Die Nummer 61 am Broadway war ein wunderschönes Art-deco-Gebäude. Die Haupttür hatte in Bronze gelegte geometrische Muster aus Messing, ähnlich den bunten Glasfenstern von Frank Lloyd Wright, die sich im Metropolitan Museum befanden. Die Halle war offenbar vor kurzem restauriert worden, alles Messing auf Hochglanz poliert, die Verzierungen und Randleisten klar hervorgehoben. Sie wartete in der Halle auf den Aufzug. Es war nicht viel Kommen und Gehen um diese Tageszeit. Als sich die Aufzugtüren öffneten, trat ein Mädchen in einem dezenten Jeansanzug schwungvoll heraus, sah Wetzon und wollte sich mit gesenktem Kopf wegstehlen. Buffie. Es war Buffie. Wetzon ging ihr nach und verstellte ihr in der Nähe des Zeitungsstands den Weg.

»Buffie. Was machen Sie hier?«

Buffie sah sie von oben herab an, indem sie ihr Haar, heute als Pferdeschwanz, zurückwarf. »Es hat nichts mit Ihnen zu tun.«

»Haben Sie Barrys Sachen gefunden? Kommen Sie aus Mildred Gleasons Büro?«

Buffie schüttelte störrisch den Kopf. Ihr Mund war eine schmale, harte Linie.

»Sie dummes Ding. Zwei Menschen sind ermordet worden.« Die gierige Dummheit des Mädchens machte Wetzon wütend. »Überlassen Sie das der Polizei. Ich hoffe, Sie haben denen gestern von der »Versicherung« und Barrys Schreiberei erzählt?«

»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte Buffie und stieß Wetzon weg. »Das geht Sie nichts an.«

Schockiert von Buffies heftiger Reaktion taumelte Wetzon gegen die Zeitschriften und ließ ihre Aktentasche fallen. Als sie den Kopf hob, war Buffie verschwunden. Sie benahm sich völlig anders als die Buffie von gestern. Keine Schwäche, keine Tränen. Nichts Zerbrechliches an ihr.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Wetzon zu dem Zeitungsverkäufer, einem alten Mann mit weißem Haar und blassen Augen, dessen knollige Nase buchstäblich mit blauen Adern verziert war. Sie hob ihre Aktentasche auf.

»Was es heutzutage alles gibt«, sagte der Zeitungsverkäufer mit einem leichten irischen Akzent.

Sie betrat den Aufzug so tief in Gedanken versunken, daß sie vergaß, auf den Knopf für den fünften Stock zu drücken, und der Aufzug hielt an, um im zehnten jemanden mitzunehmen. Na gut, sie würde die Fahrt nach oben mitmachen, und sie wartete ungeduldig, bis der Aufzug andere Leute auf den übrigen Stockwerken einlud. Der Aufzug war ebenfalls ein Kunstwerk, Bronze und Messing, elegante geometrische Linien, und in der Tatsache, daß er über all die Jahre so gut gepflegt worden war, zeigte sich ein Sinn für Geschichte und Tradition. Es bedeutete »altes Geld« und »Sie können sich auf uns verlassen«. Gewiß, dachte Wetzon. Dann: Du wirst zynisch, altes Haus.

Der Empfangsraum von M. Gleason & Co. bot ebenfalls jenen vertrauenerweckenden Anblick. Holztäfelung, alte englische Möbel, Mahagoni und Nußbaum, dunkles Holz und auf dem Boden ein Orientteppich. Die Empfangsdame, eine attraktive ältere Frau mit einer Fülle von weißem Haar, das zu einem traditionellen Nackenknoten gerollt war, grüßte sie sehr freundlich, doch geschäftsmäßig. »Guten Tag. Was kann ich Sie tun?«

»Ich bin um halb drei mit Mildred Gleason verabredet.«

»Ihr Name?« Sie hatte ein großes Notizbuch aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegen.

»Leslie Wetzon.«

»Ah, ja.« Sie strich Wetzons Namen im Buch aus. »Geben Sie mir Ihren Mantel, und nehmen Sie noch einen Moment Platz. Ich lasse Miss Gleasons Assistentin wissen, daß Sie warten.« Als die Frau aufstand, läutete das Telefon.

