Also, was hältst du davon, Carlos?« fragte Wetzon. Sie saßen im winzigen Mezzaluna an der Third Avenue an einem der Fensterplätze auf dem Podium. Alle Tische waren besetzt, und es hatte sich auf dem weißen Keramikziegelboden und bis auf die Straße eine lärmende Warteschlange gebildet. Trotz des Lärms aus der offenen Pizzaküche und von der Musik saßen sie in einer Nische mit perfekter Akustik. Sie befanden sich in einem Lokal zu ebener Erde, in dem ein wildes Durcheinander herrschte, die Tische dicht an dicht, ringsum Gemälde vom Boden bis zur Decke.

Der winzige Tisch war überladen mit einer gewaltigen Schüssel mit gedünsteten Muscheln und zwei kleinen Pizzas, eine mit Thunfisch und Sardellen und eine normale Margarita mit Tomaten und Mozzarella. Sie hatten einen wunderbaren Wein zur Hälfte geleert.

»Was ich davon halte?« sagte Carlos. »Willst du wirklich wissen, was ich davon halte? Bist du bereit?«

Sie nickte. »Nur zu, Carlos, das ist ernst.«

»Ich weiß, daß es ernst ist, Herzblatt, und ich möchte dir sagen, was ich schon früher gesagt habe: Dieses verrückte Weib, mit dem du beruflich verbunden bist, ist mir nicht geheuer.«

»Ach, Carlos, ich weiß nicht. Ich kann dir nicht recht geben. Sie hat sich in letzter Zeit komisch benommen, aber...«

»Komisch? Du, hör mal, das ist ganz schön untertrieben.«

Carlos deutete mit einem langen Zeigefinger auf sie. »Und wenn du jetzt nicht tüchtig zulangst, setze ich meine scharfe Analyse deiner Situation nicht fort.« Er schnitt die zwei Pizzas in schmale Teile und verkündete: »Vergiß nicht, das ist mein Fest. Laßt uns also feiern. Ich verlange es. Ich befehle es.« Er hob sein Glas und verdrehte die Augen.

Wetzon hob ihr Glas, langte über den kleinen Tisch und stieß lachend mit ihm an. »Du bist unverbesserlich«, sagte sie. »Und sieh dich nur an.« Sie betrachtete ihn ernst. »Du wirst noch ein distinguierter Herr. Sehe ich da tatsächlich Grau an den Schläfen?«

»Oh, bitte, erinnere mich nicht. Ich muß mir so einen Zauberkamm besorgen.« Er stöhnte theatralisch, hob die Augen zur Decke und drückte seine Hand mit der Oberseite an die Stirn.

»Choreographieassistent, das ist doch was. Name auf dem Plakat, Tantiemen und alles.«

»Und alles. Und da Marshall auch die Regie führt, kann ich meine ganze Kreativität entfalten.« Carlos trug ein knallrotes Satinhemd, das so weit offen war, daß es bei einer Frau den Brustansatz gezeigt hätte, in Carlos’ Fall jedoch viel nackte Brust und viele schwere Goldketten. »Es ist auch allerhöchste Zeit«, sagte er mit einer Spur des alten Zynismus. »Es hatja nur zwanzig Jahre gedauert. Man wird es wahrscheinlich für einen Erfolg über Nacht halten.«

»Dein Wort in Gottes Ohr, mein Freund«, sagte Wetzon. Und sentimental mit erhobenem Glas: »Auf dein Wohl, mein teurer Freund.«

»Danke, danke«, sagte Carlos mit gesenktem Blick in gespielter Bescheidenheit. »Aber jetzt wollen wir mal wieder zu dir kommen.«

»Zu mir... ja... hm, ich bin in alles Mögliche verwickelt. Ich verstehe nicht, was vor sich geht. Ich könnte einen Spickzettel für mein Leben gebrauchen... Jeder, die Polizei eingeschlossen, glaubt, daß Barry mir etwas gesagt hat, bevor er starb, und Verrückte, die reif für eine Anstalt wären, erzählen mir Dinge, die sie der Polizei nicht sagen wollen, und ich habe der Polizei nicht berichtet, was sie mir erzählt haben, und schaffe es nicht, Smith... o Gott...«

»Hör mal zu, Kleines.« Carlos stellte sein Glas ab, um ihre Hand zu nehmen. »Du denkst immer, jeder ist so gut und ehrlich wie du.«

