Gegen ihren Willen lachte sie. »Das ist ein verrücktes Gespräch, das wir da führen, Jake Donahue.«

»Leslie Wetzon«, sagte Jake Donahue und neigte sich zu hinunter. »Sie gefallen mir.«

Das durchdringende Surren einer Türklingel unterbrach ihr Zwiegespräch. Obwohl sie Roberta und Silvestri erwartet hatte, fuhr Wetzon buchstäblich auf.

»Lieber Himmel.« Donahue stand still, hellwach. »Wer zum Teufel...«

»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich verabredet bin.« Ihr war nicht wohl in ihrer Haut. Vielleicht wider bessere Einsicht glaubte sie Jakes Behauptung halb, er sei kein Mörder. Wenn nicht er, wer von den handelnden Personen, die ihr begegnet waren, war es dann? Wann immer sie die Fingerspitzen auf die Lösung legte, schmolz sie dahin wie Eiscreme. »Jake, ich habe nicht, was Sie suchen, ich weiß nicht, wo es ist, und selbst wenn ich...«

Die Türklingel läutete wieder. Ungeduldig zweimal.

Es gab keinen Weg durch den Garten, auf dem sie Jake hätte fortschicken können. Was sollte sie tun?

Gleichsam als Antwort auf ihre stumme Frage sagte er grob: »Schaffen Sie ihn sich vom Hals, wer immer es ist.« Er stand auf, eine fleischige Masse, neben der sie zum Zwerg wurde.

»Verdammt. Warten Sie hier.« Wenigstens war sie dann nicht mehr mit ihm allein. Was konnte er tun, wenn Roberta und Silvestri hier waren? Silvestri. Lieber Gott. Es wäre furchtbar, wenn Silvestri Jake Donahue bei ihr fände, nachdem sie ihm gesagt hatte, daß sie den Mann nicht kannte.

Wetzon ging ins vordere Büro und zog die Tür fest hinter sich zu. Die Klingel läutete mehrere Male, und jemand rüttelte ungeduldig an der Tür.

»Wer ist da?« rief Wetzon. Sie ließ die Kette im Schloß und spähte in das dämmrige Zwielicht. Eine große schlanke Frau in einem dunklen, fest gegürteten Mantel stand in dem engen Vorraum. Es mußte Roberta sein.

Wetzon schob das Kettenschloß auf. Die Frau, die durch die Tür ins helle Licht des Büros trat, war die Frau mit dem außergewöhnlichen Haar, die Wetzon im Four Seasons gesehen hatte. Die Frau, deren Bild Wetzon für Silvestri herausgesucht hatte, die Frau, deren Namen sie Silvestri nicht sagen konnte. Kein Wunder, daß es ihm seltsam erschienen war. Er wußte, daß sie Roberta am Tag davor kennengelernt hatte. Aber er wußte nicht, daß es Roberta mit einem Turban, der den Kopf bedeckte, und unter dem Vorwand von Kopfschmerzen gelungen war, nicht erkannt zu werden. Kein Wunder, daß Silvestri den Schluß gezogen hatte, daß Wetzon entweder bekloppt war oder etwas verheimlichte. Ihre erste Reaktion war Bestürzung, die aber rasch von Angst verdrängt wurde.

»Sie sind...«

»Roberta Bancroft.« Die Frau reichte Wetzon eine lange, schmale Hand. Das wunderschöne kupferfarbene Haar war füllig und glatt, ein Pagenschnitt mit perfekter Innenrolle. Sie brachte den unverwechselbaren Duft von Maiglöckchen mit herein.

Wetzon nahm Robertas Hand, konnte aber nicht die Augen von der Frau lösen. Sie war das Äußerste an Schick in ihrem schwarzen Ledertrenchcoat. Ein bedruckter Schal von Hermes war locker um den Hals gebunden, als habe sie ihn gerade vom Kopf geschoben. Vor Wetzons innerem Auge erschien ein flüchtiges Bild von einer Frau im schwarzen Ledertrenchcoat mit unter dem Kinn gebundenem Schal, die in der Second Avenue direkt hinter Wetzon aus dem Taxi stieg — einen Tag nach Barrys Tod und unmittelbar bevor Wetzon auf die Straße gestoßen wurde.

