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"Frohes neues Jahr”, sagte zur selben Zeit in München Adalbert Siebenstern zu Waltraude Pessacker.
"Ja.” Waltraude seufzte. "Frohes neues Jahr.”
"Wir brauchen was zu trinken.”
Waltraude schüttelte den Kopf. "Ich möchte nichts mehr.”
"Du musst mit mir anstoßen.”
Sie befanden sich in einer riesigen Wohnung, deren Besitzer sie nur flüchtig kannten. Sie waren mitgebracht worden - Waltraude von Rigobert Köberl und Adalbert von Milena Schobern. Und irgendwann in dieser langen, turbulenten Silvesternacht hatten Rigobert und Milena, einer Fügung des launischen Schicksals zufolge, zueinandergefunden, ohne auf Waltraude und Adalbert Rücksicht zu nehmen. Seitdem hingen die beiden irgendwie in der Luft.
Adalbert Siebenstern brachte Sekt. Er reichte Waltraude ein Glas und meinte lächelnd: "Sellerie, wie der Franzose sagt - so ist das Leben.”
In allen Räumen befanden sich Gäste. Es war eine Riesenfete. Man trank, man lachte, man tanzte, man wünschte sich gegenseitig Glück für die nächsten 365 Tage. Das kalte Büfett sah schon sehr unansehnlich aus. Ein Schlachtfeld. Wie Austerlitz. Oder Waterloo. Adalbert stieß mit Waltraude an. Sie war ein ausnehmend hübsches Mädchen, Mitte Dezember einundzwanzig Jahre alt geworden, wunderbar schlank und entzückend blond. Sie trank nur einen winzigen Schluck. Höflichkeitshalber.
"Ich habe dich beobachtet”, gestand Adalbert.
"Wozu?”
Adalbert zuckte die Achseln. "Ich hatte nichts Besseres zu tun.”
"Vielen Dank.”
Adalbert erschrak. "So habe ich das nicht gemeint”, beeilte er sich zu sagen. "Du gefällst mir. Du bist mir angenehm aufgefallen - und da ich Zeit hatte, habe ich dich beobachtet. Du siehst so traurig aus. Niemand sollte in so einer Nacht traurig sein. Wir haben das alte Jahr Claudettebschiedet und blicken dem neuen Jahr erwartungsvoll entgegen. Es kann uns sehr viel Schönes bringen.”
"Aber auch sehr viel Hässliches.”
"Du musst positiv denken”, ermahnte Adalbert das junge, aparte Mädchen.
"Tust du das?”
Adalbert nickte fest. "Klar.”
"Immer?”
Adalbert grinste belustigt. "Nicht immer - aber immer öfter.”
Waltraude lachte.
Er sah sie mit seinen dunklen Samtaugen an und sagte leise: "Du lachst, das ist gut. Lachen verscheucht die Sorgen.”
"Ich habe keine Sorgen”, entgegnete Waltraude.
Ein betrunkener Mann wurde von seiner besseren Hälfte abgeschleppt. Im Vorbeiwanken Claudettebschiedete er sich lallend von den Leuten, die er kannte, und röhrte in alle Richtungen sein "Frohes neues Jahr!”.
"Unsere Partner haben uns heute Nacht sitzenlassen”, sagte Adalbert nüchtern.
Waltraude spitzte die Lippen. "Rigobert Köberl ist nicht das, was ich unter einem Partner verstehe. Ich meine, wir haben keine Beziehung miteinander. Er wollte an dieser Silvesterparty teilnehmen und fragte mich, ob ich ihn begleite, und ich habe Ja gesagt, das ist alles.”
"Und dann verknallt er sich in Milena und weiß nicht mehr, dass es dich gibt.”
"Ich werde darüber hinwegkommen”, sagte Waltraude gleichgültig. "Und du?”
Adalbert schmunzelte. "Ich werde mich bestimmt nicht erschießen. Milena und ich waren erst dreimal miteinander aus, und es war niemals besonders aufregend. Wahrscheinlich wäre ich in den nächsten Wochen sowieso von selbst darauf gekommen, dass wir nicht richtig zueinander passen. Hast du dir für dieses Jahr etwas Besonderes vorgenommen?”
"Eigentlich nicht. Du?”
"Ich werde nicht mehr rauchen”, sagte Adalbert.
"Und? Denkst du, dass du das auch schaffen wirst?”
Adalbert lächelte. "Ich kann sehr hartnäckig sein. Natürlich würde es mir etwas leichterfallen, wenn mir jemand dabei beistehen würde. Wie wäre es zum Beispiel mit dir?”
"Mit mir? Wie komme ich zu dieser Ehre?”
Adalbert nippte von seinem Sekt. "Ich habe es bereits erwähnt: Du gefällst mir. Ich würde dich gerne wiedersehen. Vielleicht schon morgen - äh - heute. Zu einem erfrischenden Neujahrsspaziergang.”
Sie sagte nicht Ja, sie sagte nicht Nein und auch nicht vielleicht. Sie musterte ihn nur mit ihren großen blauen Augen interessiert und fand, dass er eigentlich sehr nett war und auch nicht übel aussah.
Sein dunkles Haar war leicht gewellt und links gescheitelt. Der mitternachtsblaue Anzug, den er anhatte, passte ihm wie maßgeschneidert.
"Wird langsam Zeit, ans Heimgehen zu denken”, sagte Waltraude.
"Wir haben noch nicht miteinander getanzt. Ich bin ein exzellenter Walzertänzer - egal, ob rechtsrum oder linksrum. Frauen lieben es im allgemeinen, Walzer zu tanzen.”
Waltraude schmunzelte. "Speziell mit dir - nehme ich an.”
Er lachte. "Das hast du gesagt. Wollen wir es mal zusammen versuchen?”
"Okay.”
Sie stellten die Glaser weg. Adalbert nahm Waltraudes Hand und ging mit ihr in das Zimmer, in dem getanzt wurde. Waltraude glitt in seinen Arm, und sie begannen sich beschwingt zu drehen. Adalbert führte hervorragend, und Waltraude war leicht wie eine Feder. Die beiden wirbelten durch den Raum, als würden sie seit vielen Jahren ausschließlich miteinander tanzen. Es war eine Freude, ihnen zuzusehen.
Aus einem Tanz wurden zehn. Und mehr. Rumba, Cha-Cha-Cha, Samba, Foxtrott, Tango… Waltraude genoss es, sich in Adalberts Armen zu wiegen.
Sie dachte nicht mehr ans Heimgehen. Erst im neuen Jahr war die Silvesternacht auch für sie beide vergnüglich geworden.