»Du zum Beispiel?«

»Hier hast du meine Antwort. Ich bin weder gut noch ehrlich.«

»Ach, Carlos, was soll das. Ich kenne dich seit zehn Jahren, und du bist immer ein zuverlässiger, ehrlicher Freund gewesen.«

»Stimmt.«

»Und du würdest nie etwas tun, was deinen Freunden schadet.«

»Stimmt.«

»Warum also könnte Smith Silvestri so eine ausgemachte Lüge über den Schlüssel erzählt haben?«

»Um ungeschoren davonzukommen, das ist doch klar.« Carlos schüttelte den Kopf. »Du bist eine so vertrauensvolle Seele. Wie lange kennst du Xenia Smith schon?«

»Fast drei Jahre. Sie ist meine Partnerin, um Gottes willen.«

»Und was weißt du eigentlich von ihr vor dieser Zeit?«

»Sie hat an der Columbia-Universität in Psychologie promoviert und fünf Jahre an der Menninger-Klinik gearbeitet.«

»Und woher weißt du das alles, bitte sehr?«

»Sie hat es mir erzählt, du Dummkopf.«

»Ha! Wer von uns beiden ist der Dummkopf?« sagte Carlos triumphierend. »Ich schließe die Beweisaufnahme ab.« Er warf dramatisch die Arme hoch.

»Vielleicht sah sie keinen Ausweg. Vielleicht hat Silvestri sie in die Enge getrieben.«

»Der Polizist, meinst du?«

Sie nickte. »Der Detective, der den Fall bearbeitet.«

»Erzähl mir mehr. Ich sterbe vor Neugier — verstanden?«

»Hör bitte mal eine Minute lang auf zu spinnen. Ja, ich habe es verstanden. Im Ernst, meinst du auch, ich sollte Smith morgen zur Rede stellen?«

Carlos’ Augen blitzten. »Und ob. Ich werde stocksauer auf dich, wenn du ihr das durchgehen läßt. Du fängst schon an, Entschuldigungen für sie zu finden — hör dich nur selbst an. Ich will dir nur eins sagen, da kann sie sich nun wirklich nicht herausmogeln. Aber genug von ihr. Ich möchte den ganzen pikanten Schmutz über die Morde wissen.«

»Gut, ich fange vorn an. Dieser Börsenmakler, den ich kenne — Barry Stark — ruft mich an, weil er Probleme hat, und möchte sich mit mir im Four Seasons treffen. Er sieht aus, als käme er von einem Faustkampf, und er ist ungeheuer nervös. Wir setzen uns hin, und gleich darauf springt er auf, sagt, er muß telefonieren, und kommt nicht zurück. Er läßt seinen Diplomatenkoffer bei mir stehen. Den Rest kennst du.«

»Nur, was ich in den Zeitungen lese. Ich möchte es von der Augenzeugin. Es hört sich wie ein richtiger Krimi an.« Carlos spielte den lüsternen Bösewicht, indem er erwartungsvoll die Hände rieb und mit der Zunge genießerisch über die Lippen fuhr.

Wetzon langte über den Tisch und boxte ihn im Spaß. »Carlos, hör auf, dir die Lippen zu lecken, du Gauner. Die Sache ist ernst. Und ich bin nicht der National Enquirer.«

»Bitte, mach weiter.« Seine dunklen Augen mit den langen dunklen Wimpern funkelten sie an. »Sei nicht so empfindlich. Ich laß dich zwei Tage allein, zwei weitere Personen werden kaltgemacht, und du hast deinen Sinn für Humor verloren. Wie können wir diese Morde aufklären, wenn du den Wald vor lauter Bäumen nicht siehst?«

»Vielleicht hast du recht.« Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich nehme es nach reiflicher Überlegung an.«

»Braves Mädchen!« Er strahlte sie übers ganze Gesicht an und öffnete eine Muschel. »Weiter.«

»Okay, ich warte also, und schließlich gehe ich nach unten zu den Telefonzellen, öffne die Tür, und er fällt mir mit einem Messer in der Brust entgegen. Keine Fragen mehr zu dieser Szene, bitte«, sagte sie, als Carlos den Mund aufmachte, um nach weiteren blutrünstigen Einzelheiten zu fragen. »Es sei denn, du möchtest, daß ich dich in Verlegenheit bringe und über diesen wunderschön gedeckten Tisch kotze.«

»Ich gebe auf«, sagte er und zog ein Gesicht. »Was passierte dann?«

»Ich werde von Silvestri verhört...«

»Wie ist er?«

»Wer?«

»Silvestri.«

»Warum?«

»Weil du immer ganz aufgeregt und rot wirst, wenn du ihn erwähnst. Wem willst du was vormachen, Liebes? Ich kenne dich besser als jeder andere auf der Welt. Ist er der neue Schwarm?«

»Nein. Er mag Smith.«

»Zu schlecht, kein Geschmack. Streiche ihn.«

Sie spürte, daß sie rot wurde, und sie nahm einen Bissen von der Pizza, um Carlos’ Adlerblick auszuweichen.