»Vielen Dank«, sagte Wetzon. »Ich mache das selbst. Ist das der Schrank?« Sie zeigte auf eine geschlossene Tür beim Eingang.

Die Frau nickte. »Mildred Gleason und Co., guten Tag«, sagte sie ins Telefon.

Der Schrank verströmte einen schwachen Blumenduft. Wetzon hängte ihren Burberry neben einen schwarzen Ledertrenchcoat und ließ sich auf einem chintzbezogenen Ohrensessel nieder. Die frauliche Note, dachte Wetzon chauvinistisch, aber es störte sie nicht. Die Welt des Anlagengeschäfts war wie ein einziger großer privater Männerklub, eine Bruderschaft, die zähneknirschend einige Frauen zuließ, aber nur, weil man sie heutzutage physisch nicht fernhalten konnte. Aber psychologisch und in der Realität waren Frauen Außenseiter und würden es bleiben. Alles in der Branche, bis zum Dekor, war männlich ausgerichtet. Sie gratulierte Mildred im Geist, daß sie sie selbst war.

Die Empfangsdame schien Probleme zu haben, zu Mildreds Assistentin durchzukommen. Sie wählte mehrere Male und ließ es läuten. Schließlich sagte sie: »Ich kann Miss Bancroft, Miss Gleasons Assistentin, nicht erreichen, ich rufe also Miss Gleason direkt an... Oh, Miss Gleason... ja. Ich komme nicht zu Bobbie durch... ach so... Miss Wetzon ist hier... ja... schön.« Sie legte auf, lächelte Wetzon an und erhob sich. »Wenn Sie bitte hier langgehen möchten.« Sie öffnete die Tür in einen breiten, hellen Korridor, der mit dickem grauen Plüsch ausgelegt war. »Durch diesen Korridor, am Ende nach rechts und geradeaus. Miss Gleason befindet sich am anderen Ende des Korridors.« Sie trat zur Seite und ließ Wetzon durchgehen. Die Tür schloß sich hinter ihr mit einem leisen Klick.

Wie anders war das als Jake Donahues Firma. An den Wänden hingen alte Drucke in der Art von Currier und Ives. Vielleicht waren sie sogar echt. Schließlich war Mildred Glea-sons Vater in den vierziger Jahren einer der großen Regenmacher der Wall Street gewesen. Wetzon ging langsam und sah dabei in die Büros, die sich auf den Korridor öffneten. Die recht geräumigen Büros waren für einen, manchmal zwei Makler eingerichtet. Alle Türen standen offen, und die marktübliche Hektik drang in einer leisen Unruhe zu ihr, nicht in einem Tohuwabohu wie bei Jake. Alles sehr geschäftsmäßig. Die Stimmen waren gedämpft, und sogar die Telefone läuteten mit leisen brrrs.

Sie bog rechts um die Ecke und ging durch einen weiteren angenehmen Raum, noch mehr Drucke von Currier und Ives, offene Türe zum Korridor. Das leise Gesumme der Stimmen folgte ihr. Die Tür am Ende des Korridors stand halb offen, und Wetzon blieb stehen. Sie hörte ärgerliche Stimmen. Frauenstimmen.

»Sie werden nichts zahlen. Ich lasse es nicht zu. Merken Sie nicht, daß sie lügt? Man sieht es ihr doch an, daß sie es nicht hat.«

»Sie wollen es nicht zulassen? Nun aber langsam. Vergessen Sie, wer Sie sind? Wer ich bin?« Die tiefe krächzende Stimme gehörte Mildred Gleason.

Dann sprach eine Weile keiner. »Ich könnte das nie im Leben tun. Sie würden es mich nie vergessen lassen — keine Minute.« Etwas, ein Buch vielleicht, knallte auf eine harte Fläche. »Oh, Gott, mein Kopf bringt mich noch um.«

»Bobbie, bitte seien Sie nicht böse.« Gleasons Stimme bettelte. »Das macht den Schmerz doch nur schlimmer. Und für mich — für uns — steht so viel auf dem Spiel.« Wieder trat eine lange Pause ein. »Sie bedeuten mir soviel.«

Die andere Stimme antwortete: »Manchmal haben Sie eine seltsame Art, es zu zeigen...«

Die Stimmen senkten sich zu Gemurmel.