»Stimmt irgendwas nicht?« Roberta hatte erstaunliche hellgrüne Augen mit dunklen Rändern — Katzenaugen mit dunklen Wimpern und Brauen. Unter dem rechten Auge war die blasse Haut durch eine Prellung blau und gelb gefärbt.

»Nein, nein«, sagte Wetzon und sah weg. Sie hatte sie angestarrt. »Sie haben Sergeant Silvestri doch erreicht?«

»Ja, natürlich, aber er meinte, es könne später werden.« Roberta ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern, als mache sie Inventur.

Später. Nicht sehr wahrscheinlich, daß er überhaupt kommen würde. Wetzons Gedanken überschlugen sich. Wie sollte sie sich verhalten? Doch sie sagte ruhig: »Möchten Sie nicht Platz nehmen?« Sie zeigte auf einen der zwei modernen Stühle, die mit einem schwarz, weiß und braun gemusterten Wollstoff von Jack Lenor Larsen gepolstert waren. Sie sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten vor sechs. Jake war in dem anderen Zimmer und lauschte; davon war sie überzeugt. Konnte sie mit seiner Hilfe rechnen? Davon war sie weniger überzeugt. Sie warf noch einen Blick auf die Uhr. Robertas Katzenaugen verengten sich. »Ich habe noch eine Verabredung außerhalb des Büros«, erklärte Wetzon.

»Meine Zeitplanung ist in letzter Zeit immer daneben«, murmelte Roberta. Ihre schmalen roten Lippen entblößten seltsam kleine Zähne. Katzenaugen, Rattenzähne.

Wenn Roberta an jenem Tag im Four Seasons gewesen war, konnte sie Barry getötet haben. Langsam kroch Panik in Wetzon hoch. Behalte einen klaren Kopf, altes Mädchen. Du mußt mithalten. Sie setzte sich auf die Kante von Harolds Schreibtisch und fragte: »Warum glauben Sie, Ihr Leben sei in Gefahr? Und was hat das mit mir zu tun?«

Roberta schien eigenartig heiter. Sie öffnete ihre schwarze Ledertasche, suchte darin und nahm eine lange dünne Zigarette heraus. Sie zündete sie demonstrativ mit einem Streichholz aus einem Four Seasons-Heftchen an. »Aber, liebe Wetzon, es hat sehr viel mit Ihnen zu tun«, sagte sie und zog tief an der Zigarette.

Schwarzer Ledertrenchcoat und geblümter Schal. Die Teile fügten sich allmählich zu einem Bild. Roberta war die Frau, die Buffie mit Barry im Zoo im Central Park gesehen hatte. Wie gut kannte Roberta Barry? War sie einfach nur Mildreds Verbindungsperson? »Hatten Sie ein Verhältnis mit Barry?«

Roberta lachte tatsächlich auf. »Dieses Stück Dreck. Kaum. Es war Mildreds Einfall, daß ich die Vermittlerin spielen sollte. Ich tat es nicht gern, ich traute ihm nicht. Ich warnte sie, sich nicht mit ihm einzulassen. Warum fragen Sie?«

»Barrys Freundin hat Sie mit ihm gesehen.«

»Ha!« Sie hatte ein explosives Lachen, wie ein Bellen. Sie zeigte nur die Spitzen dieser Nagezähne. Sie inhalierte wieder tief und ließ langsam den Rauch ausströmen.

Jake war im Four Seasons, Leon war dort, und Roberta war dort. Waren sie etwa alle zusammen gewesen? Hatte Barry sie vielleicht gesehen... »Mein Gott«, sagte Wetzon laut mit entsetztem Gesicht.

»Tja«, sagte Roberta und stand auf. Sie sah sich nach einem Aschenbecher um.

Wetzon, die sie argwöhnisch beobachtete, leerte eine kleine Metalldose aus, in der Harold Büroklammern aufbewahrte, und reichte sie Roberta, die ihre Zigarette umständlich ausdrückte.

