Kapitel fünf
Sarah war zweimal um die Bar herumgeschlendert und wollte sich gerade zur Flucht bereit machen, als Travis hereinspaziert kam.
Das Weihnachtsmannkostüm war verschwunden, stattdessen trug er ein gestärktes Button-down-Hemd und eine akkurat gebügelte Baumwollhose, welche die Aufmerksamkeit umso stärker auf seinen kräftigen Körper und sein kantiges, scharf geschnittenes Gesicht lenkte. Noch hatte er sie nicht entdeckt.
Jetzt sah er sogar noch besser aus als vor neun Jahren. Sein dichtes dunkles Haar konnte einen Haarschnitt vertragen, wenngleich die widerspenstigen Locken sein markantes Gesicht weicher machten. Seine grauen Augen, mit denen er einem direkt in die Seele zu blicken schien, waren das Auffälligste an ihm. Er schüttelte den Leuten die Hände, klopfte Männern auf die Schultern, neigte den Kopf, um den Frauen etwas ins Ohr zu flüstern, die über seine Worte lachten. Jede Einzelne von ihnen.
Der Kerl war ein Charmeur. Immer schon gewesen.
Beunruhigt stellte sie fest, dass ihr Atem schneller ging. Gereizt trank sie ihren Cocktail aus und stellte das leere Glas auf die Bar, obschon sie ihren Unmut nicht erklären konnte und ihn sich am liebsten gar nicht eingestanden hätte.
»Möchten Sie noch einen?«, fragte der Barkeeper.
Sie fühlte sich bereits ein wenig beschwipst. »Nein, danke.«
Sarah drehte sich um und suchte nach einem anderen Fluchtweg. Wenn sie die Eingangstür nahm, würde sie geradewegs Travis in die Arme laufen. Und wenn sie sich durch den Hinterausgang schlich, hätte sie ihm gegenüber klein beigegeben. Sarah hob den Kopf, schaute erneut in Richtung Eingangstür und wumm!
Ihre Blicke trafen sich. Seine Augen funkelten verschmitzt, als wollten sie ihr ein unanständiges Angebot unterbreiten. Einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem unverschämten Grinsen, und seine Augenbrauen schossen in die Höhe, als er sie gemächlich von oben bis unten musterte. Sie spürte, wie ihr heiß wurde.
Ach, verdammt, er kam zu ihr rüber.
Sarah holte tief Luft und wappnete sich gegen den Ansturm von Sinnlichkeit, der sich Travis Walker nannte. Sie nahm jeden einzelnen lässigen Schritt, den er machte, in sich auf, angezogen von der magnetischen Aura, die aus seinen Poren strömte. Ihr Puls hämmerte, unruhig, nervös.
Wie sie es hasste, derart außer Kontrolle zu geraten!
Sie tat so, als habe sie plötzlich großen Hunger, schoss zu den Büfett-Billardtischen, schnappte sich einen roten Plastikteller und umkreiste die festlichen Speisen. Wenn sie ihn nicht ansah, würde er sich vielleicht verziehen.
Die Schokotoffeeplätzchen sahen verlockend aus. Sie hatte schon vor langer Zeit damit aufgehört, Essen in sich hineinzustopfen, um sich damit zu trösten, was jedoch keineswegs bedeutete, dass sie nicht immer noch den Drang verspürte, ihre Gefühle zusammen mit einem verführerischen Dessert herunterzuschlucken.
Sie betrachtete eingehend die Vielfalt an Gerichten, doch aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass er ihr zum Büfett folgte. Mist! Sie starrte auf die Plätzchen – schokoladig, karamellig, köstlich und knusprig mit gerösteten Pekannüssen.
Als sie Schritte hinter sich hörte, schloss sie die Augen. Hau ab!
»Ich glaube«, sagte Travis und blieb so dicht neben ihr stehen, dass sie seinen betörenden Duft riechen konnte, »ich glaube, wir sind in eine Falle gelockt worden.«
Das hatte sie nicht erwartet. Sie drehte sich um und riss ihren Blick von den Schokotoffeeplätzchen los, die ihr zuflüsterten: Komm schon, Sarah, iss uns, du willst uns doch so gern verspeisen! Was war nur los mit ihr, dass sie seit ihrer Rückkehr nach Twilight ihre WeightWatchers-Diät aus dem Fenster schmeißen und wie eine Kuh in einem Kornfeld weiden wollte?