»Jedenfalls landete ich schließlich mit dem Diplomatenkoffer in Smith’ Wohnung.«

»Habt ihr ihn aufgemacht?«

Sie nickte schuldbewußt. »Wie hast du das erraten?«

»Ganz einfach. Ich kenne dich, und ich kenne Smith. Aber ehrlich, ich hätte es selbst nicht ausgehalten, ohne mal nachzusehen. Ich hoffe, ihr wart so schlau und habt Handschuhe benutzt.«

Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. Sie hatten nicht einmal daran gedacht.

»Du lieber Gott! Vermutlich habt ihr überall eure Fingerabdrücke hinterlassen. Schaltest du denn nie den Fernseher ein, Schatz? Jeder Sechsjährige weiß, daß man nicht an Beweisstücken herumfummelt.«

Wetzon seufzte. Die Pizza schmeckte auf einmal nach Pappe. »Es war wohl blöd von uns, aber es schien harmlos. Bis auf die Pistole.«

»Pistole? Was für eine Pistole?« Die Freude auf Carlos’ hübschem Gesicht verschwand, und in diesem Augenblick sah man ihm seine achtunddreißig Jahre an.

»Barry hatte eine Pistole im Koffer.« Sie war wieder deprimiert. Sie hatte sofort den Umschlag in Carlos’ Stimmung registriert. »Da ist noch mehr«, fuhr sie fort. »Drogen, Erpressung, nehme ich an. Die anderen Morde... Georgie Travers, Sugar Joe, Mildred Gleason...«

»Entschuldige, daß ich dich geneckt habe, Kleines«, sagte er und nahm ihre Hand. »Was soll ich sagen? Das ist die reale Welt, und du hast allen Grund, aus dem Gleichgewicht zu sein.«

»Ich weiß, daß du vorhin recht hattest. Ich habe meinen Sinn für Humor verloren. Ich habe jeden Sinn dafür verloren, wer ich bin und wer alle anderen sind.« Sie lächelte ihn todtraurig an.

»Machen wir einen Umweg, Schatz«, sagte Carlos. »Wer ist der neue Schwarm?«

»Das ist kein großer Umweg. Als Silvestri mich heimfuhr, versperrte uns jemand den Weg, stahl Barrys Diplomatenkoffer, und wir landeten schließlich in der Notaufnahme des York Hospital... so habe ich diesen sehr netten Arzt kennengelernt...«

»Aha, den neuen Schwarm.«

»Na ja, so ähnlich.« Sie stocherte an einer Sardelle auf der Pizza und hielt den Blick gesenkt.

»Sieh mich eine Sekunde an«, sagte Carlos verständnisvoll. Sie hob widerstrebend die Augen. Als sie seinem Blick begegneten, sagte er: »Aber du ziehst den Polizisten vor.«

»Den Detective.« Sie wurde rot.

»Oje, jetzt schließe ich die Beweisaufnahme wirklich ab.« Er blickte blasiert. »Erzähl weiter.«

»Du weißt schon von dem Schlüssel, den ich in meiner Jackentasche fand, aber ich habe dir nicht erzählt, daß Smith ihn für fünfundzwanzigtausend Dollar an Leon Ostrow verkauft hat, vermutlich für Jake Donahue.«

»Allmächtiger, sie ist wirklich eine niederträchtige Schlampe.«

»Carlos, sei nicht so, das war ein Lapsus. Weil sie als Kind so arm war.«

»Klar.« Carlos’ Stimme war voll beißenden Spotts.

»Ich sagte ihr, ich würde das Geld nicht anrühren und sie solle es zurückgeben.«

»Sehr wahrscheinlich wird sie genau das tun«, sagte er noch sarkastischer. »Aber sprich nur weiter.«

»Dann werde ich von einer von Barrys Freundinnen angesprochen, die möchte, daß ich ihr bei der Suche nach einer Art Tagebuch helfe, das Barry angeblich versteckt hat, und wir gehen in ihre Wohnung und finden dort Georgie Travers vor, tot.«

»Wer...« begann Carlos.

