Wetzon zog ihren weißen Frotteebademantel an und humpelte über den Flur ins Eßzimmer, wo sie den Anrufbeantworter stehen hatte. Das Telefon begann genau in dem Moment zu läuten, als sie auf auto umschaltete. Zitternd wartete sie, um zu hören, wer es war. Die Wohnung war früh am Morgen immer kühl, weil sie die Heizkörper abdrehte und es eine Weile dauerte, bis die Sonne hereinfiel.

Es war ein Reporter von News. Sie hatten also nicht lange gebraucht, um sie zu finden. Der Reporter hinterließ sehr forsch seinen Namen, Calvin Sperling, und zwei Telefonnummern.

Sie lehnte sich an den Türbogen.

Wieder läutete das Telefon. Es war Silvestri. Er hinterließ seinen Namen und seine Durchwahlnummer. Sie hatte auch keine Lust, mit ihm zu reden, also ließ sie das Band laufen, und er legte auf.

Sie ging in die Küche. Die Sonne strömte durch das staubige Fenster, feiner New Yorker Staub, gemischt mit ein wenig schwarzem Ruß, und ihr munterer kleiner Basilikumstock neigte sich zum Licht hin wie eine ergebene Frau.

Sie holte Apfelsaft aus dem Kühlschrank und goß sich ein kleines Glas ein.

Das Telefon läutete wieder. Sie hörte die Stimme Teddy Lanzmans, eines alten Freundes, der für die lokalen Nachrichten auf Kanal 8 arbeitete. Sie hatte ihn lange nicht gesehen.

»Kleiner Plausch gefällig, altes Haus?« sagte er. Dann kam eine lange Pause. Er wußte bestimmt, daß sie zuhörte. »Okay.« Er hörte sich enttäuscht an. »Ruf mich an, wenn dir danach ist.«

Sie steuerte auf die Wohnungstür zu und wartete wachsam, dann öffnete sie sehr leise den Spion. Nichts. Nur der normale Lärm aus den anderen Wohnungen auf der Etage und das Geräusch des Aufzugs von einem anderen Stockwerk.

Sie schloß beide Schlösser auf und löste die Kette, öffnete die Tür einen Spalt breit, langte ungeschickt nach unten, wobei sie die Zähne gegen den Schmerz zusammenbeißen mußte, nahm die Zeitungen von der Fußmatte und zog sie herein. Mist, auf der Titelseite der Times war ein Bild, wie sie mit Jimmy Lyons aus dem Four Seasons kam und mit der Hand vor den Augen aussah, als würde sie wegen des Mordes abgeführt. Und da war der Anfang der Geschichte, BÖRSENMAKLER ERMORDET, um im B-Teil auf Seite 35 fortgesetzt zu werden. Sie setzte sich auf einen Küchenhocker und begann, Vitaminflaschen aufzuschrauben: eine mit 2000-mg-Tabletten C, eine mit 400-mg-Kapseln E, zwei Kalziumtabletten und zwei Pollenextrakte als Energiespritze — ihr täglicher Schuß.

»Heute hab’ ich euch wirklich nötig«, sagte sie, indem sie alle auf einmal in den Mund warf und mit dem Apfelsaft schluckte. Ihre Stirn spannte und reagierte empfindlich, wo die Platzwunde heilte.

Sie schlug die Zeitung auf. Das Telefon läutete wieder.

»Wetzon« — wieder Smith — »heb ab, falls du mich hörst.«

Wetzon hob ab und sagte: »Bleib dran, ich bin hier.« Sie wartete, bis Smith antwortete, dann schaltete sie den Anrufbeantworter ab. Er machte dabei wie immer ein kleines gurrendes Geräusch. Sogar heute mußte sie darüber lachen. Sogar heute. Na ja, warum nicht? Sie hatte das Lachen heute nötiger als sonst.

»Wie fühlst du dich jetzt?« wollte Smith wissen.

»Ich bin auf und bewege mich. Langsam.«

»Silvestri hat hier angerufen«, sagte Smith. »Er möchte, daß du um vier ins Revier kommst. Wegen einer Aussage oder so.

»Das muß ich wohl tun...« antwortete sie müde.

»Ich könnte dich doch so um drei abholen und mit dir hinfahren.« Smith sagte es so beiläufig, daß Wetzon die Ohren klangen.

