Im Caranvanserie ging alles seinen gewohnten Gang, ungeachtet der Tatsache, daß der Mann, der es geschaffen hatte, erst vor zwei Tagen brutal ermordet worden war. Die Schlange vor dem Eingang reichte die 65. Street bis zur First Avenue hinunter, aber es wurde kaum um Posten gerangelt. Manche Hoffnungsvollen waren absolut normale Typen in Straßenanzügen und einfachen Kleidern, andere dagegen waren ein wenig bunter. Ein großer Mann in einem pinkfarbenen Polohemd mit der Aufschrift ICH BIN DER HIT DES TAGES und einer Kappe der Mets auf dem Kopf plauderte mit einem anderen Mann, etwas jünger, in weißem Cut und schwarzer Smokinghose, die in Kniehohe abgeschnitten war und zu der er heruntergerollte weiße Sportsocken und hohe schwarze Reeboks trug. Es waren Mädchen da mit Pfennigabsätzen und glitzernden Miniröcken und ein Mann in mittleren Jahren und eine Frau in schwarzem Leder und Ketten. Und es war das übliche Völkchen aus Soho da, Schriftsteller, Leute aus dem Showbusineß. Jeder war — beinahe — ein Original. Ein Hauch von Punk, ein wenig Madonna und ein Anstrich von S & M.
»Andy Warhol hatte recht«, sagte Wetzon, als sie vor dem Caravanserie aus dem Taxi stiegen. Die Tür war von zwei tollen Frauen, einer schwarzen und einer weißen, und vier sehr massiven Männern in der Uniform eines privaten Sicherheitsdienstes besetzt.
»Womit?« fragte Carlos, während er den Fahrer bezahlte.
»Daß jeder Mensch fünfzehn Minuten lang berühmt sei. Georgie die Berühmtheit. Georgie, wer ist denn das?«
Eine kräftige Frau in einem langen grauen Rock und einem über den Kopf gezogenen grauen Cape, das wie ein Leichenhemd aussah, schrie vor der Schlange: »Die Sendung ist vorbei! Gott sagt, jeder kann das Land verlassen!« Keiner achtete auch nur im geringsten auf sie, und sie achtete auf niemanden.
Carlos nahm Wetzons Hand und gab der schwarzen Frau, die ein weißes Strickkostüm, ganz Chanel, mit Kaskaden von Ketten trug, eine quadratische Einladungskarte.
»Hallo, Carlos, wie läuft’s, Schatz?« begrüßte sie ihn mit einem Klaps auf die flache Hand.
»Hallo, Gwen. Das ist meine Freundin Les Wetzon.«
»Guten Tag, Freundin Les.« Gwen zwinkerte Wetzon zu und ließ die Einladung in einen großen Metallbehälter fallen, der in der Art von Picassos blauer Periode bemalt war, Clowns und so.
»Tag, Carlos«, sagte die andere Türhüterin, die gerade ein Paar in zueinander passenden Goldlamehemden und Jeansoveralls einließ. »Doktor Schweitzer, schön, Sie wieder mal zu sehen.«
Der Schauplatz war die großartige alte Episkopalkirche St. Eustis, die unter Denkmalschutz stand. Vor Jahren waren die meisten Gemeindemitglieder von St. Eustis nach Queens umgezogen, und die Kirche war nacheinander von anderen Konfessionen genutzt worden, darunter den Hare Krishnas und sogar den Juden für Jesus, aber nicht sehr lange, und sie hatte tatsächlich schon eine Weile leer gestanden, als Georgie Travers auf die Idee gekommen war, eine Disco daraus zu machen, und dann sein exklusives Fitneßcenter über und hinter dem reich verzierten barocken Kirchenbau mit der großen Rosette aus buntem Glas in der Fassade anbaute. Es hatte etwas fast Obszönes und Gotteslästerliches an sich, und immer noch demonstrierten von Zeit zu Zeit Gruppen der »Moralischen Mehrheit« davor.
Im Innern der wunderschönen Kirche gab es eine kunstvolle Treppe aus Glasbausteinen, die sich in der Mitte teilte und nach oben schwang, jedoch nicht so hoch, daß die Wirkung der schönen gewölbten Decken mit ihren Jugendstilfresken verlorengegangen wäre. Die Treppe führte zu einem Tanzsaal mit Sitzreihen ringsum, die wie eine Tribüne mit drei Rängen aufgebaut, aber mit Samt gepolstert waren.