Wetzon spürte Gewissenbisse, daß sie lauschte. Es war eine sonderbare Unterhaltung für zwei Frauen, es sei denn, sie hätten ein Verhältnis. Tatsächlich hatte sie sich Mildred Gleason nie mit einem Geschlechtsleben vorgestellt, obwohl sie mit Jake Donahue verheiratet gewesen war, der als Schürzenjäger bekannt war. Sie klopfte an die Tür.

»Herein, bitte.« Mildred Gleason stand auf und kam mit ausgestreckten Händen um den Schreibtisch herum. Sie trug einen maßgeschneiderten schwarzen Wollgabardinerock, eine rosa Seidenbluse und einen schwarzen Krokogürtel mit großer goldener Schnalle. »Ich bin so dankbar, daß Sie kommen konnten. Hier, bitte, wenn Sie sich auf das Sofa setzen möchten...«

Wetzon betrat einen Raum voller Antiquitäten. Ein schöner alter Schreibtisch stand vor den Fenstern, und auf dem Boden lag ein sehr großer Perserteppich. Die Jacke zu dem schwarzen Gabardinerock lag, das Bild störend, auf der Tischplatte, als habe Mildred sie gerade ausgezogen. Die Jalousien vor den Fenstern waren schräggestellt, so daß der Raum in gedämpftes Licht getaucht war.

Die andere Frau saß in der Ecke gegenüber auf einem Ohrensessel, der dem im Empfangszimmer ähnelte. Sie trug etwas tief Olivgrünes und stand nicht auf. Wetzon konnte kaum die Perlenketten unterschiedlicher Länge auf dem vollen Busen erkennen. Es war schwierig, das Alter der Frau einzuschätzen, weil sie ein dunkle Brille und einen gemusterten Seidenturban trug, der den Grünton der Kleidung aufgriff und das Haar vollständig bedeckte. Ohne auf Wetzon zu achten, stöhnte sie leise und preßte eine lange, schmale Hand gegen die Schläfe.

»Das ist meine Assistentin, Roberta Bancroft. Sie leidet schrecklich unter Migräne. Sie stören sich hoffentlich nicht daran, wenn sie hierbleibt, während wir uns unterhalten. Ich habe keine Geheimnisse vor Bobbie.« Mildred lächelte ihre Assistentin, die wieder stöhnte, liebevoll an. »Deshalb haben wir die Jalousien heruntergelassen. Licht ist eine Qual für sie. Sie haben doch nichts dagegen?«

»Überhaupt nicht.« Wetzon sah Roberta mitfühlend an, bemüht, sie nicht anzustarren. Da war etwas... etwas an ihr... »Sind wir uns schon einmal begegnet, Miss Bancroft?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Roberta leise. »Verzeihen Sie, es ist so quälend für mich, zu sprechen.« Sie bot ihr nicht die Hand.

Wetzon nahm auf dem Sofa Platz, und Mildred setzte sich rechts von ihr auf einen Chippendalestuhl. Auf dem Teewagen stand ein silberner Dreifuß mit einem Kristallkrug, in dem anscheinend Zitronenscheiben in Wasser schwammen. Daneben standen ein kleiner silberner Eiswürfeleimer und ein paar hübsche Kristallkelche, vermutlich alles Waterford.

