Was hatte Smith mit Georgie Travers zu schaffen, den sie nicht ausstehen konnte? Aber war G.T. wirklich Georgie Travers?

Wetzon zögerte an der Ecke der Second Avenue. Welchen Weg sollte sie gehen? Sie entschied sich für die schöne Strecke über die Fifth Avenue bis hoch zum Central Park.

Wenn du zuviel grübelst, wirst du verrückt, sagte sie sich. Sieh dir die Leute auf der Straße an, wirf einen Blick in die Schaufenster. Sie betrachtete eine langbeinige junge Frau mit einem Wust von langem, dunklem, mit Plastikkämmen und Klips aufgestecktem Haar und baumelnden, nicht zusammenpassenden Ohrringen — künstliches SoHo-Chaos — , die sich gegen einen großen blauen Briefkasten an der Westseite der 49. Street stützte und hohe weiße Stiefel schnürte. Sie trug einen kurzen schwarzen Kasack, halb über die Oberschenkel, über schwarzen Leggings. Sie richtete sich auf und starrte Wetzon an, die nicht gemerkt hatte, daß sie selbst starrte. Verlegen ging Wetzon schnell in Richtung Fifth Avenue weiter.

Du vergißt deine Manieren, altes Haus, dachte sie. Was sie an Carlos erinnerte. Wäre es nicht wunderbar, wenn er wieder in seinem Beruf arbeiten könnte? Er vermißte das Zigeunerleben mehr als sie. Er vermißte die Aufregung und den Klatsch und die Kameradschaft. Es schien ihn nicht so zermürbt zu haben wie sie.

Sie musterte die Ausstellung von kurzen metallischen Kleidern bei Sak’s in einem Schaufenster an der 49. Street skeptisch. Wer würde jemals so etwas tragen? Gewiß niemand in ihrem Bekanntenkreis.

Ein kalter Wind kam auf und traf sie unverhofft. Sie spürte ein Frösteln und dann das plötzliche merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Sie erinnerte sich an den Schrecken des vergangenen Tages, als die Hand sie in den Verkehr gestoßen hatte, und drehte sich rasch um.

Käufer, mit Kameras behängte gaffende Touristen, Boten, senegalesische Straßenhändler mit ihren imitierten Designer-Uhren, die Fifth Avenue-übliche Mischung von Menschen und Kostümen. Aus dem Augenwinkel sah sie das Mädchen im Robin-Hood-Kostiim — Stiefel, Leggings, Kasack-, das in der Nähe ebenfalls in ein Safes-Fenster blickte. Aber es achtete nicht auf Wetzon. Kein Zeichen des Wiedererkennens oder der Bedrohung, was das betraf.

Wetzon schüttelte den Kopf. Sie wurde allmählich schreckhaft. Sie setzte ihren Weg fort, aber sie ging nun schneller.

I. Miller Ecke 57. und Fifth hatte einen Sonderverkauf von Ferragamo-Schuhen. Sie ging sofort hinein und probierte ein Paar schwarze Lackpumps mit Zwei-Zoll-Absätzen. Sie saßen wie angegossen. Sie kaufte sie in Lack, Weiß und Marineblau und vereinbarte, daß sie geliefert würden. Während sie wartete, daß ihr die American-Express-Karte zurückgegeben wurde, blickte sie durch das Schaufenster auf die 57. Street hinaus und sah wieder das Mädchen mit der wilden Frisur. Sie schien auf jemanden zu warten.

Als Wetzon I. Miller verließ, war das Mädchen fort. Sie überquerte die 57. Street und ging auf das Plaza und den Central Park zu.

»Möchtest du noch zu Trumping gehen?« hörte sie eine Frau mit einer Bergdorf’s-Einkaufstasche zu einer anderen mit einer Bonwit’s-Tasche sagen. Trumping. Das war etwas Neues. Sie sprachen von den Läden im Trump Tower, gegenüber von I. Miller an der Fifth Avenue. Winzige teure Geschäfte und Boutiquen drängten sich inmitten rosa Marmors. Es war ein schöner, wenn auch etwas üppiger Platz mit seinem großen Wasserfall, dem teuren Restaurant daneben und dem Konzertflügel mit einem Cocktailpianisten in der Lobby.

Jedesmal, wenn sie am Plaza vorbeikam, dachte sie an die Szene in The Way We Were, in der Robert Redford mit einer sehr angelsächsisch aussehenden Frau aus dem Plaza kommt, und Barbra Streisand, sehr fremdländisch, auf der anderen Straßenseite steht und Passanten bittet, Petitionen gegen Kernwaffen zu unterschreiben. Es machte sie sehr traurig, als würde sie diese Leute tatsächlich kennen. Sie dachte über Katie und Hubbell nach, die Rollen von Streisand und Redford, während sie die Central Park South hinaufging. Sie blieb am Café de la Paix im St. Moritz stehen, wo Touristen eisgekühlte Drinks im Freien tranken, und sah wieder flüchtig das Mädchen in Kasack und Leggings, das, als es Wetzon sah, in die Lobby des St. Moritz huschte.

Das war zuviel des Zufalls. Aus irgendeinem sonderbaren Grund folgte ihr das Mädchen. War es verärgert, weil Wetzon es angestarrt hatte, als sie es zum erstenmal am Briefkasten lehnend bemerkt hatte?

