Wetzon fuhr normalerweise äußerst ungern mit der U-Bahn zur Wall Street. Der IRT war ein Mülleimer. Die Böden des alten Zugs waren abgetreten und Stücke aus dem Linoleum gerissen, und wohin man blickte, lag Dreck, Teile von Zeitungen, Bonbonpapier, weggeworfene Essensreste. Graffiti bedeckten Fenster, Sitze und Türen ebenso wie die Streckenpläne der U-Bahn. Pech für die Touristen, die Graffiti so malerisch fanden. Mindestens eine Coladose rollte bei den ruckhaften Bewegungen des Zugs hin und her, wobei der restliche Inhalt sich auf den schmutzigen Boden ergoß, so daß man mit den Schuhen kleben blieb. Der Lärm der U-Bahn war noch schlimmer. Das Kreischen und Quietschen der Räder auf den Schienen war ohrenbetäubend.

Am anderen Ende des Wagens lag ein Penner auf dem Rücken, schlief stinkend auf mehreren Sitzen, hatte die ganze Seite des Wagens für sich, isoliert und ignoriert von den übrigen Passagieren. Niemand schien sich über seinen Duft oder sein Benehmen aufzuregen. Die New Yorker waren anscheinend fähig, nicht wahrzunehmen, was sie nicht sehen oder womit sie nichts zu schaffen haben wollten. Wie wenn man bei Verwesungsgeruch den Atem anhielt. Oder einen richtigen Krieg im Fernsehen sah. Vielleicht.

Der Zug hielt an der 14. Street, und nur eine der Türen ging auf. Jemand polterte herein und setzte sich schräg gegenüber von ihr hin. Auf den ersten Blick war der neue Fahrgast ein Mann, groß und breitschultrig. Was ihren Blick magisch anzog, war der Haarschopf, der gerade hochstand und dann über die Mitte des Kopfs zum Nacken lief. Die Seiten waren kahlgeschoren. Das übrige Haar war ungefähr sieben Zentimeter breit, eher weniger. Wie ein Irokesenkrieger. Nur lila. Die Augen waren dick mit schwarzem Lidstrich und Lidschatten geschminkt, und die Haut war aschig. An dem für Wetzon sichtbaren Ohr steckten vier Sicherheitsnadeln übereinander, angefangen beim Ohrläppchen. An den Sicherheitsnadeln waren Schrottstückchen befestigt, die geformt oder zumindest geplant erschienen. Die Augen fixierten nichts, sondern waren gesenkt.

Die Beine steckten in groben Netzstrümpfen, voll von zusätzlichen Löchern und Rissen und waren an der Seite des Beins, das zu sehen war, von weiteren, großen Sicherheitsnadeln zusammengehalten, bis hoch in die kurze abgeschnittene Hose. An den Füßen waren klobige braune Militärstiefel, zur Hälfte geschnürt, sehr blank poliert und mit herausragender Lasche.

Der Körper trug ein weißes T-Shirt mit einem verblaßten Muster und ein abgetragenes Arbeitshemd darüber, nicht zugeknöpft, die Ärmel aufgerollt. Nichts deutete auf Brüste hin, doch bei näherem Hinsehen begann irgend etwas an der rätselhaften Gestalt Weiblichkeit auszustrahlen. Die Nägel waren grell rot angemalt, aber das hatte heutzutage in Hinblick auf das Geschlecht nicht viel zu sagen.

In einer Stadt, wo jeder eine Verlautbarung abgeben mußte, wirkte diese wie ein Blitzstrahl. Sie war jemandes Tochter, wer auch immer das war, Gott steh ihm bei. Der Trotz, der von der steifen Gestalt ausging, war greifbar.

Wetzon schauderte. Ihr Leben war in Aufruhr. Sie war voller, Zweifel, über sich selbst, ihre Arbeit, Smith, Leon. Sie war froh, daß Rick Pulasky am Abend vorbeikommen wollte. Es würde sie ablenken, und sie würde nicht allein sein. Zum erstenmal empfand sie ein Unbehagen, allein zu wohnen, das sie früher nie gespürt hatte. Aber das war albern. Es war unmöglich, in New York City zu leben und sich nicht gelegentlich verletzbar zu fühlen.