»Ich habe ständig einen Krug hier stehen«, sagte Mildred mit einem Blick auf das Wasser. »Es bekommt mir viel besser als Kaffee. Ich werde zu aufgedreht von Kaffee. Möchten Sie etwas? Es ist normales Wasser, gutes New Yorker Leitungswasser.«

»Ja, gern. Sie haben ein sehr hübsches Zimmer, Mildred.«

»Danke. Es ist mein Heiligtum, nicht wahr, Bobbie?« Trotz ihrer zur Schau gestellten Gelassenheit zitterten Mildreds Hände, als sie den Kristallkrug hob, und ein wenig Wasser schwappte über den Kelchrand. Ihr Augen saßen tief in den Höhlen und waren rot umrändert. »Oh, ich bin heute nicht ganz da«, fuhr sie müde fort, während sie das verschüttete Wasser mit einer Leinenserviette aufwischte. Sie sah abgespannt aus, weiß und nervös, wenngleich auf seltsame Weise nicht so schlecht wie damals, als Wetzon sie im Harry’s kennengelernt hatte. Ihre Nase schien damals plumper, ihr Kinn weniger scharfgeschnitten. Jetzt wirkte ihr Gesicht voller und jünger.

Klar, dachte Wetzon, Mildred hatte sich bestimmt liften lassen, und sie hoffte nur, daß sie sie nicht angeglotzt hatte. Sie stellte ihre Aktentasche auf den Boden neben das Sofa und nahm einen Schluck von dem Zitronenwasser. Es war gut.

Roberta veränderte mehrmals ihre Haltung, schlug mal das eine, mal das andere schlanke Bein über, sprach nicht, sandte aber Wellen der Ungeduld aus. Mildred Gleason, die sie ängstlich beobachtete, stand auf, wobei die goldenen Armbänder an ihren schmalen Handgelenken klirrten. Ihre Finger spielten mit der schweren goldenen Halskette. Zwei kleine dunkle Schweißflecke zeigten sich unter den Ärmeln an ihrer rosa Seidenbluse. Sie schloß die Tür zum Korridor und lehnte sich dagegen, als müsse sie wieder zu Atem kommen. Ein Fernschreiber gurgelte und piepte wie ein Kochtopf. Wetzon hatte schon lange keine Apparate wie diesen gesehen. Die meisten Firmen hatten auf das Quotron-Infosystem umgestellt. Sie hatte gute Beine, dachte Wetzon, deren Gedanken immer wieder abschweiften.

»Ich... äh... Barry...« begann Mildred. Das Telefon läutete. Sie eilte hin und nahm ab. »Keine Anrufe... habe ich nicht gesagt, keine Unterbrechungen?... Ach so... warum werde ich damit belästigt, Bobbie?« Bobbie antwortete nicht. Mildred schien sich, während sie sprach, immer mehr aufzulösen, wie sie sich da auf den Schreibtisch stützte, die Haare wegstehend, ihr Make-up verlaufend, die Schweißflecke auf der hübschen Bluse. Immer noch über den Schreibtisch gebeugt, zündete sie eine Zigarette an. »Wer? Ach... Ich muß ihn zurückrufen... wie war der Name?... Sagen Sie ihm, halb fünf würde passen. Nein, keine Unterbrechungen.« Sie legte auf. »Entschuldigen Sie... oje, diese beiden letzten Tage... Gott, wo war ich stehengeblieben?« Sie richtete sich auf, während sie redete. Asche fiel auf ihren dunklen Rock.

»Barry.«

»Ja. Barry. Das war eben die Polizei. Ein Detective Silvestri möchte mich heute um halb fünf treffen.« Wetzon hatte das eindeutige Gefühl, daß Mildred mit Bobbie redete, obwohl sie nur sie ansah.

»Sie? Warum?« fragte Wetzon.

»Wissen Sie nicht? Sie müssen es wissen...«

»Natürlich weiß sie es.« Aus Bobbies Stimme sprach tiefe Verachtung. Sie regte sich nicht.

»Entschuldigung. Sie verwirren mich. Ich weiß nicht, warum Sie mich sehen wollten. Wenn Sie mir vielleicht sagen könnten, worum es hier geht?« Mildreds Nervosität war ansteckend. Wetzon sah, daß Bobbie trotz ihrer Migräne wie ein Stein mit ihren dunklen Gläsern dasaß und die Arme einschüchternd verschränkt hatte.

»Ich hörte es«, sagte Mildred Gleason verwirrt. »Ich hörte, wie er ermordet wurde, und ich konnte nichts tun. Ich wußte, Sie würden es verfolgen. Ich habe Sie erwartet. Mein Gott, es war furchtbar. Ich hörte, wie er ermordet wurde.«

In der Ecke gab Bobbie ein rauhes Geräusch von sich, das sich wie eine Mischung aus Husten und Lachen anhörte.

