Übernervös kontrollierte sie die Hintertür zum Garten. Sie war natürlich abgeschlossen. Kontrollierte die Vordertür. Schloß sie ab. Harold hätte das tun sollen, als er ging. Nein. Sie hatte ihm gesagt, sie würde es machen. Wo hatte sie ihre Gedanken?
Um etwas gegen ihre Unruhe zu tun, setzte sie sich an den Schreibtisch und ging die Notizzettel noch einmal durch, um sich zu vergewissern, daß sie alle zurückgerufen hatte. Einen nach dem andern knüllte sie zusammen und ließ sie in den Papierkorb neben ihren Füßen fallen.
Mike Antonio wollte gern um acht Uhr morgens angerufen werden. Er begann seinen Arbeitstag früh. Sie würde ihn morgen von zu Hause anrufen, bevor sie ins Büro ging.
Sie sah die »Fahndungsbogen« durch, die Kurzbiographien der Makler enthielten, mit denen sie zu tun hatte, und stellte eine Liste der Personen zusammen, die sie anrufen mußte. Dann fügte sie die Makler hinzu, deren Gesprächstermine bestätigt werden mußten.
Um Himmels willen, sie hatte vergessen, Leon zurückzurufen. Sie konnte es jetzt nachholen, während sie wartete. Sie hob ab und begann, Leons Nummer zu wählen. Ein seltsames Geräusch kam aus dem vorderen Zimmer. Sie legte den Hörer auf und lauschte. Da war es wieder. Jemand rüttelte am Türgriff. Sie wurde starr vor Schreck. Stell dich nicht so an, sagte sie sich. Sie sah auf die Uhr. Es war gerade fünf. Konnte das schon Roberto sein? Und wo war Silvestri? Nein. Es war vermutlich ein Makler, der sie sprechen wollte. Das war schon vorgekommen. Wenn ein Makler beschlossen hatte, sich zu verändern, dann mußte es immer ganz schnell gehen.
Sie ging ins vordere Zimmer und legte die Kette vor. Dann öffnete sie die Tür vorsichtig und dachte dabei, wie schwach und lächerlich das Kettenschloß war. Ein kräftiger Mann konnte die Tür mit Leichtigkeit ganz aufstoßen und dabei das Kettenschloß aus dem Rahmen reißen.
Durch den schmalen Spalt sah sie einen großen Mann in einem teuren blauen Nadelstreifenanzug. Er hatte Kratzspuren im Gesicht.
»Wetzon.« Es war keine Frage.
Ein Frösteln überlief sie. Sie hatte ihn erst einmal gesehen, unter unglücklichen Umständen, aber sie erkannte ihn. Jake Donahue.
»Ja. Was wollen Sie?« Wie dumm, Wetzon. Du weißt genau, was er will.
»Lassen Sie mich bitte rein. Ich muß mit Ihnen reden.« Er hatte jenen unbefangenen, glatten Ton mächtiger Männer. Die Übernahme des Kommandos.
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Mr. Donahue. Bitte gehen Sie.« Ihr Stimme zitterte, und sie war wütend auf sich, daß sie Schwäche zeigte.
»Sie haben Angst«, sagte er offenbar mitfühlend. »Ich möchte Ihnen keine Angst machen.«
Sie sah ihn an. Er hatte blaue Augen wie Paul Newman, die in einem groben fleischigen Gesicht saßen, eine große Nase, dunkelrotes Haar mit weißen Strähnen, buschige Augenbrauen und einen tief bronzefarbenen Teint, als wäre er gerade aus der Karibik zurückgekommen. Entschieden derb, überlebensgroß, aber um vieles besser, als sie ihn beim letztenmal gesehen hatte.
»Woher wußten Sie, daß ich hier bin?« fragte sie. »Halt — sagen Sie es nicht - ich will es lieber nicht wissen.« Jetzt verstand sie, warum Smith früher als sonst weggegangen war. »Gottverdammt«, fluchte sie in sich hinein. Smith hatte sie wieder reingelegt.
Sie schlug die Tür zu, hakte die Kette auf und riß die Tür auf.