»Sie sind die einzige, glaube ich, die mich mit dort in Verbindung bringen kann.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Wetzon, indem sie vom Tisch rutschte und die Büroklammern mitriß. Sie verteilten sich auf dem Holzboden. »Ich habe Sie nicht im Zoo gesehen.«

Roberta sah Wetzon feindselig an. »Ich spreche nicht vom Zoo. Für wie dumm halten Sie mich? Barry sah mich im Four Seasons. Nachdem Sie mich gesehen hatten. Ich war mit Jake zusammen.« Sie kramte in ihrer schwarzen Ledertasche und suchte etwas. »Wir hatten kein Abkommen, verstehen Sie. Ich stimmte nur zu, ihm zu helfen, um Mildred zu schützen. Aber Barry wollte es Mildred sagen, und das konnte ich nicht zulassen.« Sie sah auf und lächelte Wetzon beruhigend an. »Es war kein Verlust. Ich hätte eine Medaille verdient.« Sie fand, was sie in der Handtasche gesucht hatte, und zog es heraus. Wetzon schnappte nach Luft. Es war ein Schweizer Jagdmesser, die Art, die sie immer bei Hoffritz angepriesen sah.

Erst in diesem Augenblick wurde Wetzon die Gefahr voll bewußt. Sie hatte die seltsame Empfindung, aus ihrem Körper herauszutreten und sich ein wenig auf die Seite zu stellen, um das Geschehen zu beobachten. »Und Georgie?« fragte Wetzon, um Zeit zu gewinnen, aber sie mußte es auch wissen.

»Der war noch schlimmer als Barry, falls das möglich ist. Dieses dumme Mädchen rief Mildred wegen einer Autobiographie an, die er geschrieben haben sollte, deshalb dachten wir, sie hätte die Bänder und wollte uns dafür bezahlen lassen. Er überraschte mich, als ich ihre Wohnung durchsuchte und schaltete sich ein.« Indem sie wieder die Spitzen ihrer Zähne sehen ließ, fügte sie heiter hinzu: »Also schaltete ich ihn aus.« Sie betrachtete Wetzon einen Augenblick und machte dann einen kleinen Schritt auf sie zu.

»Roberta, ich habe die Bänder gefunden. Ich gebe sie Ihnen«, sagte Wetzon, indem sie zu der Tür zum hinteren Zimmer zurückwich.

Roberta klappte das Messer mit einer merkwürdig sinnlichen Bewegung langsam auf. »Sie haben die Bänder?« Sie hielt inne. »Wo sind sie?«

»Nicht hier. Ich muß sie holen.«

»Sie sind die einzige, die über mich Bescheid weiß. Ich brauche die Bänder nicht.«

»Ich bin nicht die einzige. Jake Donahue und Leon, sein Anwalt, wissen es.« Und Silvestri weiß es, aber er kommt nicht.

»Sie werden nie reden.«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen. Leon ist schließlich beim Gericht zugelassen.«

»Aber wenn ich die Bänder habe, werden sie nie reden. Dann haben sie Angst.«

»Das stimmt.« Wetzon lehnte sich an die Tür zum hinteren Büro. Roberta war wahnsinnig. Sie hatte Angst, Roberta oder das Messer aus den Augen zu lassen. Angst, sich zu bewegen. Oh, Silvestri...

»Er kommt nicht«, sagte Roberta, als unterhielten sie sich bei einer Tasse Tee. »Ich habe ihn nicht angerufen.« Sie ließ ihre Zähne sehen und kam näher.

Wetzon drückte sich gegen die Tür. Ihre Hand berührte den Griff. Sie war bereit, sich hineinzuwerfen. Ihr Kopf arbeitete fieberhaft. Wenn sie nur die Toilette erreichen könnte, dann könnte sie die Tür abschließen und warten, bis sie gerettet würde.

Aber sie hatte Jake Donahue vergessen. Die Tür flog auf, und sie taumelte rückwärts ins Zimmer. Donahue fing sie auf und stieß sie grob zur Seite. Sie fiel gegen ihren Schreibtisch. Das Entsetzen schlug wie eine Flutwelle über ihr zusammen. Jake konnte sie nicht retten. Er konnte sich selbst nicht retten. Sie würden beide sterben.

»Roberta, verdammt noch mal, sind Sie übergeschnappt? Was haben Sie denn?« Jake machte eine ruckhafte Bewegung, als wollte er sie packen.

Die Überraschung in Robertas Gesicht wich schnell der Wut. Ihre listigen Augen verschwanden fast in den Höhlen. »Das würde ich an Ihrer Stelle nicht sagen.« Ihre Stimme drohte, aber sie wich zurück. »Fassen Sie mich nicht an.«

Dieser Idiot, dachte Wetzon plötzlich. Er packte sie völlig falsch an.

»Roberta, beruhigen Sie sich.« Jake stand reglos da. »Erzählen Sie dem alten Jake einfach, worum es eigentlich geht.« Die Unaufrichtigkeit in seinem Ton war beleidigend und herablassend.