»Wie meinst du das?«, fragte sie.
Seine Augen glitzerten im Schein der farbigen Weihnachtsbeleuchtung, die rund um die Tanzfläche aufgehängt war. »Es hat sich keiner die Mühe gemacht, mir zu sagen, dass Sadie Cool, die Lieblingsautorin meiner Tochter, in Wirklichkeit die erwachsen gewordene Sarah Collier ist.«
»Hätte das einen Unterschied gemacht?«
»Nein«, sagte er. »Aber genauso wenig hat dir jemand gesteckt, dass Jazzy meine Tochter ist.«
»Warum sollte man mir das auch sagen? Das ist doch vollkommen egal«, sagte Sarah und tat immer noch so, als hätte sie ihren Auftritt auf Travis’ Hochzeit aus dem Gedächtnis verbannt. Im Zweifelsfalle sollte man leugnen, leugnen, leugnen.
»Wärst du auch nach Twilight gekommen, wenn du von Jazzy und mir gewusst hättest?«
»Wahrscheinlich nicht«, gab sie zu. Um ehrlich zu sein: Wenn man ihr gesagt hätte, dass Travis Jazzys Vater war, hätte sie eher einen Spaceshuttle zu einer Raumstation bestiegen, als hierher zurückzukehren. »Und ich wäre auch nicht gekommen, wenn es nur um einen Plätzchentausch und eine Signierstunde gegangen wäre. Es war Jazzys Brief, der mich dazu bewegt hat.«
»Diese lästigen Kupplerinnen haben doch irgendwas vor. Warum sind sie sonst nicht mit der Sprache rausgerückt?« Travis nickte in Richtung der Übeltäterinnen.
Tja, warum nicht?
Sarah spähte durchs Lokal zu den Damen des First Love Cookie Clubs hinüber. Alle sieben hatten sich um die Schüssel mit der Eggnog-Bowle geschart und warfen Travis und Sarah verstohlene Blicke zu. Raylene zwinkerte. Dotty Mae grinste. Belinda streckte beide Daumen in die Höhe.
»O Gott, du hast recht.« Sie stöhnte. »Sie wollen uns tatsächlich verkuppeln. Du nimmst die Hintertür, ich gehe vorne raus.«
Er beugte sich näher zu ihr, bis er mit dem Mund beinahe ihr Ohr berührte. Sein warmer Atem ließ sie erschauern. »Weglaufen nützt hier gar nichts.«
»Nicht?« Schade. Flucht war ihre bevorzugte Methode zur Selbsterhaltung.
»Ich denke, wir sollten den Spieß umdrehen«, murmelte er. »Spielst du mit?«
»Warum sollte ich?«
»Wenn sie denken, wir wären bereits ein Paar, werden sie aufhören, uns ständig zusammenbringen zu wollen.«
Das leuchtete ihr ein.
»Was stellst du dir vor?«, fragte Sarah.
Eine kleine Gruppe von Leuten glitt zu den Klängen von »It’s Beginning to Look a Lot Like Christmas« über die Tanzfläche. Travis warf den Kopf zurück. »Sollen wir tanzen?«
»Hm.« Ihr wurde heiß bei dem Gedanken, sich seinen Armen zu überlassen. »Ich kann nicht tanzen.«
»Keine Sorge«, beruhigte er sie. »Die Führung übernehme ich.«
»Ich werde dir auf die Zehen treten«, warnte sie ihn.
»Das Risiko gehe ich ein. Komm schon, sollen sie doch glauben, dass ihre Kuppelei funktioniert hat.«
Noch bevor sie weitere Einwände erheben konnte, führte Travis sie auf die Tanzfläche, seine Finger mit ihren verschränkt. Sie hatte das Gefühl, dass alle Augen im Lokal auf sie gerichtet waren. Er legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie an sich, aber nicht so dicht, dass es unangenehm war.
Sie versteifte sich, als wäre sie ein Stück Pappe.
»Entspann dich.« Seine Hand glitt in ihren Nacken und massierte mit sanftem Druck ihre verspannten Muskeln. Ihr Puls hämmerte wie verrückt. »Hör auf, so viel zu denken. Lass einfach los, fühl den Rhythmus.«
»Wer sagt, dass ich zu viel denke?« Sie machte einen falschen Schritt und trat ihm auf den Zeh. Zum Glück trug er Cowboystiefel.
Sein Lachen war tief und ansteckend.