»Das brauchst du nicht, ich bin alt genug.«

»Oh, das tu ich gern«, sagte Smith, »nach dem, was du durchgemacht hast... und außerdem gehe ich heute abend mit Silvestri essen.« Sie kicherte vielsagend.

Wetzon blieb einen Moment stumm, traurig über diese Wendung der Dinge. »Aha. Ich wußte, daß mehr dahintersteckt. Ich war sicher, daß er ein Auge auf dich geworfen hatte. Und du, du hast ja dann alle Register gezogen. Es war so dick aufgetragen.«

»Woher wußtest du, daß er interessiert ist?« fragte Smith spitz. »Sag schon.« Als hätte Wetzon ihr nie anvertraut, daß sie — Wetzon — sich zu Silvestri hingezogen fühlte. Konnte Smith das etwa vergessen haben?

»Ach, die vielen Fragen, die er im Auto über dich stellte, vor dem Unfall.«

Smith’ Stimme klang gespannt: »Was für Fragen? Was hast du ihm erzählt?«

»Was meinst du, was für Fragen? Ob du verheiratet bist, so was eben. Was glaubst du wohl, was ich ihm erzählen würde?« Smith’ Reaktion verwirrte sie. Aber Smith war nun mal exzentrisch und reagierte eigenartig auf, in Wetzons Augen, einfache Vorfälle.

Smith lachte jetzt, ein herzhaftes triumphierendes Lachen. »Was so alles passiert«, sagte sie. »Rate mal, wer angerufen hat und mit uns über einen Auftrag sprechen möchte?« Sie liebte die Heimlichtuerei, und normalerweise spielte Wetzon mit. In diesem Augenblick war Wetzon jedoch müde und gereizt. Wahrscheinlich wegen Silvestri. Smith liebte Eroberungen, aber Silvestri war ein Umweg. Sie war gewöhnlich hinter Männern mit viel Geld her — Geld und Macht. Was hatte Silvestri zu bieten? Leicht beantwortet. Macht. Und sie, Wetzon, hatte ihn trotzdem attraktiv gefunden. Wetzon fühlte sich nicht von Männern angezogen, weil sie Macht hatten — oder Geld, was das betraf. Konkurrierte Smith also mit Wetzon? Und falls ja, warum?

»Also?« sagte Smith. »Bist du eingeschlafen? Willst du nicht raten?«

»Oh, Entschuldigung.« Wetzon hatte abgeschaltet. Jetzt ärgerte sie sich über sich selbst, daß sie so empfindlich war. Es war kleinlich von ihr. Falls Silvestri Smith mochte, dann mochte er eben Smith, und Wetzon würde daran nichts ändern. »Ich weiß nicht. Sag es schon.«

»Weinberger Brothers.« Sie war sehr aufgeregt. Das war ein Posten, hinter dem sie seit zwei Jahren her war.

»Donnerwetter, ich bin beeindruckt! Warum, meinst du...«

»Wir sind eingeladen, am Dienstag mit ihnen zu Mittag zu essen. Eigentlich wollten sie den Montag, aber ich habe sie auf Dienstag vertröstet, weil ich nicht wußte, wie es dir geht.«

»Du hättest allein gehen können.«

»Sie haben aber ausdrücklich darum gebeten, daß wir beide kommen.« Smith sagte es in einem eigenartig kühlen Ton, der andeutete, daß sie von deren Wunsch, auch Wetzon zu sehen, nicht sehr erbaut war. Wetzon schob den Gedanken beiseite. Smith betrachtete alle Auftraggeber als ihr Terrain und hatte es nicht gern, wenn man ihr einen Strich durch die Rechnung machte. Zu dumm für sie. Dieses eine Mal empfand Wetzon ein wenig freudige Genugtuung darüber, daß nicht immer alles nach Smith’ Kopf ging.