Der Wagen leerte sich an der Chambers Street, die trotzige Gestalt eingeschlossen, und drei schwarze Teenager stiegen zu und machten sich ihr gegenüber breit. Sie trugen lange weiße Sportsocken, Turnhosen und New Balance-Laufschuhe mit dem großen rosa N an der Seite. Teure Schuhe für Teenager. Sie wußte nicht, ob es gewöhnliche Teenager waren oder ob sie über sie herfallen und ihre Handtasche an sich reißen würden. Ihre normalerweise guten Instinkte ließen sie im Stich. Sie stand auf, als der Zug in die Park Place einfuhr, aber der abrupte Halt warf sie wieder auf den Sitz. Als sich die Tür öffnete, stiegen zwei Zugbegleiter ein, die mit ihren dunkelroten Mützen sehr tüchtig aussahen, und Wetzon entspannte sich sichtlich. Die Teenager redeten weiter, ohne auf Wetzon oder die Zugbegleiter zu achten.

Mann, oh Mann, ihre Phantasie machte Überstunden. Sie stieg in der Wall Street aus. Es regnete nicht mehr, aber die Luft war klamm und kalt. Sie knüpfte ihren Burberry zu. Mildred Gleasons Büro war nicht weit, Broadway Nummer 61. Es war kurz vor zwei Uhr.

Der Himmel über ihr wurde dunkler, als sie durch die Wall Street ging, die trotz des Wetters voller Menschen war. Ursprünglich im 17. Jahrhundert als Wall gebaut, um die damals holländische Stadt gegen die Engländer zu schützen, war die Straße bis zur Wende zum 20. Jahrhundert in das Finanzzentrum des Landes umgemodelt worden. In den letzten fünfzehn Jahren war der Finanzdistrikt, der jetzt meist einfach als The Street bezeichnet wurde, zu einer Mischung aus Altem und Neuem geworden: Hier, wo Wetzon jetzt ging, waren unerschütterliche Betonbauten, gealtert und rußgeschwärzt, und die Straßen waren dunkle, enge Schächte, und unten am East River, an der Südspitze von Manhattan, waren die Gebäude Riesentürme aus Marmor und Glas.

Wetzon staunte immer über die unirdische Atmosphäre im unteren Manhattan. Überall mischten sich Büroangestellte mit Geschäftsführern und Boten, Verkäufern, Wertpapierhändlern, Arbitrageuren. In diesem Stadtteil sah man wenig Touristen mit Kameras. Die hier Ansässigen hasteten durch die engen, schmutzigen Straßen, durch die schiere Masse der Bauten zu Zwergen gemacht — tatsächlich und symbolisch.

Vielleicht waren deshalb so viele Firmen zur Water Street und in das Gebiet um die Battery umgezogen, angezogen vom weiten Raum und vom Licht. Aber dieses Licht brachte Enthüllungen mit sich. Die dunklen alten Gebäude hatten viele Geheimnisse geborgen, und die krummen kleinen Straßen schienen voller Rätsel zu stecken. Das helle Licht war beinahe eine Einladung an die SEC, sich umzuschauen.

Wetzon bog in die Broad Street ein, die in holländischer Zeit ein Kanal gewesen war. Sie liebte die historische Aura dieses Teils von New York. Wegen ihres Berufs war sie immer in Eile, wenn sie zu einem Treffen oder einem Vermittlungsgespräch hierherkam, und danach fuhr sie sofort wieder zurück. Eines Tages würde sie mit einem Stadtführer in der Hand wie eine Touristin durch die Straßen schlendern.

Es begann zu regnen. Sie spannte den Schirm auf und bog in die kurze, enge Gasse der Beaver Street ein. Diese alten Straßen waren schon bei normalem Tageslicht dunkel, weil auch nicht allzu hohe Gebäude das Licht nahmen. Die Straße hatte kaum die Breite eines Personenautos, da sie für Karren und Kutschen geplant und später noch durch schmale Gehsteige eingeengt worden war, die kaum breit genug für eine Person waren. Und wenn jeder einen Schirm trug wie jetzt, wurde es zu einem Hindernislauf.

Wetzon versuchte, an einem dicken, bärtigen Mann vorbeizukommen, der eine Pizza verspeiste, ohne auf den Regen zu achten, als sie mit einer Frau zusammenstieß, die einen roten Hochglanzregenmantel trug und einen riesigen rot und weiß gestreiften Schirm hielt.