Während Wetzon darüber nachgrübelte, beobachtete sie einen Mann, der auf dem Notsitz eines Sportwagens vorbeistrampelte — nur mit dem Sitz, nicht dem Wagen. Er lenkte mit einer Stange, die wie ein Joystick zwischen seinen Füßen ragte. Für einen Moment vergaß sie über dem seltsamen Gefährt beinahe ihren bizarren Schatten.

Sobald die Ampel umschaltete, tauchte Wetzon in den Central Park. Ihr Aktentasche schien schwerer und schwerer zu werden, ein sicheres Zeichen, daß sie müde war. Im Schutz der Mauer sah sie das Mädchen aus dem St. Moritz kommen und Ausschau halten.

Unvermutet überquerte das Mädchen die Straße und ging in Wetzons Richtung. Wetzon spürte eine jähe Angst, die, wie sie wußte, irrational war, aber sie lief dennoch los, Richtung Central Park West, wich Kindermädchen mit Babys in Kinderwagen und schreienden Kindern mit tropfenden Eistüten aus, vorbei an Joggern und den Alten, die sich auf den Bänken sonnten. Ein großer schwarzer Hund mit dicken Pfoten begann wild nach ihr zu bellen, als sie an der 65. Street hinauskam.

Sie war praktisch durch den Park gerannt, ohne im Tempo nachzulassen, bis sie in die Columbus Avenue einbog und wieder auf ihrem heimatlichen Boden war, der West Side. Japsend und schwitzend blieb sie vor Trocadero und seinem schönen Fenster mit französischer Sportkleidung stehen, um wieder zu Atem zu kommen, als sie zu ihrer Bestürzung das Mädchen, vor dem sie weglief, vor Furla’s herumlungern und so tun sah, als betrachte es beiläufig die Handtaschen im Schaufenster.

Verdammt, dachte Wetzon, mehr verärgert als verängstigt. Das mußte ein Ende haben. Als das Mädchen einen Augenblick wegsah, steckte Wetzon ihre Aktentasche unter den Arm und sauste die Straße hinauf zu Sedutto’s, dem Eissalon. Sie ging durch die Hintertür von Sedutto’s in Diane’s, das Hamburgerlokal, das daran anschloß, und durch das Lokal zum Vordereingang von Diane’s. Das Mädchen kam die Straße herauf und blickte suchend nach rechts und links; als es den Eingang von Diane’s erreichte, sprang Wetzon vor und packte es am Arm.

»Jetzt hab’ ich Sie«, sagte Wetzon empört und schüttelte es, als das Mädchen sich losreißen wollte. »Wer sind Sie, und warum verfolgen Sie mich?«

Das Mädchen starrte sie an, und zu Wetzons Entsetzen verzog es das Gesicht und begann zu weinen.

»Ach du Scheiße«, sagte Wetzon und kam sich sofort wie ein Unmensch vor.

»Tut mir leid.« Das Mädchen schluchzte, und die Tränen strömten über ihre mageren Wangen. Ich hab’s nicht böse gemeint. Ich wollte mit Ihnen sprechen, aber ich wußte nicht, wie.« Ihr Tonfall war unverfälschter Bronx.

»Hören Sie schon auf«, sagte Wetzon erschöpft. Alle sahen sie neugierig an, schoben sich an ihnen vorbei, paßten auf. Sie legte ihren Arm um die überraschend muskulösen Schultern des schluchzenden Mädchens. »Gleich um die Ecke ist das Café La Fortuna. Setzen wir uns doch dort hin, und Sie können mit mir reden.«

Das Mädchen zog geräuschvoll die Nase hoch, holte aus einer winzigen grellrosa Umhängetasche ein gelbes Kleenex und schneuzte die Nase. Sie setzten sich an einen Tisch im Freien. Wetzon war verlegen, weil sie wegen nichts einen Berg aus Angst aufgetürmt hatte. Und jetzt kam sie sich gemein vor, fast tyrannisch. »Haben Sie Lust auf einen Cappuccino?« fragte der gemeine Tyrann.

Das Mädchen nickte. Die Tränen hatten den Lidschatten und schwarzen Eyeliner verschmiert und ungleichmäßig über das Gesicht verteilt. Sie sah wie ein kleines Mädchen aus, das das Make-up seiner Mutter ausprobiert und es vermasselt hatte.

Wetzon bestellte zwei Cappuccino und sagte zu dem Mädchen: »Sie kennen mich?«

Das Mädchen schniefte. »Sie sind Wetzon.«

»Okay. Kenne ich Sie?«

Das Mädchen kramte in der rosa Umhängetasche nach einem frischen Kleenex, schluckte und bekam Schluckauf, während die Tränen wiederkamen. Ein dunkelroter Kamm rutschte aus seinem Haar und fiel vor seine Stiefel.

Wetzon holte ein Päckchen Papiertaschentücher aus ihrer Handtasche und gab es dem Mädchen.

»Es tut mir wirklich leid«, murmelte das Mädchen, während es sein Gesicht abwischte.

»Wer sind Sie?«

Der Kellner stellte zwei mit Zimt bestäubte, schaumige Cappuccino vor sie und entfernte sich diskret.

»Ich heiße Ann Buffolino.«

»Ann Buffolino?« Der Name sagte Wetzon nichts. Dann flackerte ein Fünkchen Licht durch ihren Kopf. »Moment mal. Sind Sie Buffie?« fragte sie und wußte die Antwort, bevor sie kam.