Du Vollidiot, hätte ihn Wetzon am liebsten angeschrien. Er unterschätzte Roberta gewaltig. Er würde sie noch wütender machen.

»Sie machen mir nichts vor, Sie Mistkerl.« Roberta verzog verächtlich die schmalen Lippen. »Sie haben sich hier versteckt und gelauscht.«

Sie gestikulierte mit dem Messer, als wäre es ein Teil ihrer Hand. Die Klinge blitzte im Neonlicht auf. »Ihr seid alle gleich. Erst Mildred, jetzt Sie. Versprechungen. Ich kümmere mich um dich, Bobbie...« imitierte sie ziemlich echt Mildreds krächzende Stimme.

Wetzons Hände begannen zu zittern. Sie konnte nicht schlucken. Ein strammes Band schloß sich um ihre Brust; das Zimmer begann sich zu drehen.

Dann schrie Roberta — einen langen, wütenden Schrei — und stürzte auf Jake zu, der auswich. Wetzon riß den Kopf hoch. Nein, sie durfte jetzt nicht zusammenklappen. Sie machte einen Schritt vor. Tu so, als wäre sie einfach ein aufgebrachter Makler, dachte sie verzweifelt. Tu so, als wäre sie gerade von Shearson gefeuert worden und...

»Roberta, reden Sie mit mir, bitte«, flehte Wetzon. »Ich habe Ihnen nichts versprochen. Ich kenne Sie nicht einmal.«

Roberta war einen Moment abgelenkt. Ihr Blick huschte zu Wetzon. »Sie haben mich gesehen«, sagte sie. »Sie sind immer wieder aufgetaucht. Ich konnte Sie nicht abschütteln. Sie werden mich verraten.«

»Sie Verrückte...« Jakes Gesicht lief dunkelrot an.

Wetzon fiel ihm ins Wort. Er verdarb alles. »Ich werde niemand was erzählen, Roberta.« Wetzon befand sich auf vertrautem Gelände. Sie war schon mit anderen Verrückten fertiggeworden. Wenn nur Jake den Mund halten und sie tun lassen würde, worauf sie sich verstand.

»Das stimmt.« Roberta nickte und lächelte mit ihren Rattenzähnen. Das schöne Kupferhaar flog um ihr Gesicht.

»Ich verstehe nicht, Roberta«, sagte Wetzon, fest entschlossen, sie am Reden zu halten. »Was haben Sie bei Jake getan, wo Sie doch für Mildred gearbeitet haben?« Ihr Mund war ausgetrocknet.

Roberta wandte den Blick von Wetzon ab. »Mildred wollte sich um mich kümmern, aber er...« Das Messer beschrieb einen tödlichen Kreis und wies auf Jake. »Er hat alles ruiniert. Und jetzt zeige ich ihm, wie dankbar ich bin. Jetzt töte ich ihn.« Sie lächelte Wetzon an. »Und dann töte ich Sie.«

»Idiot«, tobte Jake und ballte seine Hände zu zwei gewaltigen Fäusten. »Sie haben Mildred nicht mehr gebraucht. Ich hätte mich um Sie gekümmert, habe ich das nicht versprochen?«

Wetzon schauderte. Was hatte Smith gesagt? Eine Frau hat es manchmal gern, wenn man sich um sie kümmert. Und Wetzon, wie stand es um Wetzon? Wetzon, die sich immer um sich selbst kümmerte. In diesem Moment wünschte sie inbrünstig, Silvestri käme auf einem weißen Pferd dahergeritten, um die Lage zu retten. Aber sie wußte, er würde nicht kommen.

»Keine Sorge, sagten Sie, ich kümmere mich um Sie. Was für ein Witz. Auf meine Kosten. Sie wollten sich um mich kümmern, nicht wahr, Jake? Sie zeigten mir eine Kopie von Mildreds Testament, und Sie hatten recht, ich komme darin nicht vor. Sie hat mich belogen.« Sie strich sich mit der freien Hand das Haar aus dem Gesicht. »Ist das nicht komisch? Mildred hat Sie nicht für einen Killer gehalten, Jake. Ich habe ihr keine Ruhe gelassen, daß Sie es waren, aber sie begann sich alles zusammenzureimen, als Sie an dem Tag hereingestürzt kamen...«

Wetzon sah Jake an, dann Roberta. An Robertas Stelle würde sie vermutlich genau jetzt das Messer in ihn stoßen. Der Mann war ein Monster. Sie waren beide böse, aber Roberta war ein Opfer. Wetzon hatte das Gefühl, daß Jake immer genau wußte, was er tat.