»Danke.« Jake Donahue trat ein und schloß die Tür hinter sich.
»Tun Sie, als wären Sie zu Hause«, sagte sie schnippisch. »Ich weiß, daß Sie für Ihre Zeit mit mir bezahlt haben, also werden Sie etwas für Ihr Geld haben wollen.«
Er musterte sie, die linke Braue hochgezogen.
»Ich möchte Sie allerdings warnen«, fügte sie hinzu, »daß ich in Kürze woanders erwartet werde, und falls ich dort zu spät...«
»Okay, ist mir recht.« Er wurde lebhaft. »Ich brauche nur ein paar Minuten...« Er brach ab. »Warum sehen Sie mich so an?« Er war so ein gewaltiger Mann, groß und breit, sehr selbstbewußt. Warum auch nicht? Er war mehrfacher Millionär, er hatte Macht, er war berühmt. Aber die Intensität ihres Blicks schien ihn aus der Fassung zu bringen.
»Ich dachte an das letzte Mal, als ich Sie sah.« Sie wußte nicht, warum sie da stand und ruhig mit ihm redete, als wären sie zwei normale Leute, die sich unter normalen Umständen begegnen.
»Ich wußte nicht, daß wir uns schon früher begegnet sind.« Er runzelte die Stirn. Er mochte offenbar das Unerwartete nicht.
»Wir sind uns nicht begegnet — nicht offiziell«, sagte sie. »Ich war neulich in Mildred Gleasons Büro, als Sie Ihren beeindruckenden Auftritt hatten.«
»Herrgott«, sagte er mit einem unsicheren Grinsen und fuhr sich mit groben Fingern durch sein dickes Haar. »Sehen Sie, ich hatte ein wenig die Kontrolle verloren. Stört es Sie, wenn ich rauche?«
Sie schüttelte den Kopf. Er nahm eine Marlboro aus einem Päckchen und zündete sie mit einem goldenen Dunhill-Feuer-zeug an. »Kommen Sie ins hintere Büro«, sagte sie, indem sie ihm den Weg zeigte, und schloß die Tür. Das letzte, was sie wollte, war, daß Roberta Jake sah oder umgekehrt.
Jake sah sich neugierig um. »Das also ist die Höhle eines Headhunters.« Er hörte sich belustigt an. »Und wir sind endlich allein, Wetzon.« Er drehte sich nach ihr um und sah ihren Gesichtsausdruck. »Ich habe Sie wieder erschreckt«, sagte er und streckte den Arm aus.
Sie wich zurück und merkte, wie sich ihr Gesicht verkrampfte.
»Verflucht, ich bin wirklich kein schlechter Mensch«, sagte er einschmeichelnd. »Eine Menge Leute mögen mich. Ich will Ihnen nichts tun. Warum sollte ich?«
»Weil Sie glauben, daß Barry mir etwas gesagt hat, bevor er starb«, rief sie, aber noch während sie sprach, dachte sie: Du verhältst dich schon wieder dumm, Wetzon.
»Setzen Sie sich«, sagte er, indem er auf ihren eigenen Stuhl wies. Er setzte sich auf Smith’ Stuhl, der unter seiner Körperfülle verschwand.
Das Telefon läutete. Sie starrten darauf, als es wieder läutete, und Jake Donahue schüttelte den Kopf. Er entdeckte den Anrufbeantworter auf dem Arbeitstisch und drückte auf die Ein-Taste. Der Apparat klickte und antwortete beim vierten Läuten auf den Anruf.
»Hallo, Wetzon, hier ist Scott Fineberg. Rufen Sie mich bitte an. Ich bin bis sieben im Büro.« Der Apparat schaltete ab.
Donahue und Wetzon sahen sich an. Jake inhalierte tief und blies den Rauch langsam durch die Nase aus. »Dieses kleine Stück Dreck hat mich also mit Ihnen reingelegt.«
Sie sah auf die Uhr. Fast halb sechs. Sie fühlte sich langsam in die Enge getrieben. Wo war Roberta? Wo war Silvestri? Sie mußte rechtzeitig wegkommen, um Rick zu treffen.