»Du wolltest die ganze Geschichte wissen«, nörgelte sie, »unterbrich mich also nicht. Ich bin in Fahrt. Dann flehte mich Mildred Gleason an, sie aufzusuchen, was ich auch tat, und es stellte sich heraus, daß Barry als Spion für sie arbeitete, während er gleichzeitig bei Jake Donahue angestellt war. Sie erzählte mir, daß sie mit Barry am Telefon redete, als er ermordet wurde.«

»Und du meinst, das Showgeschäft sei schäbig?«

»Ich weiß. Du hast recht. Während ich mit Mildred Gleason redete, polterte Jake Donahue herein und drohte, sie umzubringen. In dem Moment machte ich mich davon.«

»Oh, Freude. Köstlich. Besser als der Denver-Clan. Warum bist du nicht geblieben und hast zugesehen?«

»Weil ich eine Verabredung mit einem Makler hatte, Dummkopf«, sagte sie. Carlos hatte einen solchen verrückten Sinn für Humor, daß sie sich schon wieder etwas besser fühlte. Er brachte sie zum Lachen. In dieser Situation. Uber sich selbst.

»Okay«, sagte Carlos, während er noch ein Stück Pizza verschlang. Nichts schien jemals seinem Appetit schaden zu können. »Ich habe noch eine Frage. Wer hat Georgie Travers alle gemacht?«

Wetzon starrte ihn an. »Alle gemacht... Du hast zuviel ferngesehen, Carlos«

»Ich kannte ihn, Kleines.« Ein flüchtiges Stirnrunzeln zeigte sich auf seinem Gesicht, als er den Rest Wein in ihre Gläser goß.

»Du kanntest ihn? Wie das?« Carlos überraschte sie immer wieder.

»Durch das Caravanserie- gemeinsame Bekannte.«

»Du mußt einen aufregenden Terminkalender haben.«

»Oh, Mann, allerdings.« Er lachte. »Ich hinterlasse ihn dir in meinem Testament. Du kannst ihn versteigern.«

»Himmel, sag das nicht.« Sie schauderte. »So was Ähnliches hat Barry getan.« Sie berichtete Carlos von Buffie und der geheimnisvollen Autobiographie. »Aber ich wette, es gibt nichts Schriftliches. Vielleicht versuchte er nur, damit sein Leben zu retten. Er dachte sich, die Geschichte sei seine Versicherung.«

»Was ist mit den Bändern?«

»Ich meine, es können wirklich noch mehr Bänder irgendwo versteckt sein.«

»Vielleicht hat die Polizei sie gefunden.«

»Kann sein.«

»Wer tötete also Barry Stark?«

»Jake Donahue... Einer seiner Kunden? Eine seiner Freundinnen? Und wer tötete Georgie?«

»Einer seiner Freunde.«

»Aber, Carlos. Du bist schlimm. Was ist mit Mildred Gleason?«

»Einfach. Jake Donahue.«

»Nein. Falsch. Aber sie sind alle miteinander verbunden. Ich weiß es. Ich fühle es.«

»Okay. Smith war es. Glaub mir.«

»Was uns wieder auf den Schlüssel bringt«, überging Wetzon seinen letzten Satz.

»Der Schlüssel ist leicht. Der Schlüssel öffnet den Safe, in dem die Bänder liegen.«

»Nein, das glaube ich nicht. Silvestri sagte, der Schlüssel gehöre zu einem Arzneischrank.«

»Halt, Moment. Ich weiß es«, sagte Carlos. »Der Schlüssel gehört Silvestri, dem Bullen mit dem unmöglichen Geschmack, der Smith mag. Er ist für seinen kleinen Blechkasten, wo er seine Beute aufbewahrt.«

»Beute?« Sie drohte wie eine Lehrerin mit dem Finger vor seinem Gesicht. »Carlos, wovon redest du da?«

»Du weißt schon, die Schmiergelder, die Polizisten immer kriegen.«

»Jetzt reicht’s.« Wetzon schlug mit der Hand auf den Tisch. Carlos, du spinnst wirklich. Es ist Zeit, daß wir ins Caravanserie kommen, bevor du es zu weit treibst.« Sie war ein wenig traurig. »Und eine Weile hast du dich so gut benommen.«

»Verlaß dich auf mich, mein Herz, Carlos weiß Bescheid. Carlos hat das zweite Gesicht.« Er winkte nach der Rechnung. »Und jetzt, nach dieser harten Kopfarbeit, meine ich wirklich, wir sollten tanzen, was das Zeug hält.«