»Sie hätten mir vertrauen sollen«, sagte Jake mit müder Stimme.

»Sie lügen, Sie gemeiner Scheißkerl«, sagte Roberta, immer noch in ihrem Teestündchenton.

Jake sprang vor, um ihr das Messer zu entreißen. Ihr Verstand sagte Wetzon, daß Jake sich schnell bewegte, aber ihr war, als betrachte sie einen Film in Zeitlupe.

Roberta fuhr zurück. Sie schrie: »Rühren Sie mich nicht an, Sie Mistkerl!«

Das Messer bewegte sich träge durch den leeren Raum zwischen Roberta und Jake.

Wetzon, der das Herz in den Ohren pochte, wich zurück, schlug an die Schreibtischkante, prellte sich das Steißbein. Der schmerzende Stoß hätte sie nach vorn in das Gerangel geschleudert, wenn sie sich nicht mit den Fingern an den Tisch geklammert hätte.

Jakes Stimme war ein gedämpftes Brüllen. Roberta zerschnitt die Luft mit dem Messer, zurück und vor, zurück und vor... zurück und vor.

Wie merkwürdig... da ist kein Blut, dachte Wetzon. Wie in einem Theaterstück. Das Messer ist nicht echt.

»Aufhören, aufhören, bitte hören Sie auf«, hörte Wetzon jemanden schreien und merkte, das sie es selbst war.

Ein leuchtende hochrote Blume entfaltete sich in Zeitraffer und blühte auf der weißen Tischplatte neben Wetzons Hand auf.

Blut, hochrot wie die Blume, spritzte auf Papiere, auf die Schreibtische, auf den Anrufbeantworter, auf den Boden. Das Telefon begann zu läuten. Automatisch griff Wetzon danach, und ihre Hand fand den schweren Marmorpfirsich, den sie als Briefbeschwerer auf dem Tisch liegen hatte. Ohne zu denken, schlossen sich ihre Finger darum. Sie hob ihn hoch, zielte, wie sie es als Tänzerin gemacht hatte, auf Robertas weiße Stirn und schleuderte ihn mit aller Kraft.

Jake schlurfte einen eigenartigen Tanz, dann fiel er auf die Knie.

Der Anrufbeantworter schaltete sich ein, und wer immer es war, legte auf.

Der Marmorpfirsich machte ein weiches, dumpfes Geräusch, als er Robertas Stirn traf. Sie hielt inne, machte einen lässigen Schritt auf Wetzon zu, als wolle sie sich mit ihr unterhalten.

»Nein, bitte«, schrie Wetzon.

Robertas Augen brannten. Der Marmorpfirsich fiel auf den Boden und zersprang. Roberta machte noch einen Schritt, dann stürzte sie.

»Oh, Gott, ich habe sie getötet.« Wetzons Gesicht war naß. Sie hatte nicht gemerkt, daß sie weinte. Sie schwankte. Der ekelhafte, süßliche Geruch des Bluts, vermischt mit dem Maiglöckchenduft, war betäubend. Nach Luft schnappend schaffte sie es bis zur Toilette, raffte alle Handtücher zusammen und brachte sie Jake, der auf dem blutbespritzten Boden kniete.

Er sah zu ihr auf, das Gesicht mit Blut verschmiert. Sie hörte fast nicht, was er sagte, so leise war seine Stimme. »Lady, Sie sind was Besonderes.«

Seine Hände waren übel zugerichtet und bluteten stark. Fügsam wie ein Kind streckte er sie aus, und sie umwickelte sie, so gut sie konnte. Der maßgeschneiderte blaue Nadelstreifenanzug und das weiße Hemd waren zerfetzt. Das linke Revers war vom Jackett getrennt, und sein Hemd nahm verschiedene Töne zwischen Rosa und Rot an, während sie sich um ihn kümmerte. Die rote Seidenkrawatte war rot auf rot zwischen den Fetzen seines Anzugs.

Jakes Gesicht war schmerzverzerrt. Sie beugte sich über ihn, um ihn zu berühren.

