Wetzon brachte den Diplomatenkoffer ins Wohnzimmer und stellte ihn neben der großen schwarzen Marmorplatte eines Couchtischs ab. Und da waren Smith’ Tarock-Karten auf dem Tisch ausgebreitet, als hätte sie sie gerade aufgelegt. Großartig. Silvestri würde glauben, sie und Smith seien Spinner.
Das war eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem Showbusineß und der Maklerbranche. Jeder hatte einen Astrologen, ein persönliches Medium, eine Kartenleserin, einen Zahlendeuter und probierte immerzu neue aus. Ein sehr ehrlicher, außerordentlich erfolgreicher Börsenmakler hatte Wetzon einmal allen Ernstes erzählt, daß er nur Aktien kaufte, wenn er vorher mit Miranda gesprochen hatte.
»Miranda?« hatte sie zu fragen gewagt.
»Mein Medium«, hatte er erwidert.
»Ich koche eine Kanne Kaffee«, rief Smith aus der Küche.
Wetzon tappte ins Schlafzimmer, um ihre Schuhe anzuziehen. Sie betrachtete sich im Spiegel über Smith’ Kommode. Sie sah schrecklich aus. Abgespannt. Ihr Haar löste sich. Wo hatten sie diese Haarnadel hingelegt? Sie fand sie auf dem Teppich, wo sie den Koffer geöffnet hatten, und versuchte, die losen Strähnen festzustecken.
Die Türklingel läutete wieder, diesmal energischer, und da Smith nicht reagierte, ging Wetzon an die Tür, indem sie unterwegs ihre Bluse glattstrich und den Rock geraderückte. Ihre Kostümjacke lag, wo sie sie hingeworfen hatte, als sie hereingekommen war — in der Unordnung auf Smith’ Bett.
»Na, was war denn so wichtig, Miss Wetzon?« fragte Silvestri, als sie die Tür aufmachte. Er hatte die Hände in den Taschen und sah müde aus. Der Schatten eines dunklen Bartes machte sein Gesicht härter. Seine Augen waren nichtssagend und dunkel. Unpersönlich. Ärgerte er sich, weil sie ihn belästigte?
»Entschuldigung, daß ich Sie habe warten lassen«, sagte Wetzon. »Ich habe nicht so früh mit Ihnen gerechnet, und ich war nicht angezogen. Und entschuldigen Sie, daß ich Sie so gedrängt habe herzukommen.« Sie plapperte dahin, aber sie konnte nicht anders. »Sie hatten bestimmt einen langen Tag, aber ich hätte mich nicht wohl gefühlt, wenn ich damit gewartet hätte. Es ist da drin.« Sie bemühte sich, geschäftsmäßig und knapp zu sein, ebenso wie er.
Sie dirigierte ihn ins Wohnzimmer, das nicht, wie normalerweise bei Smith, unaufgeräumt war. Nun ja, nicht ganz. Ein Paar Reeboks stand neben dem Sofa, und auf dem Berberteppich stapelte sich die übliche Menge Zeitschriften — Forbes, Vogue, Fortune, People, New York und Cosmopolitan. Smith hatte bei Zeitschriften einen erlesenen Geschmack.
Das ausladende, aus Elementen bestehende L-förmige Sofa hatte einen Bezug aus rehbraunem Struktursamt.
Silvestri sah sich erwartungsvoll um. Verlockender Kaffeeduft erfüllte das Zimmer. Seine Nasenflügel zuckten.
»Es geht um den Diplomatenkoffer«, sagte Wetzon.
»Was ist damit?« fragte er.
Smith rauschte ins Zimmer und stellte ein Tablett mit Kaffee und Geschirr auf den Marmortisch. »Sie müssen Detective Silvestri sein«, sagte sie mit ausgesuchter Freundlichkeit. «Ich bin Xenia Smith.« Sie gab ihm die Hand. »Es freut mich Wirklich, Sie kennenzulernen.«
Silvestri war sichtlich verblüfft. Er starrte sie an, wobei er immer noch ihre Hand hielt. Sie lächelte ihn an, dann ihre Hand. Er erwiderte ihr Lächeln, gab ihrer Hand mit seiner freien Hand einen kleinen Klaps und ließ sie los. Wetzon hatte er nicht in dieser Weise angelächelt.
