Wetzon schüttelte ihr Haar mit den Fingern auf. Es war fast trocken. Sie kämmte das Gewirr glatt und starrte ihr Spiegelbild im Badezimmer an. Ein sehr ernstes Gesicht blickte zurück. »Lächeln, Mädchen«, sagte sie, du bist in der Versteckten Kamera, und ihr Spiegelbild lächelte sie pflichtbewußt an. Schon besser. Sie mußte etwas mit ihrem Kopf machen. Sie brauchte eine neue Frisur und ein frisches Image. Ja, das war es, was sie brauchte. Sie nahm ein Haarband und kämmte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz.
Getrennt lebend. Jeder hatte geglaubt, Mildred und Jake seien geschieden. Vielleicht konnte getrennt lebend auch geschieden bedeuten.
Sie legte Schwanensee in den Kassettenrecorder und stellte sich an die Barre. Atmen. Positionen. Eins und zwei und drei und vier. Und strecken, heben, Schmerzen. Und dehnen, dehnen, dehnen, langsam strecken. Schmerzen. Demi-plié, grand plié, relevé. Völlig außer Form.
Wenn Mildred und Jake nach dem Gesetz noch verheiratet waren, erbte Jake Mildreds Firma. Die verdammt viel liquider war als Jakes. Wäre das ein Ding.
Dennoch wäre es dumm und offensichtlich gewesen, wenn Jake Mildred nach dieser Szene im Büro ermordet hätte. Und während Jake zwar das beste Motiv hatte, Barry zu ermorden, hätte er auch die Gelegenheit haben müssen. War er am fraglichen Abend im Four Seasons gewesen? Sie wechselte die Positionen und beobachtete sich im Spiegel. Und was war mit Roberta los? Wetzon erinnerte sich nicht, sie gesehen zu haben, als Jake in Mildreds Büro gestürzt war.
Die Polizei mußte eine Vorstellung haben, überlegte sie.
Plié, eins, zwei, drei, vier, und relevé, eins, zwei, drei, vier. Ihr Nacken und der obere Rücken waren sehr verspannt. Sie war wie gerädert. Durch Barry und seinen verdammten Schlüssel, durch Smith und ihre Geldgier, durch die Enthüllung über die fünfundzwanzigtausend Dollar. Durch Smith’ diebische Seele. Warum war ihr das an Smith nicht aufgefallen? Sie hatte Smith mit der Kopie des Schlüssels gewähren lassen, und jetzt war sie genauso schuldig, als hätte sie das Geschäft mit Leon gemacht. Sie würde die Sache mit Smith bereinigen, und dann würden sie Leon das Geld zurückgeben, den Schlüssel wiederbekommen und ihn vernichten. Aber was konnte Leon davon abhalten, ebenfalls eine Kopie des Schlüssels machen zu lassen?
Silvestri müßte es erfahren. Daran führte nichts vorbei. Sie würde darauf bestehen. Was für ein Schlamassel. Das Leben war lange nicht so kompliziert gewesen, als sie Tänzerin war. Weil es da kein Geld gab, Dummkopf. Im Mittelpunkt standen die Arbeit und die Kunst. Sie waren mit Kreativität und Armut gediehen. Sobald Geld auf der Szene erscheint, rückt es in den Mittelpunkt. Es geht nur noch um Geld. Sie würde Silvestri alles berichten. Sich von allem befreien. Sich reinwaschen.
Sie schwitzte jetzt, wurde aber langsam lockerer. Sie müßte noch einmal duschen, bevor sie zu ihrer Verabredung mit Rick ging. Sie rollte die Matte auf dem Boden aus, legte sich hin, rollte sich zusammen und hob die Beine langsam an zu einem Schulterstand.
Smith war als Pflegekind in armen Verhältnissen am Südrand von Philadelphia aufgewachsen. Sie hatte im Geld die Antwort auf alles gesehen. Wetzon hatte sich das noch nie klargemacht.
Rick. Sie mochte Rick. Er war lieb und jungenhaft, trotz seiner vorzeitig ergrauten Haare. Jungenhaft. Das treffende Wort bei Rick war jungenhaft. Danke, Laura LeeDay. Sogar sein Name war jungenhaft. Jungenhaft als Gegensatz zu männlich. Ein Zwischenspiel im Interim. Okay. Oder war sie vielleicht so ausgehungert nach einem Liebhaber, nach einer Beziehung? Hatte die Einsamkeit des selbständigen Lebens in New York City sie endlich eingeholt?
