Sie sprach mit sechs Maklern von Dean Witter und machte mit zweien von ihnen Termine aus; die anderen wollten in der Firma bleiben und hatten es in die Wege geleitet, in andere Zweigstellen zu wechseln. Wetzon machte für Howie Minton aus, sich bei drei Firmen im Lauf der Woche vorzustellen, und für Amanda Guilford, am Nachmittag nach Geschäftsschluß bei Alex Brown vorzusprechen. Ihr Magen hatte sie gerade daran erinnert, daß es Zeit zum Mittagessen war, als Rick wieder an rief.

»Ich bin so froh, daß du noch mal anrufst. Warte eine Sekunde.« Wetzon drehte sich nach Smith um, aber Smith saß bereits im Garten mit einer reflektierenden Folie unter dem Kinn und arbeitete an ihrer Bräune. »Rick, hast du nicht gesagt, du bist Mitglied im Caravanserie

»Ja«, sagte er, »...durch das Krankenhaus.«

»Dann brauche ich deine Hilfe... Kannst du — würdest du — für mich heute abend was in einem Spind nachsehen?« Sie sprach so schnell ins Telefon, daß sie mit der Zunge anstieß

»Halt, warte, wessen Spind? Sprich ganz langsam, Süße.«

»Rick — ich glaube, ich habe es rausgekriegt. Ich meine — letzte Nacht — Barry sagte mir...«

»Barry ist tot, Süße.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber er hinterließ mir eine Botschaft… in einem Streichholzheft. Der Schlüssel steckte in dem Streichholzheft...«

»Der Schlüssel? Du hast den Schlüssel?«

»Nein, begreifst du nicht?« sagte sie ungeduldig. »Der Schlüssel war nie wichtig. Was die ganze Zeit wichtig war, das war das Streichholzheft. Darauf sind eine Spindnummer und eine Zahlenkombination geschrieben. Ich denke, Barry könnte einen anderen Spind gehabt haben... Ach, das ist zu kompliziert zu erklären. Georgie hat Barrys normalen Spind ausgeräumt und nichts gefunden...«

»Aber was ist mit dem Schlüssel?« fragte er hartnäckig.

»Ich sagte doch, die Polizei hat den Schlüssel. Verstehst du nicht, er hat nichts mit dem Fall zu tun. Der Schlüssel ist irgendein Krankenhausschlüssel. Vielleicht ist er nach dem Unfall in meine Tasche geraten, als die Sanitäter bei mir waren, oder in der Notaufnahme am York.«

»Okay, Schatz, schön. Ich verstehe. Was kann ich tun? Ich möchte dich sowieso heute abend sehen. Deshalb habe ich angerufen.«

Das Telefon läutete und läutete. Harold war weggegangen, etwas zum Essen zu holen, und Smith ließ sich immer noch im Garten rösten. »Bleib einen Moment dran, Rick, entschuldige, daß ich dich darum bitte.« Sie drückte auf den Knopf und meldete sich. »Smith und Wetzon.«

»Wetzon, guten Tag, hier ist Leon. Ich muß mit Ihnen sprechen...«

»Leon, tut mir leid, ich spreche gerade auf einer anderen Leitung, und ich bin allein hier. Ich rufe sofort zurück.«

»Aber...«

Sie unterbrach die Verbindung und schaltete wieder zu Rick um, als Harold mit ihrem Lunch kam. Sie dirigierte ihn in den Garten. »Rick, ich bin heute abend zu einem Kontakttreffen im Caravanserie eingeladen.« Sie sah Harold etwas zu Smith sagen, und beide blickten zum Büro hin.

»Um wieviel Uhr?«

»Sechs. Können wir uns treffen?«

»Nicht vor sieben, aber wenn du die Nummer des Spinds und die Zahlenkombination hast, warum gibst du sie mir nicht durch, und ich besorge alles und treffe dich dann?«

»Wetzon, mach schon, du verpaßt die schönste Sonne.« Smith stand mit verschränkten Armen mißbilligend in der Tür.

