltraude lächelnd.
"Weil Milena und Rigobert heute Nacht zueinandergefunden haben?”
"Das auch”, sagte Waltraude leise. Ihr Kopf ruhte auf Adalberts Schulter.
"Was noch?”
"Ich hätte eigentlich mit meiner Mutter Silvester feiern sollen”, verriet Waltraude.
"Wurde sie kurzfristig von Freunden eingeladen?”
"Sie musste für eine plötzlich erkrankte Kollegin einspringen”, erklärte Waltraude. "Sie hat Nachtdienst.”
"Nachtdienst?”
"Sie ist OP-Schwester in der Kronwasser-Klinik”, sagte Waltraude.
"Da hat sie heute Nacht bestimmt einiges zu tun. All die vielen Betrunkenen, die im Suff sich und andere gefährden - Stürze, Autounfälle, Feuerwerkskörper, die zwischen Menschen explodieren… In Silvesternächten schnellt die Zahl der Verletzten durch Übermut, Gedankenlosigkeit und Dummheit immer gewaltig nach oben.”
Sie erreichten die Isar, gingen über die Ludwigsbrücke. Unter ihnen befand sich die schmale Museumsinsel mit dem Kongresssaal und dem Deutschen Museum.
In der Rosenheimer Straße kam ihnen ein freies Taxi entgegen. Adalbert wollte es anhalten, doch Waltraude sagte: "Das zahlt sich jetzt nicht mehr aus.”
Zehn Minuten später standen sie vor dem Haus, in dem Waltraude mit ihrer Mutter lebte. Einen Vater hatte sie nicht. Er war vor zehn Jahren von einem Lastwagen überfahren worden. Sie konnte sich nur noch dunkel an ihn erinnern.
Wenn es nicht die Fotos in Mutters Schlafzimmer gegeben hätte, hätte Waltraude kaum noch gewußt, wie er ausgesehen hatte. Er war so blond wie sie gewesen.
Und schlank. Mehr als schlank. Überschlank. Fast schon beunruhigend untergewichtig. Dabei aber kerngesund. Und ein begeisterter Sportler.
Laufen, Radfahren, Schwimmen - es gab nichts an körperlicher Ertüchtigung, was ihm keinen Spaß gemacht hatte. Deshalb hatte er auch essen können wie ein Scheunendrescher, ohne auch nur ein einziges Gramm zuzunehmen.
"Da wären wir”, sagte Waltraude lächelnd.
"Ich habe noch keine Antwort.”
Waltraude sah ihn groß an. "Antwort? Worauf?”
"Ich habe dir einen erfrischenden Neujahrsspaziergang vorgeschlagen. Du hast dich noch nicht dazu geäußert.”
"Ich muss erst mal schlafen”, sagte Waltraude.
"Kein Problem. Sag mir, wann ich dich abholen darf.”
"Wir besprechen das bei einer Tasse Kaffee”, entschied Waltraude spontan und nahm Adalbert mit nach oben, obwohl sie wusste, dass das nicht ungefährlich war.
Adalberts Herz schlug vor Freude Purzelbäume. Waltraude hatte ihm Kaffee angeboten. Ihre Mutter hatte Nachtdienst. Er würde mit Waltraude allein in der Wohnung sein.
Seine Phantasie ging mit ihm durch. Mit vibrierenden Nerven betrat er hinter ihr das dunkle Haus. Sie drückte auf den Fünf-Minuten-Lichtschalter.
Es wurde hell. Adalbert biss sich aufgeregt auf die Lippen. Er malte sich das Zusammensein mit Waltraude in den schillerndsten Farben aus.
Sie nahm seine Hand. Ihm kam vor, als würden ihre Finger glühen. "Komm”, sagte sie heiser. Auch sie war sehr aufgeregt.
Die Wohnung war nicht groß, aber ungemein gemütlich eingerichtet. Adalbert blickte sich angetan um und sagte: "Hier fühlt man sich auf Anhieb wohl.”
Waltraude zog ihren Mantel aus und hängte ihn über einen Kleiderbügel. "Meine Mutter hat einen sehr guten Geschmack.”
"O ja, das sieht man.”
"Möchtest du nicht auch ablegen?”
"Ich?” Er sah sie verwirrt an. "Ab… Ach so. Ja, natürlich.”
Sie wollte ihm helfen.
"Ich mach’ das schon”, sagte Adalbert lächelnd und hängte seinen Mantel selbst auf.
Waltraude zeigte ins Wohnzimmer. "Mach es dir bequem. Der Kaffee ist gleich fertig. Wie möchtest du ihn?”
"Schwarz mit Zucker.”
"Kommt sofort”, sagte Waltraude und ging in die Küche. "Wenn du möchtest, mach Musik!” rief sie.