Er fing sich und wandte sich wieder an Wetzon. »Der Diplomatenkoffer?«
»Oh, Entschuldigung. Dieser Diplomatenkoffer.«
Er betrachtete den Koffer, dann sie und war verwirrt.
»Ich versuchte, es Ihnen zu sagen und dann Jimmy Lyons, als er mich herbrachte, daß es nicht meiner ist. Er gehört Barry.«
»Verstehe. Und was haben Sie damit gemacht?« Etwas an Silvestris Ton bereitete Wetzon ein schlechtes Gewissen. Er war von ihr enttäuscht. Sie hätte sich mehr und früher anstrengen müssen, ihm mitzuteilen, daß es nicht ihrer war.
Smith lächelte. »Aber, aber, Detective Silvestri, Wetzon entdeckt nicht jeden Tag eine Leiche. Besonders von einem, den sie so gut kennt. Es war ein ganz schöner Schock, meinen Sie nicht auch?«
Warum behauptete Smith, daß sie Barry so gut kannte? Smith wußte, daß das nicht stimmte. Und es ließ Wetzon so dastehen, als habe sie etwas zu verbergen. Schließlich hatte sie Silvestri schon erzählt, daß sie Barry kaum kannte.
»Barry ließ ihn bei mir stehen, als er telefonieren ging«, verteidigte sich Wetzon. »Als er mich so lange warten ließ, wollte ich ihm den Koffer runterbringen... und fand ihn. Dann nahmen alle an, es sei meiner, und jedesmal, wenn ich daran dachte und es Ihnen sagen wollte, waren Sie beschäftigt oder wurden weggerufen, und ich vergaß es einfach.« Was sie sagte, hörte sich nach einer typischen schwachen Entschuldigung an — wenigstens in ihren Ohren.
Silvestri ging zum Koffer und hob ihn an. »Werden wohl keine anständigen Fingerabdrücke mehr darauf sein«, sagte er. «Ich dachte schon, ein ziemlich schwerer Koffer für so eine zierliche Dame. Ich trinke jetzt gern eine Tasse Kaffee... schwarz.« Er lächelte Smith an, die vertraulich zurücklächelte. »Er riecht phantastisch.«
Smith hatte eine weitere Eroberung gemacht. Wetzon schenkte den Kaffee ein. Auf dem Tablett stand ein Teller mit Gebäck. Wetzon konnte diese fertiggekauften, abgepackten Plätzchen nicht ausstehen. Sie waren voll von Chemie und künstlichen Zutaten. Smith störte sich nicht an solchen Dingen.
Silvestri saß auf dem Sofa, und Smith rollte sich auf dem dazu passenden gepolsterten Hocker ihm gegenüber zusammen. »Wollen Sie ihn nicht aufmachen?« fragte sie begierig.
Wetzon reichte ihm eine Tasse Kaffee. Silvestri sah Smith an.
»Nein, ich hätte gern die Leute vom Labor dabei, wenn wir ihn aufmachen.« Sein Blick wanderte von Smith zu Wetzon. »Sie haben ihn nicht zufällig geöffnet?«
Wetzon goß geschäftig Kaffee in die zwei anderen Tassen und brachte es fertig, sich so zu stellen, daß sie ihn nicht ansehen konnte. »Wir? Aber nein«, antwortete Smith unschuldig. »Der Koffer ist doch ein Beweisstück für die Polizei, ja? Das würden wir nie tun.«
Silvestri hatte anscheinend seine Zweifel, hakte aber nicht nach. Er trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee und blickte sich gründlich im Zimmer um. Wetzon war sicher, daß ihm die Tarock-Karten aufgefallen waren, und hätte gern gewußt, was er davon hielt.
»Wer legt Karten?« fragte er, als könne er Gedanken lesen.
»Ich«, antwortete Smith. »Ich las Gefahr und Tod um Wetzon heute abend. Gefahr und Tod und ein dunkelhaariger Fremder.« Sie strahlte Silvestri charmant an. Silvestri erwiderte ihr Lächeln. »Ich lege sie irgendwann einmal für Sie, Detective.«
Wetzon fühlte sich plötzlich überflüssig. Sie wollte unbedingt nach Hause in ihre Wohnung, in ihr sauberes, ordentliches Bett. »Wissen Sie inzwischen mehr darüber, wer Barry getötet hat?« fragte sie.