»Ja«, sagte Jake, »ich möchte wissen, was Barry zu Ihnen gesagt hat. Er hatte ein paar Sachen, die mir gehören.«
»Ihnen und dem verstorbenen Georgie Travers.« Sie konnte die Verachtung in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
»Georgie Travers interessiert mich nicht. Uber Stark will ich Bescheid wissen. Dieser Drecksack hat mich ausspioniert.«
Die Teile des Rätsels vermischten sich wieder in Wetzons Kopf in einem sonderbaren Durcheinander. Sie erwiderte nichts.
»Verdammt noch mal«, sagte Donahue ungeduldig. »Ich habe Stark nicht umgebracht. Ich hätte es gern getan, aber ich war es nicht. Ich wußte nicht einmal, daß er an dem Abend dort war — es ist nicht direkt sein Stammlokal — , und ich war längst weg, als Sie seine Leiche fanden.«
Wetzon bemühte sich, einen klaren Kopf zu behalten, aber immer wieder schlugen kleine Wellen der Panik über ihr zusammen. Sie versuchte, ihr Gewicht auf dem Stuhl zu verlagern, aber ihre Arme und Beine waren taub.
Jake Donahue hatte eben zugegeben, daß er an dem betreffenden Abend im Four Seasons war.
»Versuchen Sie bitte, sich in meine Lage zu versetzen«, sagte Donahue gerade. Er zog seinen Stuhl näher zu ihrem und nahm ihre Hand. Sie zog sie nicht zurück, sondern starrte auf ihre Hand, die von seiner großen verschluckt wurde. Sie spürte, wie seine Stimme sie einzulullen begann.
»Meine Frau war eine verbitterte, rachsüchtige Person. Sie versuchte, mich für immer aus dem Geschäft zu drängen. Stark war mein Angestellter. Er arbeitete für sie und schnitt meine Telefongespräche mit.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe eines der Bänder.«
Sie machte große Augen. »Sie haben den Diplomatenkoffer gestohlen«, beschuldigte sie ihn und zog ihre Hand zurück.
»Jemand hat es für mich getan«, gab er zu, ohne sich zu rühren. »Es sollte niemand dabei verletzt werden. Er hat bloß etwas den Überblick verloren.« Donahue zuckte die Achseln. »Stark verließ das Büro an dem Tag mit diesem großen Diplomatenkoffer, den er immer mit sich rumschleppte. Jemand im Four Seasons informierte mich über den Mord. Ich erfuhr, daß Sie mit einem großen Diplomatenkoffer weggingen. Ich brauchte diesen Koffer. Das ist alles. Es tut mir leid.«
»Leid?« Sie war wütend. »Ist das alles, was Sie zu sagen haben? Was bilden Sie sich eigentlich ein?«
Er stand auf, und sie zuckte zurück, weil sie dachte, er werde sie schlagen.
»Miss Wetzon.« Donahue lehnte an Smith’ Schreibtisch und hielt ihrem vorsichtigen Blick stand. »Ich habe einige miese Sachen in meinem Leben gemacht, aber ich bin kein Mörder, und ich werde Ihnen nicht weh tun. Wenn Sie mir etwas Zeit ließen und mich besser kennenlernten, würden Sie mich vielleicht sogar mögen.«
»Sicher. Sie mögen ein Gauner sein, aber Sie sind kein Killer.«
Seine blauen Augen sahen sie vorwurfsvoll an, und sie hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. War sie zu grob zu ihm gewesen? Was zum Teufel stimmt eigentlich bei dir nicht? dachte sie. Was für ein Seelchen sie war. Vielleicht hatte Smith recht. Sie war zu naiv für diese Branche.
»Was wollen Sie von mir, Jake?«
»Ich möchte, daß Sie der Polizei nichts von den Bändern, dem Schlüssel, dem Geld erzählen. Ich brauche Zeit, um die übrigen Bänder zu finden.«
»Um was mit ihnen zu machen, wenn Sie sie finden?«
Er grinste sie an, mit einemmal ganz irischer Charme. »Um zu tun, wozu Nixon nicht den Mumm hatte.«