»Dein Gesicht. Du wirkst verschlossen, in dich gekehrt, und dein Körper ist völlig verkrampft.«
Sie riss gewollt die Augen auf, versuchte, die Schultern zu lockern, und trat ihm erneut auf den Fuß. »Das stimmt nicht.«
Er gluckste leise und zog sie näher an sich. Seine Nähe war so angenehm, dass sie nicht die Kraft aufbrachte, ihn wegzustoßen.
»Lass dich einfach treiben.«
»O nein, das ist bloß ein Hippie-Klischee. So was Ähnliches wie ›Liebe den, mit dem du gerade zusammen bist‹.«
Er zuckte die Achseln. »Klischees sind nicht ohne Grund Klischees.«
»Legst du viele Meilen mit diesem ›Lass dich einfach treiben‹-Motto zurück?«
»Du solltest es irgendwann mal versuchen«, sagte er leise. Seine Stimme klang so beruhigend, dass sie eine randalierende Meute hätte besänftigen können. Seine Finger liebkosten wieder ihren Nacken.
Sarah wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Seine Berührung fühlte sich gut an. Ihr war gar nicht klar gewesen, wie verkrampft sie war. Dennoch war es ihr unmöglich, sich zu entspannen, wenn sie die Konturen seines festen, kräftigen Körpers durch seine Kleidung spürte. Wie sollte sie da bloß wieder rauskommen?
»Denk nicht«, flüsterte er. »Tanz einfach.«
»Nun, natürlich denke ich, was denn sonst? Wie sollte jemand nicht denken?«
»Richte deine Aufmerksamkeit auf deinen Körper. Spür, wie die Musik den Fußboden zum Schwingen bringt und durch deine Füße in dir hochsteigt.«
Sie versuchte es, aber es war unmöglich. Sie war sich seiner Nähe einfach zu sehr bewusst.
»Du lebst viel zu viel in deinem Kopf.«
»Woher weißt du das?«
»Du bist Schriftstellerin. Schriftsteller leben in ihren Köpfen.«
»Na schön, sagen wir, du hast recht mit deinen Unterstellungen. Was ist daran falsch?«
»Man wird ziemlich einsam.« Er sagte die Worte so schlicht, als könnte er ihr durch die Augen hindurch direkt ins Gehirn blicken.
»Ach ja?«, entgegnete sie schnippisch. Es ärgerte sie ein wenig, dass er meinte, sie zu kennen. Und es ärgerte sie noch mehr, weil er recht hatte. War sie so leicht zu durchschauen?
»Ich habe Jazzy dein Buch ungefähr tausendmal vorgelesen. Und ich erinnere mich an dich, Sarah Collier … du kannst ausgelassen, launisch und sogar ein bisschen bösartig sein, wenn du aus dir herausgehst.«
Das musste sie wohl vergessen haben. »Das ist lange her. Ich bin nicht mehr das dumme kleine Mädchen.«
»Du warst niemals dumm. Ich habe dich als ziemlich aufmerksam und scharfsichtig in Erinnerung.«
Sie war außerordentlich erfreut über diese Bemerkung.
Während er sie über die Tanzfläche führte, wurde sein Grinsen immer breiter. »He, sieh mal einer an.«
»Was?«
»Du tanzt. Du hast aufgehört, darüber zu grübeln, warum du nicht tanzen kannst, und überlässt dich einfach meiner Führung«, sagte er. »Du bist aus deinem Kopf in deinen Körper gewandert.«
Ding! Da hatte er recht.
»Wie oft treibst du Sport?«
»Ich denke, das geht dich nichts an.«
»Das heißt offenbar nie.«
»Ich gehe zu Fuß. Ich lebe in Manhattan.«
»Du gehst inmitten der Menschenmassen, hetzt zwischen all den Leuten umher.«
»Na und?«
»Das ist nicht das Gleiche wie eine sanfte, gleichmäßig wiederholte Bewegung. Wie beim Tanzen. Es holt dich aus deiner Festung heraus.«
»Aus meiner Festung?« Sarah lachte. Eigentlich sollte sie den Tanz abbrechen und die Tanzfläche verlassen, aber sie war fasziniert, wie gut er sie zu kennen schien, ohne dass er sie wirklich kannte. Seine Augen funkelten, wenn er sie ansah. Und dann war da noch diese eine Sache, die sie nicht eingestehen wollte, nicht einmal sich selbst: dass das pummelige fünfzehnjährige Mädchen tief in ihrem Innern total glücklich darüber war, in seinen Armen zu liegen, und wenn auch nur für den Moment.
