Sie saßen träge am Tisch vor ihrem Kaffee, nachdem Leon gegangen war. Wetzon spürte allmählich die belebende Wirkung des Koffeins. Manchmal brauchte man einen kleinen künstlichen Muntermacher, erklärte sie sich, denn im allgemeinen versuchte sie, möglichst wenig Chemie anzurühren. Dieser Gedanke erinnerte sie an die Tabletten, die ihr der Arzt mitgegeben hatte. Was hatte sie mit denen gemacht?

»Interessant«, sagte sie, indem sie geistesabwesend mit den Krümeln herumspielte. Die kleinen Brotkrümel hüpften auf dem weißen Tischtuch herum, während sie ihren Kaffeelöffel hin und her bewegte. »Smith...«

»Wetzon...«

Sie lachten.

»Leon ist anscheinend aufgeregt«, begann Wetzon.

»Ja.« Smith war nachdenklich. »Ich nehme an, wegen Jake Donahue, aber deshalb braucht er noch lange nicht in diesem Ton mit dir zu sprechen.«

»Komisch, daß er dort war«, grübelte Wetzon. »Ich frage mich, ob er dort war, als es passierte.«

»Wo? Wovon redest du, Wetzon?«

»Leon. Er war dort. Er war gestern abend im Four Seasons. Ich bin praktisch mit ihm zusammengestoßen, bevor ich Barry traf.«

»Leon? Er war dort? Nicht zu fassen.« Smith war ungehalten. »Warum hat er mir nichts davon gesagt? Wer war bei ihm?«

»Ich weiß nicht. Es war überfüllt, und ich konnte nichts sehen — und wenn ich es mir jetzt so überlege, war er auch nicht gerade erpicht, daß ich es sehen sollte.« Sie erinnerte sich, wie er sich vor sie gestellt und ihr absichtlich die Sicht zur Bar versperrt hatte, und wie er sie zu den Sesseln geführt hatte.

Smith tätschelte Wetzons Hand. »Überlaß das mir, Kleines. Ich kriege es heraus. Erzähle niemand, daß Leon dort gewesen ist... auch nicht Silvestri.« Sie holte den Schlüssel aus der Tasche. »Zunächst müssen wir über wichtigere Dinge nachdenken.« Sie starrten beide den Schlüssel an.

»Was meinst du, was...« begann Wetzon.

»Und wenn wir...« sagte Smith. »Wenn wir den Schlüssel nicht Silvestri gäben?«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine... nicht sofort.«

Wetzon blieb eine Weile still.

»Wetzon?«

»Das dürfen wir nicht. Er ist ein Beweisstück in einem Mordfall.«

»Selbstverständlich können wir den Schlüssel nicht behalten, aber darum geht es nicht. Wir könnten ihn aber eine Weile zurückhalten und sehen, ob wir nicht herausbekommen, was er aufschließt. Kann doch nicht schaden. Und vielleicht verdienen wir sogar etwas damit — sagen wir, einen Finderlohn.« Smith setzte ihr Gaunerlächeln auf und gab sich sehr lieb und überzeugend. »Hör zu, Schatz, du bist jetzt müde, und du hast viel durchgemacht. Warum wartest du nicht, bis du klar denken kannst? Ich könnte das wirklich für dich erledigen. Für uns

»Nein, Smith«, sagte Wetzon entschlossen und nahm den Schlüssel.«Ich möchte kein Beweisstück zurückhalten. Es war schlimm genug, daß ich mit Barrys Diplomatenkoffer losgezogen bin, ohne zu überlegen.«

»Aber, aber, ich schlage doch nicht vor, etwas zurückzuhalten, sondern nur abzuwarten. Aber natürlich tun wir, was du willst.« Sie tätschelte wieder Wetzons Hand und ließ ihr offenbar ihren Willen.