Mit sichtlichem Widerstreben löste Silvestri den Blick von Smith. »Nein... nichts Schlüssiges. Wir müssen uns durch zu viele Einzelheiten arbeiten, bevor wir es eingrenzen können. Wir wissen, daß er tatsächlich telefoniert hat, weil er eine Kreditkarte benutzte, deshalb konnten wir die Nummer feststellen.« Er sah Wetzon gespannt an, als wolle oder erwarte er, daß sie darauf reagierte.
»Aber Sie sagen uns nicht, wem der Anruf galt«, sagte Wetzon.
»Stimmt.« Er trank seinen Kaffee aus und stand auf. »So, dann bedanke ich mich. Ich habe eine lange Nacht vor mir.« Er sah Wetzon an. »Möchten Sie nach Hause gefahren werden?«
»Auf keinen Fall.« Smith war sichtlich entsetzt. »Du kannst heute nacht nicht nach Hause, Wetzon. Ich meine wirklich, du solltest hierbleiben. Du möchtest doch nicht allein sein.«
Aber sie wollte, und Smith stritt nicht mit ihr. Sie wußte, daß Wetzon nicht umzustimmen war, wenn sie das Kinn so hielt. Wetzon ging ins Schlafzimmer, um ihre Jacke und Handtasche zu holen. Sie legte die Jacke um die Schultern und besah sich noch einmal prüfend im Spiegel. Vergiß es, dachte sie. Silvestri sah nicht die Frau in ihr. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, strahlten Silvestri und Smith sich immer noch an. Wetzon fühlte sich hintergangen und war eifersüchtig. Es war Smith’ unglaublicher Zauber auf Männer. Alle Männer. Was hatte sie nur an sich? Sie war nicht hübsch. Sie war groß und eckig. Es war eine Aura, irgend etwas, das von ihr ausströmte. Aber Wetzon hatte Silvestri zuerst gesehen. Und Smith sogar gesagt, daß er ihr gefiel. Es war einfach nicht fair.
Gott, sie war todmüde.
Silvestris silberner Toyota stand im Parkverbot vor dem Haus. Im Schein der Straßenlaterne funkelte er. Es war vermutlich das sauberste Auto in New York City - von außen. Erwischte ein unsichtbares Schmutzfleckchen vom Kotflügel, dann schloß er auf und hielt ihr die Tür. Innen war das Auto noch abschreckender als in ihrer Erinnerung. Der Vordersitz war mit Papieren übersät. Auf dem Boden lagen leere Pepsi-Light-Dosen. Da waren leere Pappbecher und Servietten, und ein halber Hamburger schimmelte in einer anderen Schachtel... ROY ROGERS stand darauf.
»Vielleicht gehe ich besser nach hinten«, schlug sie vor.
»Ist genauso schlecht.« Er hatte recht. Hinten lagen der Wäschesack, an den sie sich erinnerte, und mehrere Hemdschachteln der Reinigung, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Silvestri raffte die Papiere und Bücher, die auf dem Vordersitz verstreut waren, zusammen und warf sie unsanft auf die Rückbank. Die Kartons und Coladosen stopfte er in eine zerknüllte Papiertüte, die ebenfalls auf dem Sitz lag. Er bückte sich und bürstete mit dem Jackettärmel den Sitz ab, half ihr hinein, schloß die Tür, dann trug er den Diplomatenkoffer um das Auto herum auf seine Seite und legte ihn nach hinten zu den Hemdschachteln. Die Nacht war kühl, und Wetzon nahm ihre Jacke von den Schultern und schlüpfte hinein.
»Erzählen Sie mir von ihr«, sagte Silvestri, nachdem er sich auf dem Sitz zurechtgerückt und das Auto angelassen hatte.
»Was möchten Sie wissen?« Sie brauchte nicht zu fragen, wen er meinte.
»Gibt es einen Mann?« Er bog links ab in die 79. Street.
»Sie ist geschieden. Sie hat einen zwölfjährigen Sohn, Mark. Was möchten Sie sonst noch wissen?« Er kniff die Augen zu, wenn ihn entgegenkommende Autos blendeten. Wahrscheinlich brauchte er eine Brille.
Sie nahmen die Querstraße , die auf der Höhe der 79. Street westlich durch den Central Park führt. Es war kaum Verkehr. Es war längst nach Mitternacht.