Aber mal im Ernst, das war ja echt traurig.
Ein neues Lied begann. Jetzt schmalzte »I Saw Mommy Kissing Santa Claus« aus der Musikbox. Sie standen mitten auf der Tanzfläche, als Travis plötzlich innehielt.
Sarah schaute ihn an. »Was ist?«
Er legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zur Decke.
Ein Mistelzweig.
Sie standen tatsächlich unter einem Mistelzweig, der in der Mitte des Lokals von der Decke hing. So viel zum Thema Weihnachtsklischees.
Ihre Zehen verkrampften sich in ihren Stiefeln. Es war so lange her, dass sie geküsst worden war. Sie wollte schon Nein sagen, doch als sie den Mund öffnete, kam kein Wort heraus.
Er musste ihre geöffneten Lippen als Aufforderung verstanden haben, denn er zog sie an sich und neigte ihr den Kopf zu.
Sarah hielt die Luft an, und ihre verräterischen Hände hoben sich wie von selbst und verschränkten sich hinter seinem Nacken.
Travis.
Sie küsste Travis Walker, das Objekt ihrer Teenager-Liebe. Den Mann, dessen Namen sie einst in ihr Schulheft gekritzelt hatte. Den Mann, von dessen Küssen sie endlos geträumt hatte.
Sein Mund lag auf ihrem.
Jetzt, in diesem Augenblick. Und das war kein Traum.
Sie kippelte auf ihren Zehn-Zentimeter-Absätzen, ihre Knie waren so weich wie zu lange gekochte Spaghetti. Der Geruch nach Kiefern stieg ihr in die Nase, zusammen mit etwas anderem … dem Duft erhitzter Männerhaut.
Er legte ihr die gespreizte Hand ins Kreuz und fuhr mit der Zunge sanft über ihre Lippen, was ihr einen angenehmen Schauder das Rückgrat hinunterrieseln ließ. Seine Hand fühlte sich so groß an, seine Finger so kräftig. Seine Lippen neckten sie, nahmen dem Augenblick die Ernsthaftigkeit. Er küsste sie nicht wirklich, ermahnte sie sich, sondern tat nur so für die Damen vom First Love Cookie Club.
Dennoch gurrte sie leise, um ihn zu ermutigen, obwohl sie das absolut Falsche zur absolut falschen Zeit am absolut falschen Ort tat. Doch wann war Sarahs Timing jemals passend gewesen?
Travis’ Kuss wurde intensiver, wenn auch nur ein wenig, was in ihr ein unpassendes Gefühl von schmerzlicher Gereiztheit auslöste. Ihr wurde schwindelig. Was tat sie da bloß? Warum hatte sie sich darauf eingelassen? Sie sollte einen Schritt zurückmachen, ihre Stirnfransen zurechtstreichen und so tun, als wäre nichts passiert.
Heiliger Strohsack, der Kerl konnte küssen. Er war früher nicht umsonst der Casanova von Twilight gewesen.
Jemand in dem überfüllten Lokal stieß einen Pfiff aus.
Ihre Wangen röteten sich, und sie zog sich mit einem leichten Achselzucken zurück, als wäre das alles ein unbedeutender Scherz gewesen. Haha. Keine große Sache. Unter dem Mistelzweig geküsst zu werden war doch ein alter Hut.
Sie wagte es nicht, zu den Damen des Plätzchenclubs hinüberzuschauen. Travis sah sie ebenfalls nicht an. Sie tastete auch nicht nach ihren Lippen, die immer noch kribbelten, obwohl sie das gerne getan hätte. Sie versuchte, sich lässig zu geben und sich abzulenken, indem sie »I Saw Mommy Kissing Santa Claus« mitsummte, doch dann kam ihr das unpassend vor.
Möglichst langsam, damit es nicht so aussah, als würde sie vor dem Mistelzweig fliehen, obwohl sie das natürlich tat, entfernte sich Sarah seitlich von der Tanzfläche.
Sieh Travis nicht an. Sei cool. Du bist Sadie Cool, weißt du das nicht mehr? Benimm dich gefälligst so, wie es dein Name nahelegt.