»Wenn Sie mir zu nahe kommen«, sagte er schroff, »machen Sie sich auch schmutzig.« Er stand unbeholfen auf, taumelte und ließ sich auf Smith’ Stuhl fallen. Blut sickerte aus einem häßlichen Schnitt in seiner linken Wange.

»Sie brauchen einen Arzt«, sagte sie.

»Wir müssen uns erst darum kümmern«. Er deutete auf Robertas reglosen Körper. »Sie haben sie nicht getötet, leider Gottes, und die verrückte Hexe wird zu sich kommen und...«

»Ich rufe die Polizei.« Sie war verblüfft. Jake fühlte sich für nichts, was geschehen war, verantwortlich, und doch war er, indem er Roberta gekauft hatte, für den Tod von wenigstens drei Menschen indirekt verantwortlich. Vier, wenn sie Sugar Joe mitzählte. War es wirklich möglich, daß Roberta ihr an jenem Tag von Mildreds Büro gefolgt war und sie dann auf der dunklen, stillen Straße überfallen hatte, als sie die Amsterdam Avenue überquerte? Sie schauderte bei dem Gedanken, daß Roberta sie beobachtet hatte, als sie sich mit Laura Lee, mit Amanda und mit Howie traf, daß sie sie beobachtet hatte, als sie bei Zabar’s anstand. So etwas tat kein normaler Mensch. Aber Roberta war nicht normal.

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Jake. »Ich bin nicht in der Verfassung, mich gegen sie zu wehren.« Roberta stöhnte. »Und Sie haben wohl nicht noch einen — was war das überhaupt?«

»Ein Marmorpfirsich.« Wetzon starrte auf die Bruchstücke des Briefbeschwerers. Sie konnte nicht glauben, daß sie es getan hatte. Sie hatte sich und ihm das Leben gerettet.

»Ein Marmorpfirsich«, wiederholte er. »Um Gottes willen. Gibt es hier eine Tür, die sich von außen abschließen läßt!« Er übernahm schon wieder seine alte Kommandorolle.

»Ja. Die Vorratskammer. Dort.«

»Gut. Ich helfe, aber Sie müssen das meiste allein tun.« Er gestikulierte mit seinen ungeschickt bandagierten Händen. Das Blut drang schon durch die Handtücher und färbte sie rosa, dann rot. Wetzon sah weg. Das Büro war ein einziges Schlachtfeld. Smith würde wütend werden. »Na, was ist?« knurrte Jake. »Nehmen Sie ihr das verdammte Messer weg.«

Sie zog ein paar Kleenextücher aus der Schachtel auf dem Schreibtisch und hob das blutige Messer am Griff auf. Sie legte es angeekelt auf ihren Tisch.

Sie beugte sich über Robertas Körper. Es stank im Zimmer, und sie begann zu würgen. Sie berührte zaghaft Robertas Knöchel. Lederstiefel, sehr teure, hochhackige schwarze Lederstiefel, blutige Lederstiefel... rote Lederstiefel... Sie unterdrückte ein nervöses Kichern.

»Worauf warten Sie?« fragte Jake herrisch. »Ziehen Sie.«

Sie zog, und Jake schob, bis Roberta in der Vorratskammer wie ein Sack voll alter Kleider abgestützt war. Jake trat die Tür mit dem Fuß zu, und Wetzon schloß sie ab.

Sie nickten sich zu wie zwei Verschwörer. Blut tropfte ihm aus einem Schnitt auf der Stirn in die Augen. »Verdammt, ich glaube, ich werde ohnmächtig«, sagte er und machte eine Grimasse. Er lehnte sich schwer atmend auf Smith’ Stuhl zurück.

Wetzon wusch sich die Hände und schrak vor der Farbe des Wassers im Waschbecken zurück. Dann hielt sie ein Handtuch unter das kalte Wasser, ging damit zu Jake und tupfte ihm behutsam etwas Blut vom Gesicht.

Jake schlug die Augen auf. »Ich liebe dich, Leslie Wetzon«, sagte er. Die Augen fielen wieder zu.

Sie atmete tief durch und wählte 911.