Er sah sich die CD-Sammlung an, fand Evergreens von Mantovani und ließ sie laufen. Sanfte, einschmeichelnde Geigenklänge füllten den Raum.
Adalbert trat ans Fenster und sah hinaus. Normalerweise brannte um diese Zeit so gut wie nirgendwo mehr Licht, aber dies war eine besondere Nacht, zu schade, um sie zu verschlafen, deshalb waren auch noch viele Menschen wach. In einer der gegenüberliegenden Wohnungen wurde noch eifrig getanzt - aber nicht nach Mantovani. Waltraude brachte den Kaffee. Sie hatte sich umgezogen, trug ein knöchellanges, bequemes, weites Hauskleid.
"Das passt dir sehr gut”, stellte Martin angetan fest. Die Luft knisterte auf einmal merklich zwischen ihnen.
Waltraude errötete leicht. "Findest du?”
"Du siehst in diesem Kleid umwerfend aus.”
Sie stellte das Tablett ab. Ihr Herz schlug schneller. Martin war nett. Sehr nett. Waltraude konnte nicht begreifen, wieso sie ihn so lange mehr oder weniger "übersehen” hatte. Adalbert war ein Mann, der die Beachtung einer Frau verdiente. Sie setzten sich und tranken den Kaffee.
"Schmeckt hervorragend”, sagte Adalbert anerkennend.
"Ist doch nur Kaffee”, erwiderte Waltraude bescheiden.
Adalbert hob die Hand. "Oh, das ist nicht wahr. Zwischen deinem Kaffee und meinem liegen Welten. Du hast bestimmt ein Geheimrezept.”
"Überhaupt nicht.”
Adalbert schmunzelte. Er hatte hübsche Grübchen in den Wangen. "Du willst es mir nicht verraten.”
"Ich nehme bloß Wasser und Kaffee - das ist alles.”
Mantovanis Geigen schufen eine sinnliche Atmosphäre. Waltraude und Adalbert sahen einander lange in die Augen. Sie schwiegen, brauchten nichts zu sagen, verstanden sich trotzdem, denn ihre Herzen sprachen zueinander - sehr deutlich und immer lauter. Und dann…
Plötzlich fielen sie sich in die Arme und küssten sich atemlos. Waltraude überlief es heiß und kalt zugleich. Sie zitterte, bebte, klammerte sich sehnsuchtsvoll an Adalbert, dessen sanfte Hände ungemein zärtlich über ihren in Flammen stehenden Körper strichen. Sie ließ es geschehen, kostete es leidenschaftlich aus. Mein Gott, was tue ich? hörte sie tief in ihrem Inneren eine entsetzte Stimme fragen. Das war wohl der letzte Funke von Vernunft, der sie vor den Folgen ihres Tuns warnen wollte, doch sie hörte nicht hin. Sie wollte nicht vernünftig sein. Nicht in dieser ersten Nacht des neuen Jahres. Und sie wollte keine mahnenden Worte hören. Sie wollte nur fühlen - und genießen. Oh, es war so angenehm, von Adalbert im Arm gehalten und gestreichelt und geküsst zu werden. Waltraude verging fast vor Beglückung, und sie wünschte sich, Adalbert möge nie mehr damit aufhören.
Ein wunderbarer Sinnesrausch erfasste die beiden jungen Menschen und ließ keine klaren, nüchternen - ernüchternden - Gedanken mehr zu. Ehe sie richtig begriffen, was mit ihnen passierte, befanden sie sich in Waltraudes Zimmer und liebten sich wie besessen. Sein Penis war groß, dick und wunderbar hart. Er füllte ihre Muschel nicht nur voll aus, sondern überdehnte sie beinahe, doch es tat ihr nicht weh. Im Gegenteil. Es war unbeschreiblich angenehm, ihn dermaßen intensiv zu spüren. Adalbert bewegte sich zuerst langsam und allmählich etwas schneller, und sie hatte keine Mühe, sich seinem wonnespendenden Rhythmus anzupassen. Ihr Gesicht glühte. Ihr Atem ging stoßweise. Ihr Herz jubelte, als ihr Orgasmus zugleich mit seinem einsetzte. Eine unbeschreibliche Leidenschaft ergriff die beiden wie eine riesige Welle, die dem Strand entgegen rollt und schließlich sanft im Sand ausläuft, so sanft, so herrlich sanft… Noch nie war es für Adalbert so schön gewesen. Überwältigt schmiegte er sich an Waltraude. Er drückte sie ganz fest an sich, als hätte er Angst, sie sonst zu verlieren.
Und während die beiden so glücklich miteinander waren, warf Schwester Claudette in der Kronwasser-Klinik einen müden Blick auf die elektrische Wanduhr und sehnte das Ende ihres anstrengenden Dienstes herbei.