Doch dann hielt sie es nicht mehr aus, und sie neigte den Kopf und tat so, als würde sie den riesigen, überladenen Weihnachtsbaum mit seinen blinkenden Lichtern betrachten, obwohl sie in Wirklichkeit Travis aus dem Augenwinkel einen Blick zuwarf.
Er folgte ihr von der Tanzfläche, fort von dem Mistelzweig, und lehnte sich mit einer Schulter lässig gegen die Wand. Sie fragte sich, ob ihm bewusst war, was für eine unwiderstehliche Figur er machte. Mit Sicherheit. Es musste ihm doch klar sein, welche Wirkung er auf das weibliche Geschlecht ausübte.
Sarahs Lungen füllten sich mit dem Geruch von Weihnachten, der vielen Menschen um sie herum und ihrer eigenen Furcht, doch sie konnte ihre Augen nicht von ihm losreißen.
Travis fing ihren Blick auf, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem frechen Grinsen.
Warum ging sie nicht einfach? Warum waren ihre Füße wie angewurzelt? Warum wollte sie, dass er sie wieder küsste, so lange, bis ihre Lippen rau waren?
»Danke für den Tanz«, sagte er.
»Ähm … gern geschehen.«
»Mir hat’s Spaß gemacht.«
Mir auch. Aber das sagte sie nicht.
»Ich küsse nicht gerne, wenn ich mich gleich darauf verabschieden muss«, sagte er und blickte auf seine Armbanduhr, »aber ich muss Jazzy abholen.«
Küssen und sich verabschieden. Sarah schauderte ohne erkennbaren Grund. »Wo ist sie?«
»Vorlesestunde in der Bibliothek.«
»Um acht Uhr abends?«
»Das ist hier Tradition. Hast du das vergessen?«
Jetzt fiel es ihr wieder ein. Daran hatte sie schon so lange nicht mehr gedacht. Sie war neun oder zehn gewesen, etwas älter als Jazzy, und Travis hatte angeboten, die Kinder aus der Nachbarschaft zur Vorlesestunde zu bringen, die jedes Jahr nach dem Dickens-Umzug in der Bücherei stattfand. Die Bibliothekarin las Charles Dickens’ Weihnachtsmärchen vor und verteilte Erfrischungen. Die Kinder saßen auf Kinderstühlen im Kreis um sie herum. Sarah erinnerte sich daran, wie Travis beim Überqueren der Straße ihre Hand genommen hatte und dass sie sich vorgekommen war, als wäre sie etwas ganz Besonderes.
Später hatte sie Gram gefragt, warum Travis mit den kleinen Kindern zur Vorlesestunde gegangen war.
»Seine Mutter ist sehr krank«, hatte ihre Großmutter erklärt. »Er muss ab und zu einfach mal raus, und wenn er auch nur kleine Kinder in die Bücherei begleitet.«
Ihr fiel ein, dass sie Mitleid mit ihm empfunden hatte. Ein oder zwei Jahre danach war seine Mutter gestorben. Er hatte sie früh verloren, und jetzt hatte er eine Tochter, die schon seit langer Zeit krank war. Wie schwer das für ihn sein musste! Doch Jazzy hatte relativ gesund gewirkt. Sie war stark genug gewesen, um an der Parade teilzunehmen und die Vorlesestunde zu besuchen. Das war gut.
»Ich weiß zwar nicht, wie Jazzy normalerweise ausschaut«, sagte Sarah zu Travis, »aber sie kam mir heute Abend recht munter vor.«
»Das stimmt.« Die Erleichterung in seiner Stimme war spürbar. »Sie nimmt gerade ein neues Medikament, und es scheint zu wirken.« Er kreuzte die Finger und lächelte hoffnungsvoll, dann setzte er Sarah kurz über Jazzys Zustand und die augenblickliche Behandlungsmethode ins Bild, und was mit glühenden Blicken und einem noch glühenderen Kuss begonnen hatte, endete mit teilnahmsvollem Nicken und verständnisvollem Gemurmel.
»Ich muss jetzt wirklich los«, sagte Travis schließlich und tippte auf seine Uhr. »Einen schönen Abend noch, Sarah.«
Und dann war er verschwunden. Sie starrte ihm hinterher und fragte sich, was zum Teufel da zwischen ihnen vor sich ging.
Am Morgen nach seinem Tanz mit Sarah im Horny Toad, nach ihrem Kuss unter dem Mistelzweig, wachte Travis auf und musste gleich wieder an sie denken. Er wusste nicht, warum er sie geküsst hatte. Ganz sicher hatte er das nicht mit Vorsatz getan, doch seit sie zu Jazzy und ihm auf den Umzugswagen geklettert war, wollte er nur noch diese vollen Lippen küssen.