»Mein Name ist Leslie Wetzon. Ich bin im Haus Nummer 69 A East 49. Street. Bitte schicken Sie sofort einen Krankenwagen. Ich habe hier einen Schwerverletzten. Ja. Ich habe auch eine Mörderin in der Kammer eingeschlossen.« Sie machte eine Pause. »Ich weiß, bitte, glauben Sie mir, und benachrichtigen Sie bitte sofort Sergeant Silvestri im siebzehnten Revier.«

Jake schlug die Augen auf. »Sie lassen mir also keine Zeit.«

»Es tut mir leid, Jake. Es ist zu spät.«

»Ja.« Er schloß ohne Widerrede die Augen.

»Ich hoffe, es läuft nicht allzu schlecht für Sie«, sagte sie stockend, nicht sicher, ob sie es meinte.

»Ach, ich überstehe das. Ich falle immer auf die Füße. Ich bin ohne einen Cent in die Wall Street gekommen, ohne Verbindungen, und sehen Sie sich an, wo ich heute bin.«

»Ja, sehen Sie.« Genau wie ein Makler, dachte sie.

»Ja.« Es klang höhnisch.

In diesem Augenblick hörte sie Lärm vor der Haustür, und Metzger — groß, melancholisch und mit Tränensäcken, aber unbeschreiblich schön — erschien, gefolgt von dem Detective mit der Wadenhalfter, den Wetzon im Revier gesehen hatte.

»Mein Gott, bin ich froh, Sie zu sehen«, sagte sie und fing wieder an zu weinen. Sie klammerte sich an Metzgers Arm, wollte ihn an sich drücken, hielt sich an ihm fest. »Sie ist in der Kammer, in der Kammer... wir haben sie in die K-k-kammer gesperrt...« Sie brachte die Worte nicht heraus. Ihr Mund war zu trocken. Ihr Herz klopfte stark, daß sie nicht stillstehen konnte.

»Sind Sie unverletzt?« Metzger musterte sie skeptisch von oben bis unten.

»Ja, ja, ja. Aber, aber Jake...«

»Hier«, rief Jake schwach aus dem anderen Zimmer. Metzger deutete mit dem Kopf dorthin, doch der andere Detective und die zwei uniformierten Polizisten waren schon ins hintere Zimmer gegangen.

Wetzon nickte immerzu, um Metzger zu sagen, daß es ihr gut ging, aber sie konnte nicht sprechen. Sie konnte seinen Arm nicht loslassen. Wo war Silvestri?

»So«, sagte Metzger und tätschelte linkisch ihre Schulter. »Setzen Sie sich.« Er drückte sie auf einen der Besucherstühle, löste behutsam seinen Arm von ihr und ging ins hintere Zimmer. Wetzon konnte Jake und die andern reden hören. Sirenen heulten und verstummten. Ein Krankenwagen traf ein. Noch mehr Polizisten. Noch mehr Lärm.

Wetzon trocknete sich die Augen mit den Handrücken, ging an die Tür zu ihrem und Smith’ Zimmer und lehnte sich an den Türrahmen. Es sah wüst aus in dem Zimmer. Es roch nach Blut und Antiseptika.

Ein Sanitäter im weißen Kittel säuberte Jakes Wunden und hatte ihn an den Tropf gehängt. »Die müssen genäht werden«, sagte er zu dem anderen Sanitäter. »Verschwinden wir hier.« Der andere nickte. Er kniete auf einem Knie vor Roberta, die auf dem Boden zusammengesackt war und an Wetzon Schreibtisch lehnte. Der Sanitäter versuchte, ein weißes Pflaster auf ihrer Stirn anzubringen, aber Roberta wehrte sich, noch nicht voll bei Bewußtsein, indem sie ständig den Kopf hin und her bewegte. Einer der uniformierten Polizisten stand über ihr und ließ Handschellen von seinem Zeigefinger baumeln.

Metzger und der andere Detective sprachen mit Jake. Sie blickten beide auf Wetzon. Sie wich zurück ins Empfangszimmer und setzte sich an Harolds Schreibtisch, den Kopf in den Händen, die Augen geschlossen.

Sie hörte Metzger zurückkommen und machte die Augen auf. Er setzte sich verlegen auf einen der kleinen Stühle. Er sah albern aus, wie ein riesiger, trauriger Beagle. Sie begann zu kichern, dann schlug sie sich mit der Hand auf den Mund.