»Wie haben Sie sich kennengelernt?«
Wetzon machte es sich auf dem Sitz bequem und begann, ihm von dem Chiropraktiker mit dem schrecklichen Musical über Tänzer, einem Aufguß von Chorus Line, zu erzählen, als Silvestri hart auf die Bremse trat, und wäre nicht sein Arm gewesen, den er vor ihr ausstreckte — eine automatische Geste aus den alten Zeiten ohne Sicherheitsgurte wäre sie mit dem Kopf noch härter auf das Armaturenbrett geschlagen.
Das war alles, woran sie sich deutlich erinnerte. Ein betäubender Schmerz zerschnitt ihren Kopf. Festhalten, dachte sie. Nicht fallen, nicht fallen. Aber sie konnte gar nicht fallen. Irgend etwas stieß sie gnadenlos nach unten. »Laß mich in Ruhe«, sagte sie, aber sie erkannte den Klang ihrer Stimme nicht.
Sie hörte, wie in der Ferne eine Autotür geöffnet und geschlossen wurde, dann eine andere. Sie hörte Stimmen, Rufe.
Silvestri vielleicht. Jemand schrie: »Polizei!« Dann ein knallendes Geräusch, und irgendwie wußte sie, daß es ein Schuß war. Und noch einer. »Arschloch!« schrie jemand. Autohupen lärmten.
Sie wurde gefoltert; jemand spielte ein Trommelsolo auf ihrem Kopf. Die Anstrengung, die Augen zu öffnen, verstärkte das heftige Pochen im Kopf. Sie war halb vom Autositz gerutscht. Sie zog sich mühsam auf den Sitz hoch, wobei sie nur halb das Geräusch von reißendem Stoff registrierte. Alles tat ihr weh. Ihre Arme fühlten sich an, als wäre sie auf einer Folterbank gewesen. Sie mußten gegen etwas geschlagen sein oder etwas geschlagen haben.
Ein kühler, feuchter Luftzug strich über ihr Gesicht. Die Tür auf Silvestris Seite war offen, und er war nicht da. Sie hörte das durchdringende Jaulen von Polizeisirenen; Lichter zuckten durch die Dunkelheit. Ein weißer Sanka fuhr heran und hätte um ein Haar die offene Tür gestreift. Noch mehr blinkende Lichter. Halb betäubt dachte sie, Silvestris Auto muß im Eimer sein. Sie bekam das Lenkrad zu fassen und zog sich mit einiger Mühe zur offenen Tür.
Silvestri, ohne Jackett, mit sichtbarer Schulterhalfter, sah besorgt herein. »Alles in Ordnung?« Er berührte ihre Stirn. Sie zuckte zurück. »Tut mir leid«, sagte er.
»Mir tut alles verdammt weh«, sagte sie. »Aber ich glaube, gebrochen ist nichts.« Ein Mann in blauer Windjacke und weißer Hose stand neben Silvestri.
»Wir sollten uns den Arm ansehen, Sir«, meinte er. »Miss, können Sie hier rüberrutschen?« Sie sah Blut auf Silvestris Hemdsärmel nahe der Schulter.
Wetzon sah auf der rechten Seite hinaus und entdeckte, daß sie gegen eine Stützmauer der Durchfahrt geprallt waren. Du lieber Himmel, hatten sie Glück gehabt. Sie rutschte schwungvoll am Lenkrad vorbei und zog ihre Handtasche nach. »Mir ist, als wäre jemand auf mir herumgetrampelt«, sagte sie. Niemand achtete darauf. Der Sanitäter half ihr aus dem verbeulten Auto. Armer Silvestri. Sein kostbares Stück. Es sah nach Totalschaden aus.
Die hintere Tür stand ebenfalls offen. Alles, was auf der Rückbank gelegen hatte, war ein großer Müllhaufen. Instinktiv ging sie näher heran und suchte nach dem Diplomatenkoffer. Silvestri stand wenige Schritte von ihr entfernt und ließ sich den Arm von einer Sanitäterin verbinden. Er sah Wetzon ins Auto blicken. Sie hatten einen Ärmel von seinem Hemd abgerissen, um den Verband anzulegen. Blut drang durch den weißen Verband.
»Die Schweine haben den Koffer«, sagte er.