Manchmal fragte sich Wetzon, was sie bei dieser Art von Arbeit zu suchen hatte. Obwohl sie es heftig abstritt, schien Smith allein vom Geld motiviert zu sein. »Das Ziel ist«, sagte sie immer, »das Geld aus seiner Tasche in meine zu bekommen.«

Genaugenommen schien jeder in dieser Branche nur vom Geld motiviert zu sein. Gewiß, die Makler legten Lippenbekenntnisse ab, wie sie ihre Kunden schützten, aber wenn es hart auf hart ging und die Provisionen nicht hereinkamen, hatten auch die besten unter ihnen schon Aktien an jemanden verkauft, der keinen Grund hatte, sie zu kaufen. Und die Headhunter? Sie waren nicht anders, obgleich Wetzon noch niemandem einen Stellenwechsel vermittelt hatte, den sie nicht als vorteilhaft für seine Karriere betrachtete. Aber sie stellte sich auch selbst die Frage. Es war ja nicht so, daß sie etwas gegen Geld hatte. Im Gegenteil. Aber das Effektengeschäft war von einer beinahe überwältigenden Aura der Gier umgeben. Als ob das Geldverdienen nicht genug wäre. Es war ein Krankheitskeim, dieses Geld, und die Krankheit hieß Gier. Wieviel war genug?

»Wünschen Sie noch Kaffee?«

»Trinken wir noch eine Tasse«, sagte Wetzon. »Wir haben Zeit, und ich habe Appetit auf Nachtisch, etwas sehr Schokoladiges.«

»Gut. Was haben Sie?« fragte Smith den Kellner.

»Wir haben eine sehr feine Schokoladenmoussetorte oder eine Zuppa inglese, frische Erdbeeren, pur oder mit Zabaglione.«

»Für mich bitte die Moussetorte. Da brauche ich nicht lange zu überlegen.«

»Ich nehme Erdbeeren mit Zabaglione«, sagte Smith.

Wetzon öffnete die Hand und blickte wieder nachdenklich auf den Schlüssel. Es waren eindeutig Ziffern darauf eingekratzt. »Wenn das ein Tresorschlüssel wäre, müßte er schwerer sein, meine ich, und offizieller aussehen. Auf meinem steht »Yale« in großen, gewichtigen Buchstaben quer über den Griff. Der hier sieht mehr nach Schmuckkästchen oder Briefkasten aus.«

»Nun, die Polizei hat inzwischen wahrscheinlich Barrys Wohnung durchsucht. Vielleicht paßt er dort zu einer Schatulle oder einem Geheimfach.« Smith seufzte. »Weißt du, wo das Problem liegt? Wir sind zu ehrlich. Jeder andere hätte Leons Wink aufgegriffen und das verflixte Ding an Jake Donahue verkauft.«

Die Moussetorte war ein gewaltiger Berg aus mehreren Schichten von Schokoladenmousse und Schokoladenbiskuit, genau das, was Wetzon im Moment wünschte. »Menschenskind«, sagte sie strahlend. »Das wird mich sehr glücklich machen.«

»Solche kleinen Dinge machen dich glücklich.« Smith lächelte nachsichtig.

»Für ein dunkles, nahrhaftes Schokoladenirgendwas kann mich jeder kaufen.« Wetzon lachte und ließ eine Gabelvoll im Mund zergehen. »So leicht bin ich zu haben.«

Doch Smith starrte in die Ferne, ohne richtig hinzuhören. Wetzon folgte ihrem Blick. Nichts. Sie blickte ins Leere.

»Was hast du, Smith?« fragte sie.

»Wetzon!« Smith packte Wetzons Hand. »Ich hatte gerade einen glänzenden Einfall. Wie spät ist es?«

»Halb drei.«

»Gehen wir. Verschwinden wir von hier.«

»Ich möchte meinen Kuchen zu Ende essen«, protestierte Wetzon. »Was ist dir eingefallen?« Im Grunde war ihr Smith’ Einfall egal. Sie genoß den Geschmack der Schokolade, die köstlich auf ihrer Zunge zerging. Zum erstenmal seit Barrys Ermordung war sie wieder ihr altes Selbst. Sie wollte sich nicht von Smith in einen ihrer dunklen Pläne ziehen lassen.

»Ach, Mann, Wetzon.« Smith spießte eine Erdbeere auf die Gabel. »Du bist ein Spielverderber.«

»Es ist noch so viel Zeit, bis wir zu Silvestri müssen. Warum der schnelle Aufbruch? Ich möchte nicht mehr ins Büro zurück.«

»Ich will auch nicht ins Büro.« Smith machte dem Kellner ein Zeichen, um zu zahlen. »Ich möchte zu einem Schlosser gehen.«

»Nein!«

»Doch. Wem könnte das schaden? Wir lassen einfach eine Kopie von dem Schlüssel machen und behalten sie. Falls sich herausstellt, daß die Polizei nicht finden kann, wozu er paßt, können wir es vielleicht. Und außerdem«, Smith lachte ihr höhnisches boshaftes Lachen, »denk an all die dankbaren Leute...«