»Eine Sekunde, Smith«, sagte Wetzon. »Ich unterhalte mich mit Rick.«

Smith rührte sich nicht.

»Okay, ich treffe dich um sieben im Salon unten. Kannst du hinkommen? Du kannst durch den Club hineingehen.«

»Ich weiß. Und ich merke, daß du nicht sprechen kannst«, sagte Rick. »Sag nur noch, weiß die Polizei von diesem Spind?«

»Ich glaube nicht.«

»Bis später, Süße.«

Sie legte auf und lächelte. Er hörte sich an wie ein Verbrecher, wenn er sie Süße nannte.

»Mit dir wird man nicht fertig«, sagte Smith. »Komm jetzt, ich bin am Verhungern.«

Komisch, dachte Wetzon. Normalerweise hätte sie mit Smith über das Streichholzheft gesprochen, und sie hätten gemeinsam eine Strategie ausgearbeitet, aber sie war sich noch nicht darüber klar geworden, was sie von Smith und dem Schlüssel hielt. Silvestri könnte ihnen eine Falle gestellt haben.

Die milde Sonne wirkte beruhigend. Wetzon hielt ihr dankbar das Gesicht entgegen. Sie brauchte etwas Tröstliches. Sie fühlte sich, als wäre sie zusammengeschlagen worden, körperlich und emotional. Aber heute abend würde es besser. Heute abend würde sie die Bänder bekommen und Silvestri überreichen. Und er würde merken, daß sie offen und ehrlich war und vielleicht sogar gescheit und aufregend. Sie zog die Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne.

»Wo bist du eigentlich?« fragte Smith. »Ich habe dich zweimal gerufen. Du siehst aus, als wärst du tausend Meilen weit weg. Dieser Dr. Dingsbums hat dir wirklich den Kopf verdreht.«

»Nein, ich fange gerade an abzuschalten, und Dr. Dingsbums wird aus meinem Leben so plötzlich verschwinden, wie er aufgetaucht ist.«

»Ach ja? Was ist los?« Smith’ Stimme war hinterhältig desinteressiert.

»Er hat eine Stelle als Leiter der Akutmedizin an einem Krankenhaus in San Diego gefunden.«

»Zu schade«, sagte Smith, aber sie hörte sich nicht sehr mitfühlend an. »Deine Karten weisen immer noch auf Gefahr hin. Ich mache mir Sorgen um dich.« Sie beugte sich vor und tätschelte Wetzons Hand. »Du mußt besser auf dich aufpassen.« Sie wirkte jetzt sehr aufrichtig. »Was ißt du?«

»Ei und Salat.«

Smith verzog das Gesicht. »Puh, Vogelfutter«, sagte sie. »Du solltest mehr Rindfleisch essen. Sieh doch selbst, wie dünn du geworden bist.«

»Bitte, Smith, ich habe dasselbe Gewicht wie immer, vielleicht ein paar Pfund weniger.«

»Hm«, sagte Smith. »Hast du für Howie Minton was vereinbart?«

»Ja, bei Shearson, D.L.J. und Bear.«

»Er wechselt doch nicht.«

»Ich glaube, diesmal tut er’s.«

»Ich glaube, er hetzt uns nur wieder mal durch die Gegend, aber wenn er wirklich wechselt, lade ich dich zum Abendessen im Four Seasons ein. Du hast jedenfalls ganz schön viel Zeit in all den Jahren in ihn investiert.«

»Was hast du heute in der Mache?«

»Es liegt ein Angebot an Bill Davis von Pru-Bache vor, aber Oppie will ihn.«

»Mit Bache macht Davis ein besseres Geschäft. Was hast du

ihm gesagt?«

»Daß er sich für die Art der Firma, in der er arbeiten möchte, entscheiden muß, ein großes, unpersönliches Haus mit vielen Filialen wie Bache oder eine erlesene Boutique wie Oppenheimer. Macy’s oder Martha’s.« Sie lachten beide über den Vergleich.