Der überraschende Verschnitt von modern und Art deco, vermischt mit der Barockarchitektur der alten Kathedrale, war atemberaubend. Wetzon hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen, nicht einmal in den Bühnenbildern der Broadwayshows, in denen sie aufgetreten war. Der Lärm war genauso atemberaubend. Musik dröhnte aus Lautsprechern so groß wie Säulen, und die Beleuchtungseffekte erinnerte die beiden an die Bühne. Als sie sich unter die Masse auf dem Tanzboden mischten, hatte Wetzon das Gefühl, daß die Musik, die Lichter und die wogende Menge die Ereignisse der vergangenen vier Tage wegfegten, als wären sie nie geschehen.
»Was für eine tolle Stimmung!« schrie sie Carlos zu, als sie sich der Musik überließ. Meine Güte, sie und Carlos hatten nicht mehr miteinander getanzt, seit sie normal geworden war, wie Carlos ihren Entschluß, aus dem Showbusineß auszusteigen, gern nannte. Und das war wunderschön, wunderschön.
Während sie tanzten, bog sie den Kopf zurück, um die phantastische Simulation eines Feuerwerks an der sich drehenden Decke zu betrachten, das sich wie ein Kaleidoskop schnell veränderte, und dann sah sie, wie ein Stück Decke sich in Bewegung setzte und ihr entgegenkam. Sie schaute sich um. Niemand schien in Panik zu geraten, sie begannen nur alle Platz zu machen, langsam, im Rhythmus der Musik, als wartete man darauf, und dann kam ein Gruppenbild — unglaublich, ein richtiges Gruppenbild, das aussah wie eine asiatische Eliza und die kleine Eva, die über das Eis geht, aus Onkel Toms Hütte — herunter und blieb auf dem Tanzboden stehen. Die Szene erinnerte an die Pantomimen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Onkel Toms Hütte als Der König und ich,. Sein Schöpfer war ganz sicher Tänzer oder Choreograph. Es gab Applaus und Gelächter, als Topsy und Eva aus dem Bühnenbild sprangen und sofort als Tanzpartner aufgefordert wurden. Das Gruppenbild schwebte wieder zur Decke hoch und verschwand in dem wirbelnden Feuerwerk, und der Beat ging weiter, mit Wetzon und Carlos und dem Rest, der sich durch die glitzernde, vielfarbige Licht-Show und die von Rauch, Hektik und Parfüm geschwängerte Luft improvisierend drehten und schlängelten.
»Ist das nicht der phantastischste Ort der Welt?« schrie Carlos. »Sieh nur, was dir entgangen ist.« Er machte einen seligen Eindruck.
Luftschlangen in Leuchtfarben flatterten von oben herab. Der Rhythmus wechselte, wurde schneller. Leslie Wetzon elektrisiert, lebendig, wie sie sich lange nicht mehr gefühlt hatte. Hatte sie in den Jahren, seit sie dem Theater den Rücken gekehrt hatte, als Schlafwandlerin gelebt? Darüber würde sie nachdenken müssen.
»Lieber Carlos, du hast recht, du schöner Mann«, sagte sie, indem sie ihn an sich drückte und ihre Körper sich mit der Musik bewegten.
Später, viel später, unten in der Galerie, die, beginnend unter der Glastreppe, durch das ganze Gebäude zu laufen schien, saßen sie an der längsten Bar, die sie je gesehen hatte, und tranken Champagner mit frischen Pfirsichen, in ihren Gläsern zerdrückt — Bellinis, Hemingways Drink. Oben übertönte die Musik alles, aber hier konnte man reden und gehört werden.
Sie lehnte sich an Carlos und gab ihm einen dicken Kuß auf jede Wange. Ihre überraschende Bewegung hätte beide beinahe von den hohen Hockern geworfen. Sie lachte unbekümmert. sie war immer noch nicht ganz auf den Boden zurückgekehrt. Ihr Herz klopfte noch, und ihr Körper reagierte noch auf die Musik.
»Du siehst zehn Jahre jünger aus«, sagte Carlos. »Komm nach Hause. Marshall sagte, er würde etwas für dich finden. Wir könnten spielen.«
Sie legte zwei Finger auf seine Lippen, damit er schwieg. »Pst«, sagte sie. »Du verdirbst es.«
»Nein?«
»Nein. Ich bin nicht Annette Funicello, und du bist nicht Frankie Avalon. Und jetzt muß ich dich leider davon in Kenntnis setzen, daß sich soeben, während wir noch sprechen, meine Kutsche in einen Kürbis verwandelt.«
»Du weißt, was ich meine?« äffte Carlos sie nach. »Na schön, Spielverderber. Warte hier, ich gehe zahlen.«
Sie drehte sich auf dem hohen Hocker zur Bar um und sah ihr Spiegelbild im Rauchglas des langen verzierten Spiegels dahinter. Ihr Haar hatte sich gelöst und fiel auf ihre Schultern. Sie sah glücklich und jung aus. Wenn nur Silvestri sie so sehen könnte.