»Sie... Barry? Barry telefonierte mit Ihnen, als er ermordet wurde? Warum?« Wetzon war verblüfft. Was bedeutete das? Eines bedeutete es mit Sicherheit: Falls Mildred wirklich über das Telefon gehört hatte, wie Barry getötet wurde, hatte sie ihn nicht ermordet.

Mildred verstreute mit einer hastigen, nervösen Handbewegung noch mehr Asche. »Er hat für mich gearbeitet. Wir haben an einer Sache gearbeitet, ein Geschäft, nebenbei...«

»Ich hab’ gesagt, du sollst ihm nicht trauen. Er war ein verlogenes Miststück.« Bobbie gab sich keine Mühe, ihre Verachtung zu verbergen. »Er hat ein falsches Spiel mit uns getrieben.«

Mildred zündete am Zigarettenstummel eine neue Zigarette an und drückte die erste krampfhaft aus. Sie sah Bobbie ärgerlich an. »Es war ein Geheimnis.« Sie kam ein Stück auf Wetzon zu. »Sie müssen mir helfen, Leslie. Ich darf doch Leslie sagen?« Sie setzte sich auf die Sofalehne, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ich weiß, daß Sie mir helfen können, und ich bin verzweifelt. Es wird sich für Sie lohnen. Ich bin eine reiche Frau... und ich bin sehr großzügig zu meinen Freunden.«

»Du meine Güte«, sagte Bobbie. »Ja, bestimmt, das ist sie.« Wetzon war von beiden Frauen abgestoßen. »Ich würde Ihnen gern helfen, Mildred, aber ich wüßte nicht, was ich...«

»Sie können mir weitergeben, was er Ihnen gesagt hat. Ich weiß, Sie standen sich nah. Er hat immer große Stücke auf Sie gehalten.«

»Aber er hat mir nichts gesagt, nur daß er in großen, in sehr ernsten Schwierigkeiten steckte. Außerdem standen wir uns nicht nah«, korrigierte Wetzon ärgerlich.

»Sie verschweigen etwas. Das kann nicht alles sein. Versuchen Sie, sich zu erinnern«, rief Mildred, indem sie sich zu Wetzon beugte und mit ihrer Zigarette herumfuchtelte. Der Rauch brannte in Wetzons Hals. »Oder Sie treiben vielleicht Ihr Spiel mit mir.« Es klang wie eine Drohung. Wetzons Nackenhärchen sträubten sich. »Ich mag keine Spielchen.«

Bobbie stand halb auf, stöhnte und sank wieder auf den Sessel. Gleason sprang zu ihr und packte ihre Hand. »Mildred hoffte, Barry würde es weit bringen«, sagte Bobbie weich. »Sie ist so ein lieber Mensch. Er hatte Probleme mit Jake, nicht, Mildred? Wir wissen alle, daß Jake ein Lügner und Dieb ist. Barry besuchte Mildred als Freund. Jake hatte seine Abmachung mit Barry nicht eingehalten. Was einen nicht überrascht. Ich glaube, das war alles, stimmt’s, Mildred?« Mildred, die Bobbies Hand immer noch umklammerte, wurde sichtlich ruhiger. Bobbie fuhr fort: »Wir glauben, Barry bekam irgend etwas über Jake heraus, und Jake brachte ihn deshalb um. Er ist ein gewalttätiger Mann, der vor nichts zurückschreckt, um zu bekommen, was er will.« Sie sprach fiebrig erregt. Ihre Gesichtszüge verwischten sich in der dämmrigen Beleuchtung.

»Ja«, sagte Mildred, indem sie sich losmachte und unruhig das Zimmer abschritt. »Jake könnte es getan haben. Er ist zu allem fähig. Vertrauen Sie mir. Deshalb muß ich wissen, wo Barry...« Sie hielt abrupt inne und setzte sich neben Wetzon aufs Sofa.

Roberta gab ein winselndes Geräusch von sich.