Ihre Türklingel läutete. Türklingel? Wer war denn das schon wieder, und wie war er am Portier vorbeigekommen, ohne angemeldet zu werden? Angst überfiel sie. Sie veränderte vorsichtig die Handstellung, ging langsam aus dem Schulterstand in die Brücke und ließ sich dann Wirbel um Wirbel auf die Matte sinken.
Die Türklingel läutete noch einmal. Sie ging auf Zehenspitzen an die Tür, schob den Spion so leise wie möglich auf, was nicht leise genug war, und entdeckte, daß sie Silvestri ansah, der sie ansah.
»Verdammt«, sagte sie, weil sie an ihren verschwitzten Zustand und die Trainingskleidung dachte. Sie schloß beide Schlösser auf und öffnete die Tür.
»Sie hätten anrufen können«, sagte sie gereizt.
»Ich dachte, Sie hätten mich angerufen.« Silvestri sah sie abschätzend an. Er schien ein wenig unschlüssig, sprachlos. Sie wußte, daß ihr Gesicht von der Anstrengung gerötet war und daß sich auf ihrer Trainingskleidung Schweißflecken abzeichneten. Ihr nasses Haar ringelte sich auf der Stirn und an den Seiten.
Wetzon strich verlegen die feuchten Kringel aus den Augen. »Dann kommen Sie schon rein, Silvestri. Sie haben mich mitten im Training überrascht. Wo war der Portier?«
Er roch nach Kaffee und Zigaretten. Und nach dem Aftershave ihres Vaters. Nach Wald. Der Geruch eines arbeitenden Mannes. Rick roch nach Antiseptika.
»Ich habe niemand gesehen«, sagte er.
»Schöne Verhältnisse.«
Sie ging ihm ins Wohnzimmer voraus, in dem die Zeitungen noch ausgebreitet waren, wo sie und Smith sie liegengelassen hatten. »Machen Sie es sich bequem«, sagte sie.
Die Klänge von Schwanensee umschwebten sie. Sie standen einen Moment da und sahen sich an. Dann setzte Silvestri sich aufs Sofa und machte kein Hehl daraus, daß er das Zimmer einer gründlichen Besichtigung unterzog.
Wetzon ließ sich auf den Boden fallen, die Arme vorgestreckt, die Hände um die Knöchel, die Ellbogen auf dem Boden, die Beine ausgestreckt, die Muskeln lockernd. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, ohne es zu meinen, nur um das Schweigen zu brechen. »Ich möchte nicht verkrampfen.« Jetzt musterte er sie ganz offen, ohne etwas zu sagen. »Ich war früher Tänzerin«, sagte sie, befangen, weil sie wußte, daß sie es ihm schon früher gesagt hatte.
»Ich weiß.« Er machte es sich auf dem Sofa bequem und wartete.
»Ich habe Sie angerufen...« begann sie.
»Sie haben mich angerufen«, sagte er fast gleichzeitig.
»Hat Jake Donahue Mildred und Barry umgebracht?«
»Was haben Sie gestern nachmittag in Mildred Gleasons Büro gemacht?«
Sie starrte ihn an. »Sie hat mich angerufen und gebeten, sie aufzusuchen«, sagte sie vorsichtig.
»Sie waren also bei Stark und Travers und Gleason, kurz bevor sie starben.«
Sein Ton gefiel ihr nicht. »Moment mal, Silvestri«, sagte sie erschrocken. »Sollte ich mir einen Anwalt besorgen? Stehe ich unter Verdacht?«
Sie sahen sich unverwandt in die Augen.
»Nee«, sagte er schließlich. »Möglich wäre es. Aber das Motiv fehlt, und es gab zu viele Zeugen, wo Sie waren.«
»Herrgott, Silvestri, was machen Sie mit mir?« Sie setzte sich auf und zog fröstelnd die Knie an. »Ich habe Sie angerufen, weil Smith meint, jemand versuche, mich umzubringen...«
»Schießen Sie los.« Silvestri zog einen Block und Kuli aus seiner Innentasche, so daß sie kurz seine Pistole und Schulterhalfter sah. Er ließ sich nichts mehr von der Schußwunde anmerken.