»Du lieber Himmel, das ist ja Wetzon! Warum sind Sie nicht in Ihrem Büro und telefonieren Dollars zusammen?«

Wetzon war so in Gedanken versunken gewesen, daß sie Laura Lee Day nicht erkannt hatte, eine zierliche Frau etwa in Wetzons Alter, die einen schwarzen Geigenkasten im Arm hatte, als hielte sie ein Baby. Laura Lees braunes Haar im Wet-Look stand kurz und stachlig hoch, mit blonden Spitzen, aber sehr gepflegt. Vor zwei Jahren hatte Wetzon sie bei Merrill abgeworben und bei Oppenheimer untergebracht.

Als Flüchtling aus Mississippi, der immer noch den breiten Südstaatenakzent sprach, wenn es ihm paßte, war Laura Lee Day nach New York gekommen, um an der Juilliard School Geige zu studieren, aber ihr Vater meinte, sie solle entweder heiraten oder einen anständigen Beruf wählen, deshalb hörte er nach einigen Monaten auf, den Unterricht zu bezahlen. Sie hatte eine Stelle bei Merrill als Maklerin angenommen, nur um Geld für ihr Musikstudium zu verdienen. Vier Jahre später war sie eine der Topmaklerinnen in der Wall Street geworden. Sie hatte eine hübsche Wohnung direkt gegenüber der Juilliard und zahlte ihre Geigenstunden bei einem der besten Lehrer der Welt selbst.

»Laura Dee Day, wie sie leibt und lebt«, antwortete Wetzon im Südstaatenakzent.

»Wetzon, Wetzon«, schalt Laura Lee milde. »Ich weiß, was Sie sich zumuten, und das muß ein Ende haben, hören Sie?« Sie trat auf die Straße, um jemanden vorbeizulassen. »Machen Sie den Kinderschirm zu, und kommen Sie unter meinen.«

»Laura Lee, ich bin in der Klemme«, gestand Wetzon, indem sie den eigenen Schirm zusammenfaltete und sich unter den riesigen rot und weiß gestreiften stellte. »Ich bin in der Klemme, seit...«

»Kein Wort mehr, Wetzon. übrigens habe ich heute an Sie gedacht. Machen wir den Bürgersteig frei. Wir verursachen hier einen gewaltigen Verkehrsstau.«

Die winzige alte Beaver Street, wo die Baumwollbörse einst ihren Hauptsitz hatte, gab einem das Gefühl einer optischen Täuschung. Die hoch aufragenden Gebäude schienen sich über den Menschen weit unten wie Bäume nach innen zu neigen. Ein Auto kroch langsam auf sie zu und drängte sie wieder auf den Bürgersteig.

Wetzon sah auf die Uhr. »Ich bin spät dran«, sagte sie, wenngleich ohne ihre gewohnte Besessenheit, pünktlich zu Verabredungen zu kommen.

»Wohin müssen Sie?«

»Ich habe eine Verabredung am Broadway 61.« Wetzon hakte sich bei Laura Lees Schirmarm unter, und sie gingen auf den Broadway zu.

»Wohin danach?«

»Die Bar im Vista um fünf.«

»Gut. Wenn Sie am Broadway fertig sind, kommen Sie gleich in mein Büro und holen mich ab.« Laura Lee war temperamentvoll, auch an einem trüben Tag, und heute sprudelte sie vor Energie.

»Was haben Sie vor, Laura Lee? Wo gehen wir hin?«

»Century Twenty-one hat einen großen Ausverkauf an Wäsche.«

»Laura Lee«, lachte Wetzon, »Sie sind verrückt. Ich trage keine Seidenwäsche.« Sie blieben an der Ecke Beaver und Broadway stehen.

»Dann, meine Liebe, wird es höchste Zeit«, sagte Laura Lee mit Nachdruck. »Das wirkt Wunder für Ihr Selbstgefühl.« Sie gluckste. »Und Ihr Geschlechtsleben. Bis dann.«

Was für ein Geschlechtsleben? dachte Wetzon, während sie Laura Lees fröhliche rote Gestalt in Richtung World Financial Center davontänzeln sah.