»Mildred, ich weiß es wirklich nicht. Er fing an, von Rückkaufabsprachen zu reden...« Wetzon rutschte unruhig hin und her und versuchte, von ihr abzurücken. Aus dieser Nähe erschien Mildred Gleason unglaublich mißgünstig, wie die lebendig gewordene Vorstellung eines Kindes von einer Hexe. Und Robertas anhaltendes Gestöhne war unheimlich. Wenn sie solche Qualen litt, warum blieb sie dann bei ihnen sitzen?

»Reden Sie weiter... das ist es nicht, aber reden Sie weiter«, drängte Mildred, während sie Wetzon mit ihrem starken Raucheratem einhüllte. Wetzon wich zurück.

»Das ist alles. Er fragte mich, ob ich wüßte, was das ist, und ich sagte nein, und er begann es zu erklären.«

Mildreds Gesicht zuckte krampfartig. »Nein, es muß mehr sein. Er muß noch was anderes gesagt haben. Erwähnte er, was er für mich tat?«

»Nein, er erwähnte Sie überhaupt nicht. Er war sehr aufgeregt. Mehr als das, er war in großer Angst. Er sagte, er müsse telefonieren gehen, und ging weg.«

»Die Bänder erwähnte er nicht?«

»Bänder? Was für Bänder?« Wetzon erinnerte sich an die Kassette aus dem Diplomatenkoffer, die sie und Smith angehört hatten. Sie waren also für Mildred Gleason aufgenommen worden. Und irgendwo gab es noch andere. »Nein.« Wetzon schüttelte den Kopf. Sie wünschte, Gleason würde diese scheußliche Zigarette ausdrücken. »Nein, er hat weder Bänder noch Sie erwähnt.«

Roberta stand auf, ein großer, schmalhüftiger Schatten, und stützte sich auf die Rücklehne des Sessels, als wolle sie hinausgehen.

»Hatte er irgend etwas bei sich?« Mildreds Aufmerksamkeit pendelte beunruhigt zwischen Wetzon und Roberta.

»Nur seinen Diplomatenkoffer.«

»Wo ist er? Das ist es!« rief Mildred aufgeregt und umklammerte ihren Arm. »Was haben Sie damit gemacht?«

»Bitte, Sie tun mir weh.« Wetzon zog ihren Arm weg. Sie überlegte schnell. Sie hatte keine Lust, den Unfall im Park und den Diebstahl zu erklären. »Warum sollte ich ihn behalten? Die Polizei hat ihn.«

»Verdammt!« Mildreds rauhe Stimme überschlug sich. »Das war meine große Chance. Eine wie die bekomme ich nie mehr.« Ihre nervösen Finger zerrten an der goldenen Gürtelschnalle.

»Das ist eine ungeheure Zeitverschwendung«, verkündete Roberta mit lauter Stimme.

»Was hat Barry Ihnen am Telefon gesagt?« fragte Wetzon, indem sie Roberta mit ungutem Gefühl beobachtete.

»Ich will mir das nicht noch mal anhören müssen«, sagte Roberta. Sie machte eine Seitentür auf, ging durch und schloß sie hinter sich.

»Tut mir leid«, sagte Mildred. »Sie meint das nicht beleidigend. Es ist nur diese scheußliche Migräne, und sie ist so durcheinander wegen allem, was passiert ist.« Sie zog kräftig an der Zigarette, hustete und stieß beißenden Rauch aus.

»Verstehe«, sagte Wetzon, die versuchte, Mitgefühl zu zeigen, was ihr aber nicht gelang. Übelkeit überfiel sie. Sie schüttelte den Kopf. »Sie wollten mir berichten, was Barry gesagt hat.« Ihre Stimme klang gezwungen.

»Er kam nicht bis zum Ende... er sagte... >Das Schwein, wir sind im Arsch...<, dann lachte er sein irres Lachen... >aber ich habe die Bänder.< Ich sagte, >Was für Bänder, Barry?< Er hatte mir nämlich nie gesagt, wie er es machen wollte. Dann sagte er, >Was machst du... bist du wahnsinnig?< Dann stieß er Laute aus, schreckliche Laute, dann war es still.«

Eine Toilette wurde gespült. Wetzon erschrak.