»Für uns ist es besser, wenn er zu Oppie geht.« Dort wurden Smith und Wetzon nach der künftigen Leistung des Maklers bezahlt, das heißt, wenn der Makler viel verdiente, verdienten auch sie viel. Wetzon hatte nichts dagegen einzuwenden, weil es eine Wette auf den Makler war. Sie erlebte selten eine Überraschung, wenn sie auf den Makler bei OpCo, Lehman oder Bear setzte. Es war im allgemeinen eine gute Wette. In solchen Firmen nahm eine gut bezahlte Verkaufsassistentin dem Makler den ganzen Papierkrieg ab, und er war frei und konnte verkaufen, verkaufen, verkaufen.

»Nur, wenn er ein gutes Jahr hat.«

»Stimmt. Was vom Markt abhängt. Also was soll’s. Es ist seine Entscheidung. Was meinst du, wohin er geht? Und geht er überhaupt?«

»Wer weiß? Er ist unglücklich bei Merrill, also tut er es vielleicht.« Sie drehte sich zu Wetzon um. »Schade, das mit dem Doktor.«

»Ist nicht schlimm. Du hattest recht bei ihm. Er paßt nicht zu mir.« Sie machte eine Pause. »Ehrlich.«

Wetzon rückte ihren Stuhl aus der Sonne. Zu viel so früh. Sie würde krebsrot werden. Nicht die beste Tönung für sie. Und ein Sonnenbrand hätte ihr jetzt gerade noch gefehlt. »Du triffst Leon in letzter Zeit ziemlich oft.« Es hatte sie überrascht, obwohl sie nicht wußte, warum. Sie machte sich im Geist eine Notiz, Leon nach dem Mittagessen anzurufen.

»Er möchte heiraten.«

»Machst du Witze?« Wetzon setzte sich auf, legte die Hand über die Augen und sah Smith an. »Meint er es wirklich ernst? Aber du...«

»Ich denke darüber nach.«

»Hm, das ist eine Neuigkeit.« Wetzon war nun erst recht überrascht. Smith schaute weg. »Möchtest du darüber sprechen?«

»Nein. Ich denke nur darüber nach. Er würde für mich sorgen — für uns. Er ist sehr erfolgreich. Manchmal wünscht sich eine Frau, daß jemand für sie sorgt...« Sie schien sich zu verteidigen.

»Was hält Mark davon?«

»Mark wird glücklich sein, wenn ich glücklich bin.«

Ganz so einfach sah Wetzon das nicht. Mark und Xenia hatten eine besondere Beziehung, fast wie Mann und Frau in einem gewissen Sinn. Der Junge könnte die Einmischung übelnehmen.

»Smith«, rief Harold, »Bill Davis, Apparat zwei.«

»Oh, prima«, rief Smith und sprang auf. »Vielleicht ist es das. Bin gleich wieder da, mit dem Zaster. Drück die Daumen.«

Daumendrücken. Was für ein Aberglaube. Sie hatte die Finger gekreuzt, als sie Howie Minton versprochen hatte, sie würde nichts über das Gespräch zwischen Barry und Mildred weitersagen, das er mitgehört hatte. Sollte sie es Silvestri sagen? Spielte es noch eine Rolle? Mildred und Barry waren tot. Wetzon ging widerstrebend wieder an ihren Schreibtisch. Sie hatte noch eine Menge Arbeit vor sich.

Bis zum Ende des Tages hatten sie das Geschäft mit Bill Davis unter Dach und Fach. Er hatte sich für Pru-Bache entschieden und würde in drei Wochen anfangen, was eine Provision von dreißigtausend Dollar für Smith und Wetzon bedeutete.

»Kein schlechter Tag«, meinte Wetzon kurz vor fünf.

»Nicht schlecht, aber ich bin tot, wenn du den Ausdruck entschuldigst«, sagte Smith mit einem übertriebenen Gähnen. Sie sah wirklich ein bißchen müde aus. »Ich gehe nach Hause und mache noch ein Schläfchen vor dem Essen. Kommst du mit?«

»Nein, geh nur schon.«

»Brauchst du Harold? Komm schon, Harold, es ist ein langer Tag gewesen, und du hast alles super in den Griff bekommen.« Harold sah Wetzon erwartungsvoll an. Er wollte mit Smith weggehen, sie ganz für sich haben. Er war so leicht zu durchschauen.