»Das ist wirklich erfreulich, Smith. Ich bin bestimmt bis nächste Woche wieder auf dem Damm. Warte... was ist heute... ich bin nicht mehr auf dem laufenden.«

»Mittwoch.«

»Na, dann vergiß es, daß ich zu Hause bleibe. Carlos kommt heute. Genaugenommen müßte er jede Minute hier sein, und er wird vor Neugier platzen, wenn er die Zeitungen gesehen hat.«

»Fühlst du dich bestimmt stark genug?«

»Es wird schon gehen«, sagte Wetzon trocken. »Ich komme gleich runter, und wir können dann vom Büro aus Silvestri aufsuchen.« Sie brach plötzlich ab. »Smith?«

»Ja, was ist?«

»Ich habe einen komischen Schlüssel in meiner Jacke gefunden.«

»Was für einen Schlüssel?«

»Einen kleinen. Briefkasten vielleicht. Ich glaube, Barry hat ihn mir zugesteckt, als ich gestern mit ihm zusammen war. Ich bringe ihn mit und gebe ihn Silvestri.«

Sie legte nachdenklich auf und ging in die Küche. Sie füllte den Kessel mit Wasser, setzte die Filtertüte in den Melittafilter ein, dann maß sie den Kaffee ab — genug für vier Tassen, weil Carlos seinen Kaffee und ein Croissant liebte, bevor er mit dem Saubermachen anfing.

Carlos Prince war ihre Haushaltshilfe gewesen, seit sie sich Vorjahren in einem Tanzkurs kennengelernt hatten. Sie hatten damals in einer Reihe von Shows gemeinsam getanzt. Hausarbeit war seine Methode, »sich über Wasser zu halten«, wie er es ausdrückte, und er war sehr gut damit gefahren. So gut, daß er jetzt in seiner Wohnung in Greenwich Village sitzen konnte, während Scharen von Haushaltshilfen überall in der Stadt für ihn arbeiteten.

Seine ganz besonderen Leute behielt er für sich. Besondere Leute bedeutete, Leute von früher, gut zum Plaudern. Alte Freunde, die ein interessantes Leben führten. Und in diesem Geschäft wurde ausschließlich bar bezahlt. »Außerdem, Schatz, werde ich allmählich etwas zu alt für die Tanztruppe«, war sein Spruch.

Sie lächelte, als sie die Kette an der Wohnungstür löste. Sie war sicher, daß er heute früher kommen würde, weil er ihr Foto in der Zeitung gesehen hatte, und das war genau das, worin Carlos eingeweiht werden wollte. Ein Mord. Intrige. Geld. Das Four Seasons.

Die heiße Dusche weckte ihre Lebensgeister, und als sie im Bademantel aus dem dampfenden Badezimmer kam, hörte sie Musik.

»Hallo, einen wunderschönen guten Morgen«, sagte Carlos. Er saß bequem mit übergeschlagenen Beinen in der Küche auf einem Barhocker und hatte sämtliche Zeitungen auf der Arbeitsplatte ausgebreitet. The Temptations sangen mit großartigen Stimmen »My Girl«. »Du hast ja allerhand angestellt, seit ich dich zum letztenmal gesehen habe.« Er drohte ihr mit dem Finger. »Ungezogener Schlingel. Und du siehst nicht mal allzu ramponiert aus.«

»Carlos, hör auf, es war furchtbar«, sagte sie, während sie ihr Haar mit dem Handtuch abtrocknete.

»Los, erzähle. Alles. Laß nichts aus«, sagte er gierig. Seine dunklen Augen funkelten. Alles an Carlos funkelte. Er war schlank, dunkel und auffallend gutaussehend. Heute trug er ein wildes Hawaiihemd und enge Guess-Jeans. Er hatte einen großen Diamantknopf im linken Ohrläppchen.

»Ich weiß nicht viel, außer daß ein Mann, mit dem ich eine Besprechung hatte, wegging, um zu telefonieren, und in einer Telefonzelle ermordet wurde.«

»Und du hast es gesehen...« Besorgt sprang er auf und bot ihr den Hocker an. Er zog den anderen für sich heran, setzte sich und beobachtete sie. »Ich habe dir ein Schokocroissant mitgebracht«, sagte er bittend.

Zur Bestechung. Als ob sie das nicht wüßte. Der köstliche Duft der Schokolade und Butter war überwältigend. Der Schlawiner. »Das ist Bestechung, du Schlawiner«, sagte sie und küßte ihn auf seine glatte dunkle Wange.

»Was denn sonst, Schatz.«

Das Telefon läutete. Sie hörten beide aufmerksam zu.

»Miss Wetzon, hier ist Carpenter, Walt Carpenter, vom Wall Street Journal. Ich möchte gern mit Ihnen sprechen, wenn es Ihnen paßt.« Es war eine sehr höfliche, angenehme Stimme, die ganz auf der routinierten Linie des Journals lag.

