Es waren so viele Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter, daß das Band abgelaufen war, aber es war ihr egal. Carlos hatte den Stecker am Telefon im Schlafzimmer herausgezogen, und sie hatte die Nacht tief und ruhig durchgeschlafen, ohne an Barrys Ermordung zu denken. Sie war friedlich zwischen kühlen Laken aufgewacht, im strahlenden Sonnenschein, der in Lattenmustern durch die Jalousien fiel. Sie hatte es am Abend davor gerade noch ein paar Minuten vor Carlos geschafft, in die Wohnung zu kommen, und deshalb waren Gott sei Dank keine Erklärungen nötig gewesen.

Carlos sang schmachtend »Singin’ in the Rain« in der Küche, und die Wohnung roch nach frischem Kaffee und Croissants. Es war wunderbar, sich verwöhnen zu lassen. Alles, was sie eigentlich brauchte, war jemand für den Haushalt. Das angenehme Gefühl der Sicherheit, das sie empfand, ließ sie beinahe die Ereignisse der letzten zwei Tage vergessen. Beinahe.

Sie zog Carlos’ Badetuch von der Duschstange und nahm eine heiße Dusche, jetzt erst, wo sie ausgeruht war, wurde sie sich ihres schmerzenden Körpers richtig bewußt. Die Prellung am Oberarm, in herrlichen Schattierungen von Purpur und Gelb, war immer noch ziemlich empfindlich. Die an der Stirn war grindig und häßlich. Sie rieb Schampoo ins Haar und hielt den Kopf unter das dampfende Wasser. Dann drehte sie das heiße Wasser ab und nahm einen abschließenden eisigen Guß, um die Seife abzuspülen und die Poren zu schließen.

Sie rubbelte das Haar mit dem Handtuch trocken, zog den Frotteemantel über und tappte, angezogen vom unwiderstehlichen Duft des Kaffees, barfuß in die Küche.

»Kaffee... Kaffee...« stöhnte sie, wie ein Wanderer in der Wüste nach Wasser ruft.

»Dachte schon, du würdest nie mehr aufwachen, Dornröschen«, sagte Carlos, indem er seinen Gesang abbrach. »Die Zeitungen sind voll mit der Mordgeschichte, und du — die geheimnisvolle Frau in dem Fall — , du hast mir noch gar nichts davon erzählt.«

»Ich weiß nicht mehr, als ich dir erzählt habe.« Ihr fiel plötzlich ein, warum Carlos da war, warum er über Nacht geblieben war, und der kleine Klumpen in ihrem Magen kam wieder, nur größer diesmal. »Hast du in der Nacht etwas gehört?«

»Nein. Vielleicht war alles Zufall, ohne Verbindung.«

»Aber, Carlos, das Haus hier ist ziemlich sicher. Nicht einmal kleine Einbrüche kommen hiervor.«

»Na ja, irgendein Penner, das ist alles.«

»Unheimlich ist es trotzdem«, sagte sie und zog den Frotteemantel fester um sich.

»Ich versuche jetzt, einen Schlosser aufzutreiben, und ich lasse es für dich anbringen, bevor ich gehe«, beruhigte er sie, »also mach dir keine Sorgen. Dann muß ich in mein Leben zurück.« Er strahlte vor Aufregung. »Marshall meint, es könnte was in der neuen Show für mich dabei sei...«

»Das ist doch wunderbar, Carlos! Hat er dich zum Vorsingen bestellt?«

Carlos nickte. »Ich hole heute mittag das Skript ab.«

»Prima. Eine super Neuigkeit. Hast du trainiert?«

»Gewissenhaft, Schatz«, sagte er, »sogar heute. An deiner Barre. Aber freuen wir uns nicht zu früh. Es ist noch nicht passiert.«

»Ich könnte heute morgen selbst ein paar Übungen machen.«

»Nur zu. Ich bin so schnell wie möglich wieder da.«

Sie hörte die Aufzugtür schließen und beendete ihr Frühstück mit der üblichen Vitaminparade. Sie biß sogar ein großes Stück von Carlos’ nur halb gegessenem Croissant ab, dann, nach einem kurzen Zögern, aß sie es ganz auf. Sie würde es abtrainieren. Sie zog ihr Trikot an und machte einige Streckübungen an der Barre. Ihr Körper knackte ein wenig und protestierte mit Schmerzen. Sie war sehr verspannt.

Das Telefon läutete. Sie nahm das Handtuch von der Barre und warf es um den Hals, Sie mußte abheben. Das Band war zu Ende, und es könnte wichtig sein.