Laß den Quatsch, schalt sie sich grimmig. Sie trommelte mit den Fingern, schlug den Takt, summte vor sich hin.
In Gedanken nahm sie das Streichholzheft aus dem Aschenbecher auf der Theke und dachte darüber nach, wie es wäre, sich von Silvestri lieben zu lassen. Himmel, dieser Ort hatte eine verrückte Wirkung auf sie. Sie blickte geistesabwesend auf das Streichholzheft in ihrer Hand, sah den Umriß der Palme und fühlte ihr Herz stocken.
Déjà vu. Sie hatte das schon früher getan, das früher gesehen. Irgendwo, irgendwann. Wichtig.
Sie sah Carlos zurückkommen, rutschte vom Hocker und ging ihm entgegen, das Streichholzheft fest umklammert.
»Was ist denn los?« fragte er. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Das habe ich, glaube ich«, sagte sie. »Ich habe mir gerade etwas überlegt.«
»Was?«
»Komm mit zu mir, und ich zeige es dir. Geht das?«
»Mein Schatz, das ist die schönste Einladung, die ich seit Monaten hatte.«
»Dann komm, Spinner«, sagte sie zärtlich und schob ihn an einem Paar in Flitter vorbei und auf die Glastreppe zu. »Ich möchte nur schnell Zwischenstation...« Die eigentlichen Nachtmenschen fanden sich allmählich ein, und der hypnotische, hämmernde Beat der Musik war zu hören und lockte sie zurück. Es war, als wären sie mitten in ein Stammesritual geraten. »... bei der Damentoilette machen.« Sie verstaute das Streichholzheft sicher in ihrem Täschchen.
»Kein Problem«, sagte Carlos. »Sie ist sowieso einen Besuch wert... Warte, bis du sie gesehen hast. Komm mit.«
Carlos nahm sie an der Hand und führte sie wieder in die Galerie mit der endlosen Bar. Sie schoben sich durch die ausgelassene Menge. Am Ende der Bar — sie hatte also doch ein Ende — führte eine Tür in einen kleinen Salon, der mit Leuchtfarben in Pink- und Blautönen mit Wellenlinien ausgemalt war. Das Licht war gedämpft. In dem Salon befanden sich drei Türen aus geriffeltem Glas. Auf einer stand HERREN, auf einer DAMEN und auf der dritten PRIVATER CLUB. NUR FÜR MITGLIEDER.
»Das ist der Eingang zum Fitneßcenter oben«, erklärte Carlos.
»Woher weißt du denn das?«
»Ach, ich habe meine Quellen. Nicht jeder in einem dreiteiligen Straßenanzug ist hetero, weißt du«, sagte er gedehnt.
»Also, Carlos, du bist ganz schön durchtrieben. Ich wußte gar nicht, daß Anzüge dich anmachen.«
»Nie der Anzug«, sagte er, indem er die Schultern verdrehte und den Kopf wendete, »immer der Mann.«
»Okay, Mann.« Sie berührte seine Wange. Sie betrachtete die Tür, die mit PRIVATER CLUB, NUR FÜR MITGLIEDER bezeichnet war. Anders als die beiden anderen Türen hatte diese keinen Griff, sondern nur einen schmalen Schlitz an der Stelle, an der man den Griff erwartete. Es war ein waagerechtes Schloß, das nur mit einer besonderen Magnetkarte geöffnet werden konnte. »Quatsch«, sagte sie.
»Was >Quatsch<?«
»Ich dachte gerade, daß möglicherweise der geheimnisvolle Schlüssel zu dieser Tür passen könnte.«
»Denk noch mal nach. Das war einer von Georgies besonderen Zügen. Steigert das Prestige. Man kommt nur mit einer besonderen Karte hinein, einer Magnetkarte, die für diese Tür programmiert ist, wie bei einer Bankkarte. Einen Schlüssel könnte jeder haben...«
»Georgie, ja«, dachte sie laut.
»Was ist mit Georgie?«
»Sein Mord muß etwas mit Barrys zu tun haben. Vielleicht ging es um das Zeug, das Barry für ihn aufbewahrte?«
»Wer weiß? Georgie hatte seine Feinde — vielleicht hat es überhaupt nicht mit Barry dem Ganoven zu tun.«
»Das glaube ich nicht. Gehen wir«, sagte sie abrupt und zog ihn zur Tür.
»Ich dachte, du wolltest die Toilette benutzen?«
»Ich kann bis zu Hause warten.«