»Der Obdachlose, der gestern abend ermordet wurde — eine Straße weiter...«
»Ja?«
»Sie wissen Bescheid?«
»Ich habe den Bericht gelesen. Was hat das mit Ihnen zu tun?«
»Nichts, glaube ich. Aber ich kannte ihn. Sein Name war Sugar Joe. Wenigstens nannten wir ihn so. Ich habe ihm fast ein Jahr lang regelmäßig Kaffee hingestellt. Er schlief in der Bushaltestelle.« Sie machte eine Pause und betrachtete ihn. Da er keine Reaktion zeigte, fuhr sie fort. »Ich wurde aus dem Weg geschubst oder geschleudert, gerade eine Sekunde, bevor es passierte. Smith meint, der Täter habe es auf mich abgesehen gehabt.«
»Wie kommen Sie darauf, daß es etwas mit Ihnen zu tun hatte?«
»Ich glaube es ja gar nicht. Ich bin wohl nur in die Schußlinie geraten. Zufall. Aber warum bringt jemand einen Obdachlosen um?« Schwanensee hüllte sie in ein abschließendes Crescendo.
»Wir befinden uns in den achtziger Jahren und in New York City. Ja, warum«, sagte Silvestri unbewegt. »Wieso glaubt Miss Smith, daß der Mörder hinter Ihnen her war?« Er stand auf und betrachtete die Bücher, die sie auf dem Beistelltisch gestapelt hatte, indem er eins nach dem andern in die Hand nahm.
»Wegen meiner Jacke«, sagte sie. »Warten Sie. Ich zeige sie Ihnen.« Sie sprang auf, ging ins Schlafzimmer, holte die Jacke aus dem Schrank und brachte sie ihm.
Er nahm die Jacke am Kragen und ließ sie herunterhängen, während er sie untersuchte. Sie sah noch schlimmer aus als in ihrer Erinnerung. Das zweite Kostüm, das sie innerhalb von zwei Tagen ruiniert hatte, dachte sie bedauernd. Sie würde sich völlig neu einkleiden müssen, wenn das so weiter ginge.
»Ich möchte sie gern mitnehmen«, sagte er.
»Bitte. Ich kann sie sowieso nicht tragen, nicht einmal ausbessern lassen.«
Er klemmte den kläglichen Rest ihrer dunkelgrauen Kostümjacke unter den Arm, und es erfüllte sie mit einem kurzen Hochgefühl. Masochist, dachte sie. Hör auf damit.
»Warum wollte Mildred Gleason Sie sehen?« fragte Silvestri.
»Sie wollte wissen, was Barry mir sagte. Sie sagte, Barry habe für sie gearbeitet, er habe sie unmittelbar vor seiner Ermordung angerufen. Während er ermordet wurde.« Sie zögerte. Das war die Gelegenheit, ihm alles zu sagen. »Silvestri, ich möchte...«
Silvestris Piepser meldete sich.
Er griff in seine Brusttasche und schaltete den Piepser ab.
»Sagte sie sonst noch was?«
»Ja, daß Barry etwas von Bändern gesagt habe.«
»Darf ich Ihr Telefon benutzen?« Ihr war nicht aufgefallen, wie groß er war. Oder möglicherweise, wie klein sie war.
»Ja, in dem anderen Zimmer, wo ich trainiere.«
Er rührte sich nicht. »Ist das alles?«
»Ja, das ist alles. Dann kam Jake herein, und sie fingen an, sich anzuschreien, und ich ging weg.« Sie führte ihn ins Eßzimmer und wartete, während er anrief.
»Silvestri«, meldete er sich. Dann hörte er zu. »Bin schon unterwegs.« Er legte auf.
»Was ist mit dem Schlüssel?« fragte sie. »Haben Sie gefunden, wozu er paßt?«
Er zuckte die Achseln. »Es ist ein Standardschlüssel, wie er für Arzneischränke in Krankenhäusern und anderswo benutzt wird. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Nein. Aber Barry muß mir etwas gesagt haben, an das ich mich nicht erinnere, etwas, das ich nicht zusammenbringe. Was könnte Barry mit einem Schlüssel für einen Krankenhausschrank zu tun haben, und warum sollte er ihn mir geben?« Sie hielt nachdenklich inne. »Wurde er wegen des Schlüssels ermordet?« Sie runzelte die Stirn und drückte beide Hände an Jen Kopf. »Es ist nicht logisch. Nichts an der ganzen Sache ist logisch.«
»Wie kommen Sie darauf, daß Mord logisch ist?« sagte Silvestri.