»Hallo.«

»Leslie Wetzon? Ist dort Leslie Wetzon?« Die Stimme war rauh und kratzig und kam ihr irgendwie bekannt vor.

»Ja, wer ist da, bitte?«

»Mildred Gleason. Ich bin so froh, daß ich Sie erreiche.«

»Ah, ja, Mildred. Entschuldigen Sie, daß ich mich noch nicht gemeldet habe. Es war ziemlich hektisch... wegen dem Mord...«

»Ich weiß. Darüber will ich ja gerade mit Ihnen sprechen.«

»Okay, wir sprechen.«

»Nein, nicht am Telefon. Ich kann nicht am Telefon sprechen. Nur persönlich, bitte, unter vier Augen.« Die ältere Frau hörte sich unsicher an, ganz und gar nicht die Mildred Gleason, die sie damals im Harry’s kennengelernt hatte. »Ich komme zu Ihnen«, sagte Mildred, »wo immer Sie sagen, wann immer Sie sagen.« Es war fast etwas Flehentliches in der Stimme. Das paßte nicht zu Mildred Gleason. »Bitte, es ist sehr wichtig für mich.«

Wetzon überlegte kurz. Sie erinnerte sich vage an eine Verabredung, eine Besprechung, die für morgen unten in der Stadt auf dem Plan stand.

»Hallo, hallo, Wetzon, sind Sie noch da?« Größte Unruhe.

»Ja, warten Sie, Mildred. Ich muß in meinem Terminkalender nachsehen.« Sie schlug ihr Notizbuch auf und sah, daß sie am nächsten Tag mit Howie Minton verabredet war, um fünf Uhr an der Bar des Vista Hotels beim World Trade Center. Sie konnte absagen, aber warum sollte sie einen Rückzieher machen? Er war ein potentieller Kandidat. Sie konnte früher runterfahren und Mildred gegen halb drei treffen und dann noch kurz bei Shearsons Trainingsprogramm für Makler im World Trade Center vorbeischauen, bevor sie Howie Minton traf. »Heute bin ich zu, aber ich kann morgen gegen halb drei in Ihr Büro kommen. Paßt Ihnen das?«

»Nein, das geht nicht. Es muß heute sein — so bald wie möglich.«

Wetzon war über den herrischen Ton verblüfft. »Ich sage Ihnen doch, es läßt sich heute nicht machen«, sagte Wetzon steif.

Ein paar Sekunden kam keine Reaktion, dann: »...Ich verstehe. Na gut, dann kann man nichts machen. Ich bin wirklich sehr dankbar... Sie wissen nicht...«

»Geht in Ordnung, aber es gibt wirklich nichts, was ich Ihnen sagen kann...«

»Danke im voraus«, sagte Mildred hastig, fast flüsternd. »Dann sehen wir uns morgen um halb drei.«

Neugierig und gespannt legte Wetzon auf. Sofort läutete es wieder. Sie nahm ab und sagte vorsichtig hallo.

»Wetzon, hier ist Smith.« Smith’ Antwort war kalt. »Ich muß ein ernstes Wort mit dir reden.«

»Worüber? Was hast du, Smith? Was ist passiert? Geht es dir gut?«

»Wegen dieser Kreatur. Carlos. Ich bin die ganze Nacht aufgewesen... das macht mich krank. Er ist ein sehr schlechter Mensch, und er hat einen verheerenden Einfluß auf dich.«

»Sachte, sachte, Smith. Carlos ist seit fast zehn Jahren mein bester Freund. Du kannst ihn nicht reizen und erwarten, daß er sich nicht wehrt.«

»Du mußt dich zwischen uns entscheiden, Wetzon«, sagte Smith und fing an zu weinen. »So darf man mich nicht behandeln.«

»Ich werde nichts dergleichen tun, Smith, also reiß dich zusammen. Du vergißt, daß ich im Moment wichtigere Dinge im Kopf habe.«

»Wir sprechen darüber, wenn du dich besser fühlst«, wich Smith aus, indem sie Wetzon den Schwarzen Peter zuschob. »Wenn du klarer siehst.«

»Ich sehe klar«, beharrte Wetzon. »Und dazu sage ich nie wieder ein Wort.« Sie legte auf. Was zum Teufel war in letzter Zeit in Smith gefahren? Wetzon hatte ein Gefühl, als wäre ihr Leben in den vergangenen vierundzwanzig Stunden völlig umgekrempelt worden.

Dann fiel ihr der Schlüssel ein. Hatte Smith’ eigenartiges Benehmen etwas mit dem Schlüssel zu tun?