»Geh nur, Harold«, sagte Wetzon zu ihm. »Ich schließe ab. Ich treffe Rick gegen sieben«, sagte sie zu Smith.

»Oh, das hatte ich ganz vergessen. Dann guten Abend, Zuckerstück.« Smith umarmte sie und gab ihr einen Kuß, ganz wie in alten Zeiten.

Wetzon wusch sich das Gesicht und erneuerte ihr Make-up. Sie trug ihr schwarzes Wollkreppkostüm und eine weiße Seidenbluse. Der Kragen der Bluse war gekräuselt, und die Kamee ihrer Mutter sah an ihrem Hals sehr hübsch aus. Sie zog die Nadeln aus dem Haar und bürstete es, dann steckte sie es wieder hoch, jedoch nicht so straff wie vorher.

Der Good Humor-Mann, hatte Smith gesagt. Sie meinte natürlich Rick, weil er ein Arzt mit weißem Kittel war. Sie hatte ihn neulich in diesem weißen Kittel gesehen. Es schien so lange her, dabei war nicht einmal eine Woche vergangen.

Ihr Traum... der Good Humor-Mann in ihrem Traum... der eine Mickymausuhr trug und nur Pistazieneis verkaufte. Die Streiche, die einem das Unterbewußtsein spielte. Sie hatte den Good Humor-Mann im Traum nicht gemocht. Er hatte etwas Gemeines und Intrigantes an sich. Die weiße Jacke. Rick Pulasky. Nein. Es war zu albern. Es hatte nichts zu bedeuten. Es konnte nichts bedeuten.

Roberta müßte jeden Augenblick kommen. Robertas Anruf war so verwirrend gewesen. Wie könnte sie Robertas Leben retten? Das war es wieder. Sie hatte nicht nein zu einer Person sagen können, die sie kaum kannte. Aber Roberta hatte gesagt, daß es um Leben und Tod ging. Nein, sie würde es ablehnen, sich von Roberta noch weiter hineinziehen zu lassen, und außerdem würde Silvestri dabeisein.

Sie beschloß, zu Fuß zum Caravanserie zu gehen, wenn die Sache mit Roberta erledigt war. Es war noch hell, und es würde ein angenehmer Spaziergang werden. Ihre Finger tasteten nach dem Streichholzheft in der Tasche. Nur zur Beruhigung.

Vielleicht war es doch eine Nummer zu groß für sie, um es allein zu tun. Vielleicht sollte sie es Silvestri sagen, wenn er käme. In der Stille des leeren Büros dachte sie darüber nach. Sie schloß die Tür zum Garten ab und ließ die Jalousien herunter. Ach, verflixt, sie war ein Idiot. Ja. Sie würde es Silvestri sagen und sich aus der Sache heraushalten. Schließlich war er der Profi. Sie spürte plötzlich einen starken Drang, es ihm sofort zu sagen, obwohl sie wußte, daß sie ihn bald sehen würde. Auf diese Weise wußte er es, bevor er ins Büro kam und sich mit Roberta befassen mußte.

Sie suchte in ihrer Handtasche nach seiner Karte, konnte sie nicht finden und rief schließlich wieder die Auskunft an.

Die Vermittlung antwortete: »Siebzehntes Revier« und stellte sie nach oben durch.

»Metzger.«

»Sergeant Silvestri bitte.«

»Er ist im Moment nicht hier. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

»Sagen Sie ihm nur, daß Leslie Wetzon angerufen hat. Er wird schon auf dem Weg hierher sein... Macht nichts. Ich sage es ihm, wenn er herkommt.«

»Wohin?«

»Hierher — in mein Büro — zu dem Treffen, das Roberta Bancroft ausgemacht hat.« Es trat eine sonderbare Pause ein. »Detective Metzger?«

Er kam wieder an den Apparat, »’tschuldigung«, sagte er knapp, mit den Gedanken ganz woanders. Die Leitung war tot.