»Sind Sie in der Stimmung zu sprechen?«

Sie nickte, holte tief Luft und berichtete knapp von Robertas Anruf, Jakes unerwartetem Besuch, Robertas Auftritt. »Sie hat Silvestri nicht angerufen, oder?«

Metzger schüttelte den Kopf. »Er hätte es mir gesagt. Und er wäre hier gewesen.«

»Wo ist er jetzt?« Warum ist er nicht hier, wenn ich ihn brauche? wollte sie eigentlich sagen. Sie verspürte den überwältigenden Wunsch, ihn mit einem mißbilligenden Stirnrunzeln vor sich zu sehen.

»Er hat mit einem anderen Fall zu tun. Konnte ihn nicht erreichen. Ich wußte, daß etwas nicht stimmte, als Sie anriefen.«

»Sie hat Barry und Georgie Travers und Mildred Gleason ermordet«, sagte Wetzon, »und sie hätte uns...«

»Sie haben gute Arbeit bei ihr geleistet«, sagte Metzger feierlich. »Wir gehen jetzt rüber zum Bellevue. Sie sehen ganz ordentlich aus, aber Sie sollten sich trotzdem untersuchen lassen. Danach werden wir mit Ihnen im Revier reden müssen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wenn Sie mich nicht sofort brauchen, möchte ich lieber nach Hause gehen und heiß duschen. Ich verspreche, daß ich später zum Revier komme.« Sie wußte, was sie tun würde, falls sie die Kraft aufbrachte. Sie spürte eine ungeheure Ruhe und Beherrschung, zum erstenmal, seit sie Barrys Leiche vor einer Woche aus der Telefonzelle hatte gleiten sehen.

Metzger musterte sie eine Weile zweifelnd, dann nickte er.

Die Gruppe ging hinaus, Roberta in Handschellen, mit hängendem Kopf, auf beiden Seiten von einem Polizisten gestützt. Strähnen des kupferfarbenen Haars verbargen ihr Gesicht. Jake folgte auf einen Sanitäter gestützt. »Alles Gute, Jake«, sagte Wetzon.

»Mich kriegt man nicht so leicht klein, Leslie Wetzon«, sagte er. »Ich komme wieder.«

Die Außentür schloß sich. Die plötzliche Stille wirkte einschläfernd. Wetzon blieb an Harolds Tisch sitzen und verlor ihr Zeitgefühl.

Das Telefon läutete. Läutete wieder. Ihre Hand langte vor und hob ab. »Smith und Wetzon«, sagte sie.

»Hallo, Tag, Wetzon. Ich bin froh, daß Sie noch da sind. Ich muß mit Ihnen reden.«

»Wer...« Warum zum Teufel gehst du ans Telefon, Wetzon?, dachte sie.

Die Frau plapperte weiter. »Ich hatte heute wirklich ein gutes Gespräch mit Alex Brown«, sagte sie.

Amanda. »Das ist aber schön, Amanda.« Wetzon freute sich für sie. »Wann fangen Sie an?«

»Na ja, darüber wollte ich ja mit Ihnen sprechen, Wetzon. Ich habe dort gesagt, daß ich mich wieder melde. Warum soll ich schließlich gleich beim ersten Angebot zugreifen? Meinen Sie nicht auch, ich sollte mir noch andere Firmen ansehen? Ich möchte gern mit Pru-Bache sprechen. Ich habe gehört, daß sie am meisten bieten...«

Wenn du an bißchen Grips hättest, würdest du sofort auflegen, sagte sich Wetzon. Sie hätte es verdient. Statt dessen sagte sie: »Können wir das morgen früh besprechen, Amanda?«

»Klar, ich bin den ganzen Tag frei. Rufen Sie mich an, sobald Sie die Termine ausgemacht haben. Ciao, Wetzon.« Sie legte auf.

Nicht einmal ein Dankeschön, dachte Wetzon. Sie legte den Hörer auf, ging in die Toilette und wusch ihr Gesicht gründlich mit kaltem Wasser. Ihre Schuhe waren mit Blut bespritzt, und sie wischte sie oberflächlich mit einem nassen Handtuch ab. Sie waren hin. Vielleicht würde es im Caravanserie so dunkel sein, daß es niemand bemerkte. »Auf denn«, sagte sie zu ihrem bleichen Spiegelbild, als sie hastig ihr Haar wieder hochsteckte. Sie sah wie ein Geist aus. Sie konnte nichts dagegen tun.

Sie zog ihre Handtasche und Aktentasche unter dem Schreibtisch vor.

Sie warf einen langen letzten Blick ins Büro und riß sich mit Gewalt los. Sie hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie war spät dran.