»Ich konnte die Verbindung nicht trennen«, fuhr Mildred fort, ohne auf das Geräusch zu reagieren. »Ich versuchte aufzulegen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich wußte, daß etwas Furchtbares passiert war. Ich wußte auch, daß die Polizei schließlich auf mich stoßen würde... Ich brauchte Zeit... um nachzudenken... ich konnte sie nicht gleich anrufen, verstehen Sie...«

»Sie hätten es sofort tun müssen.«

Mildreds schmallippiger Mund zuckte über glatten, weißen, überkronten Zähnen. »Was ändert das jetzt noch? Ich hätte diese Bänder zuerst bekommen müssen... sie waren meine letzte Chance...« Ihre Stimme verlor sich. Ihr Gesicht verfiel vor Hoffnungslosigkeit und Mißerfolg. Ihr Haut hatte einen gelblich grauen Ton angenommen.

Wetzon stand auf. »Vielleicht hat die Polizei sie«, sagte sie. Sie war lange genug hiergewesen.

»Nein, Barry war viel zu raffiniert... er dürfte sie woanders versteckt haben. Mein Gott, ich war so nahe dran. Noch eine Woche, meinte er, und wir hätten Jake da gehabt, wo wir ihn haben wollten. Er hatte den ganzen Winter daran gearbeitet. Er sagte mir nicht, wie oder was. Er war so schlau. Ich wollte es nicht wissen. Ich wußte bis zu dem Anruf nicht einmal von den Bändern.«

»Ich verstehe leider nicht ganz.«

»Begreifen Sie nicht? Die Bänder. Sie hätten dieses betrügerische Schwein Jake Donahue fertiggemacht, begreifen Sie? Es wäre alles vorbei gewesen.« Sie schlug die Hände vors Gesicht.

Laute Stimmen kamen von draußen. Eine Frau schrie wütend, eine Tür knallte zu. Der Lärm aus dem Korridor kam näher.

Trotz ihres Abscheus empfand Wetzon ein wenig Mitleid mit Mildred Gleason. Sie legte ihre Hand auf Mildreds gebeugte knochige Schulter. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen konnte, Mildred.« Sie ging zur Tür. Gewiß, Barry war so schlau gewesen, daß er sich ermorden ließ.

Die Tür flog ohne Vorwarnung auf, und ein bullig gebauter Mann stand mit hochrotem Kopf da. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt, und an seiner Stirn klopfte eine dicke Ader. »Verdammte alte Fotze!« schrie er und ging mit der Faust auf Mildred los, die genauso wütend aufsprang. Jake Donahue.

Wetzon wich ihm aus. In letzter Zeit befand sie sich anscheinend ständig in der Schußlinie.

Makler und anderes Personal stürzte vom Korridor in den düsteren Raum, die Männer packten Jake und zogen ihn von Mildred weg.

Wetzon steuerte auf die Tür zu. Sie wollte hier ganz bestimmt nicht Silvestri über den Weg laufen.

»Ich bring’ dich um, hörst du, alte Hure. Du läßt die Finger von meinem Geschäft, oder ich bring’ dich um!«

»Scheißkerl, Scheißkerl!« kreischte Mildred. »Raus hier!« Sie schlug nach ihm mit Händen wie Krallen, zerkratzte sein Gesicht, bevor sie zurückgerissen wurde.

Es drängten sich jetzt so viele Leute im Büro, daß niemand bemerkte, wie Wetzon sich verdrückte. Jake würde Mildred nicht umbringen, und alle würden ihm gut Zureden und nach Hause schicken. Er hatte Mildreds Allerheiligstes besudelt, und das genügte, daß sie ausrastete. Wetzon konnte Mildred zusammenhanglos schreien hören, als sie unbemerkt aus dem Büro schlich.

Das Traurigste von allem war, daß niemand um Barry trauerte, nicht einmal sie, dachte Wetzon, als sie ihren Burberry aus dem Schrank im Empfangszimmer holte. Der schwarze Ledertrenchcoat, der daneben gehangen hatte, war nicht mehr da.