»Mmm«, rief Carlos und leckte sich die Lippen. »Du bist eine absolute Berühmtheit. Du Glücksfee.«

Carlos nannte sie eine Fee, weil sie sein Leben völlig verändert hatte, seit sie sich kannten.

»Verdammt tolle Art, berühmt zu werden«, beklagte sie sich. »Ich wär’s lieber mit Gower geworden.« Sie lachten beide. Es war ihr bitterer, makabrer Witz, weil Gower Champion ihr Choreograph gewesen war, und jetzt war Gower tot. Er war während der Inszenierung von Forty-second Street gestorben, und viele Leute in der Theatergemeinde meinten, daß David Merrick jetzt auftrat, als seien Regie und Choreographie sein, David Merricks, Werk. »Ich muß mich anziehen und ins Büro gehen«, sagte sie und umarmte Carlos kurz.

»Och, Schatz, erzähl mir noch was.« Er goß Kaffee in eine Tasse und schob sie und das Schokocroissant über die Platte zu ihr hin. Sie hatte einen Riesenhunger, und das Croissant sah verlockend aus.

»Ich weiß nicht mehr, aber ich bleibe dran. Ich muß heute mittag bei dem zuständigen Detective eine Aussage machen. Das ist gut, Carlos, du Teufel.« Sie verputzte das Croissant und den Kaffee.

»Was für eine Freude, Detectives, Aussagen. Herrlich.« Carlos sprang vom Hocker und zappelte zur Musik. »Merke dir alles, und ich meine alles, damit du mir berichten kannst.«

Sie zog sich mit Bedacht an. Dunkelblaues Gabardinekostüm, passend zu ihren Blessuren, und eine weiße Seidenbluse. Sie steckte die Kameenbrosche von ihrer Mutter an das Bündchen der Bluse und hängte, vielleicht ein wenig herausfordernd, große goldene Ringe an ihre Ohren. Sie hatte den Rock des grauen Kostüms ruiniert, als sie damit unter die Dusche gegangen war. Vielleicht konnte die Reinigung ihn retten.

Sie hörte Carlos in der Küche singen und klappern, als er mit dem Saubermachen begann. Die Musik lief laut, Aretha Franklins »You Make Me Feel Like a Natural Woman«. Ha! Gerade jetzt fühlte sie sich wie das genaue Gegenteil mit all ihren Wehwehchen und Schmerzen, aber verführt von der Musik und eingestimmt durch die langen Jahre des Tanzens, begann ihr Körper sich im Takt zu bewegen und zu drehen.

Sie fuhr mit einem feinen Kamm durch ihr Haar, und mit ein paar Handgriffen hatte sie es zum Knoten gedreht, ohne in den Spiegel zu schauen. Sie hatte es so viele Jahre getan, sie konnte es im Dunkeln. Sie sah jetzt prüfend in den Spiegel, während sie das Haar rasch feststeckte und sparsam grauen Lidschatten und Maskara auftrug. Der Anblick der Schramme auf der Stirn störte sie, deshalb rollte sie einen Seidenschal zu einem schmalen Band und knotete es um den Kopf. Sie war bereit, sich der Welt zu stellen.

Halt. Der Schlüssel. Wo hatte sie hingelegt? In das Streichholzheft. Sie fand die Streichhölzer auf der Kommode beim Bett, wo sie sie letzte Nacht — oder vielmehr früh am Morgen — hingelegt hatte. Sie zog den Schlüssel aus dem Streichholzheft. Harmlos aussehendes Ding. Sie ließ das graue Streichholzheft, auf das der Umriß einer Palme gedruckt war, wieder auf die Kommode fallen.

Das Telefon läutete wieder. Sie steckte den Schlüssel in die Jackentasche und ging die Nachricht mithören. Carlos hatte die Musik leise gestellt und hörte ebenfalls zu. Sie grinste ihn an. Er war so süß. So leicht durchschaubar und offenherzig. Sie hatte ihn sehr gern.

»Hallo, Miss Wetzon.« Die Stimme hatte einen mitteleuropäischen Akzent. »Hier ist Georgette Klinger. Wir bestätigen Ihren Termin bei uns für morgen zwölf Uhr bei Rosa.«

Nach dem Auflegen und dem Abschalten des Geräts herrschte absolute Stille. Dann schallendes Gelächter von Carlos.

»Was sagst du nun zur Berühmtheit?« Sie lachte.

»Toll«, sagte er, »du hast tatsächlich Georgette Klinger selbst dran gehabt.« Und beide fingen wieder an zu lachen, weil Georgette Klinger natürlich nie selbst telefonierte, um Termine zu bestätigen. Jede, die anrief, meldete sich stets als Georgette Klinger.

»Ich muß den Termin absagen, wenn ich im Büro bin.«

»Siehst du toll aus in deiner Uniform«, sagte Carlos gehässig eine Hüfte vorgereckt und mit den Händen gestikulierend.

»Ach, sei still. Und nimm das Telefon nicht ab.« Sie legte die Times und das Journal in einen Einkaufsbeutel von Blooming, dale’s. Ihre Aktentasche war noch im Büro.

»Keine Sorge, Schatz, halt mich nur auf dem laufenden.« £r gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Und paß auf dich auf«, sagte er sehr ernst. »Du weißt, es sind nicht mehr sehr viele von uns übrig.«

»Ich weiß«, sagte sie genauso ernst, indem sie die Tür hinter sich zuzog. »Ich weiß.«

Sie verließ wachsam den Aufzug und war fast etwas enttäuscht, als niemand zu sehen war außer Larry, dem Portier, der auf dem Sofa in der Halle saß, die Füße fest auf den Marmorboden gepflanzt, rauchte und die Renntips las.

»Morgen, Miss Wetzon«, nuschelte er, ohne aufzustehen. Er stand kurz vor der Rente und beschränkte deshalb seine Bemühungen auf ein Minimum. »Draußen wartet eine Dame auf Sie.«

»Wo?« Sie spähte durch die Haustür.

»Lehnt dort an dem Auto in der zweiten Reihe...«

Ja, eine Frau in brauner Hose und brauner Tweedjacke. »Danke, Larry.«

Sie ging schnell durch die Tür, ohne hinzusehen.

»Miss Wetzon, kann ich Sie kurz sprechen?«

Sie überhörte den Ruf und trat auf die Straße, um einem Taxi zu winken. Mehrere fuhren vorbei, alle besetzt. Sie stöhnte und ließ den schmerzenden Arm hängen. Um diese Zeit an der Upper West Side ein freies Taxi zu finden war immer schwierig. Die Frau kam und stellte sich neben sie.

»Ich bin beim Wall Street Insider. Julie Davidson. Ich möchte gern mit Ihnen sprechen.« Sie drängte nicht. Sie sagte es einfach so. Kein Druck.

Wetzon wandte sich um und sah sie an. Sie hatte ein freundliches Gesicht, übersät mit Sommersprossen, dickes, blondiertes Haar 'n einer altmodischen Welle. Eine kompakte Figur in der braunen Hose und Jacke. Sie war etwas älter, als sie auf den ersten Blick wirkte.

»Worüber?« fragte Wetzon so kalt sie konnte.

Julie Davidson sah sie leicht amüsiert an. »Über den Mord an Barry Stark.«

Wetzon nickte etwas milder gestimmt. »Ich kann nicht darüber reden. Die Polizei hat mich gebeten, nichts zu sagen.«

»Vielleicht werden Sie irgendwann reden können, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir ein wenig Zeit opfern würden.« Julie Davidson hielt ihr eine Karte hin.

»Okay.« Wetzon steckte die Karte automatisch in die Tasche zu dem Schlüssel. Dann nahm sie die Karte schnell heraus, verstaute sie in der Handtasche und fühlte in der Tasche nach dem Schlüssel. Er war noch da.

Es war viel später als ihre gewöhnliche Bürozeit, und sie sah, daß Suger Joe seine Zelte schon abgebrochen und seinen Platz an der Ecke der Amsterdam Avenue nahe dem Buswartehäuschen verlassen hatte.

Vor vielen Monaten hatte sie zum erstenmal den Neuzugang im Viertel nahe dem Wartehäuschen an der Amsterdam und 86. Street bemerkt, den Neuzugang in Form eines Abfallhaufens, der mit einer mittelblauen Wolldecke mit dem Aufdruck made in England exclusively for Bloomingdale’s bedeckt war. Zuerst hatte sie überlegt, warum wohl jemand Abfall so zudeckte, dann hatte sie zu ihrem Entsetzen gemerkt, daß unter dem länglichen Haufen etwas Lebendes war. Es stand sogar ein Pappbecher mit Kaffee am einen Ende. Dem Kopfende? Ein zusammenlegbares Gepäckwägelchen lag auf dem Boden wie ein Kissen, vermutlich wo der Kopf unter der Decke war.

Das Individuum, das sich als ein Mann unbestimmbaren Alters, vielleicht Mitte Fünfzig oder älter, entpuppt hatte, wurde sofort zum festen Inventar des Viertels. Die meisten Leute in der Gegend, einschließlich Wetzon hatten ihn noch nie gesehen. Doch diejenigen, die versucht hatten, ihn in einem städtischen Asyl unterzubringen, beschrieben ihn als groß und sehr dünn, mit schulterlangem weißem Haar. Er mochte weder die städtischen Einrichtungen noch die Wohltäter. Er war immer sehr schnell wieder auf der Straße. Anscheinend ging er tagsüber irgendwohin, aber er war jeden Abend zur Stelle, und er war sehr früh morgens da, denn zu diesen Zeiten hatte sie ihn gesehen. Er kehrte immer wieder an denselben Fleck zurück.

Wetzon malte sich inzwischen aus, er sei Börsenmakler. Vielleicht ging er tags in sein Büro und kam jeden Abend an seinen Platz zurück. Es war Spaß, aber vielleicht auch nicht. In New York City war heutzutage und im Maklergeschäft nichts zu weit hergeholt.

Sugar Joe nahm nichts anderes an als Kaffee, den er hell wünschte, mit Sahne und Zucker, drei Tütchen. Wetzon hatte dies eines Tages entdeckt, als sie neben die unförmige Masse unter der Decke zwei Kaffeebecher gestellt und eine rauhe Stimme sagen gehört hatte: »Sechs Zucker.« Kein Dankeschön. Trotz ihrer Bestürzung über seine Lebensweise hatte sie gelacht.

Die Kinder im Viertel hatten begonnnen, ihn Sugar Joe zu rufen, und der Name war an ihm hängengeblieben. Es war ein Teil von Wetzons morgendlichem Ritual geworden, daß sie ihm zwei Becher hinstellte und er sie angrunzte. Wie er von unter der Ecke etwas sehen konnte, war ihr ein Rätsel geblieben.

Dies war das erste Mal seit Monaten, daß sie ihm keinen Kaffee hinstellte, und sie verspürte Gewissensbisse.

Endlich reagierte ein Taxi auf ihr Winken, und sie stieg mit einer gewissen Mühe ein. Alles tat ihr weh. Ihr Rücken protestierte. Sie rutschte vor, gab dem Fahrer die Adresse des Büros und lehnte sich zurück. Sie zog The Wall Street Journal aus der Einkaufstüte und faltete die Titelseite auf. Gott sei Dank brachte das Journal keine Fotos. Sie sah den kleinen Artikel in der Nachrichtenspalte: »Makler ermordet« und nur ein kleiner Absatz mit den Tatsachen, wie sie ihr bekannt waren. Nichts Neues. Sie war erleichtert. Ihr Blick wanderte über die Titelseite. Er blieb an etwas hängen, bevor sie geistig erfaßt hatte, was sie sah. Sie las die deutliche Schlagzeile: ZUSAMMENBRUCH VON KAPLAN, MORAN SECURITIES, INC., berichtet aus Atlanta, Georgia. Sie überflog den Artikel:

Kaplan, Moran, eine Effektenfirma mit Sitz in Atlanta, brach gestern zusammen, als eine große Anzahl ihrer Kunden sie um die Aushändigung von Nebenbürgschaften für ihre Darlehen an die Firma ersuchte. Die amtliche Bestätigung kam aus Bundesbank- und Versicherungskreisen. Die Kunden verlieren mit Sicherheit über 7 Millionen Dollar. Kaplan, Moran, befaßte sich mit Rückkaufabsprachen (>Repos<), einer Art der Kreditaufnahme, bei der eine Effektenfirma Bundesanleihen an einen Kunden verkauft und sie dann zu einem festgelegten Datum, zwischen 30 und 270 Tagen, zu einem höheren Preis zurückkauft. Die Firma tätigte auch umgekehrte Rückkäufe, bei denen sie Anleihen von den Kunden kaufte, mit dem Versprechen, sie später zurückzuverkaufen.

Ein Sprecher der SEC erklärte, daß der Betrug begann, nachdem die Firma massive Spekulationsverluste hatte hinnehmen müssen. Sie verwendete dann Geld von Kundenkonten, um diese Verluste zu decken...