Die Sache beschäftigte ihn, denn in den letzten vier Jahren hatten seine Gedanken einzig und allein seiner Tochter gegolten. Jetzt war Sarah Collier in sein Leben getreten, kühl und elegant, und er war aufgewühlt, verwirrt und beunruhigt.
Nein, korrigierte er sich. Sie war nicht in sein Leben getreten, seine Tante und ihre Freundinnen hatten sie hineingestoßen. Doch sie würden ihn nicht zum Narren halten. Vielleicht hatten sie sie ursprünglich tatsächlich wegen Jazzy eingeladen, doch jetzt versuchten sie sich als Kupplerinnen und wollten Sarah und ihn zusammenbringen. Nun, darauf würde er nicht hereinfallen.
Er ging in die Küche und machte Zimttoast für Jazzy. Die hellbraunen Zimtsprenkel hatten genau dieselbe Farbe wie die hauchzarten Sommersprossen auf Sarahs Nasenrücken. Diese Sommersprossen! Er lächelte und nahm den Toast aus dem Toaster. Sie mochte die Sarah, die er einst gekannt hatte, begraben und durch die geschliffene Erscheinung von Sadie Cool ersetzt haben, aber diese Sommersprossen konnte sie nicht verstecken.
Er legte den Toast auf einen Teller, dann rührte er ein Päckchen Kakaopulver in Jazzys mit Milch gefüllte, rosa glitzernde Prinzessinnentasse und fügte eine Handvoll bunter Mini-Marshmallows hinzu, genau wie sie es mochte. Jazzy sah wirklich gut aus, selbst nach den aufregenden Aktivitäten des gestrigen Abends.
Er schöpfte neue Hoffnung, und ihm wurde leichter ums Herz. Hatten sie endlich das richtige Medikament gefunden? Konnte das die Lösung sein, nach der sie vier Jahre gesucht hatten?
Fröhlich summte er »It’s Beginning to Look a Lot Like Christmas«, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und schlenderte in Bademantel, Pyjama und Hausschuhen nach draußen, um die Samstagsausgabe des Twilight Caller vom Rasen vor dem Haus aufzuheben. Er bückte sich, griff nach der taubedeckten Zeitung in ihrer Plastikhülle, hob den Kopf und blickte auf den Lake Twilight, der silberblau in der aufziehenden Morgendämmerung glitzerte.
Da sah er sie.
Dort, an der Ecke seines Grundstücks, gleich auf der anderen Seite der einspurigen Straße, die am See entlangführte, stand Sarah. Ihr Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz zurückgebunden, und sie trug eine schwarze Lycra-Sporthose und ein schlichtes weißes Baumwolloberteil, das sich verführerisch über ihrer Brust spannte.
Sein Blick glitt nach unten. Es amüsierte ihn, dass sie immer noch dieselben schwarzen Stiefel mit den hohen Absätzen trug wie am Vorabend. Wann war sie so damenhaft geworden? Er hatte sie eher als burschikosen Wildfang in Erinnerung, doch das war lange her.
Travis’ Blick glitt über ihre Kurven. Was für eine Frau!
Er richtete sich auf, klemmte sich die Zeitung unter den rechten Arm, nahm einen Schluck Kaffee und versuchte, sich darüber klar zu werden, ob sie wirklich dort stand oder ob das eine reine Wunschvorstellung war. Mit der freien Hand zog er seinen Bademantel enger zusammen und versuchte, seine nackte Brust so gut wie möglich zu bedecken, dann hob er die Tasse zum Gruß. »Morgen!«
Einen Augenblick dachte er, sie würde sich umdrehen und davonlaufen, doch sie blieb stehen, wo sie war. Er ging zu ihr.
Sie hob das Kinn. »Ich habe deinen Rat befolgt und bin losgezogen, um einen Power-Walk zu machen.«
»In diesen Stiefeln? Hast du keine Turnschuhe?«
»Ich dachte nicht, dass ich Turnschuhe brauchen würde, und ich reise nur ungern mit viel Gepäck. Außerdem sind diese Stiefel bequem.«
»Für einen Power-Walk?«
»Ich habe eine Blase bekommen«, gab sie zu.
»Komm rein.« Er nickte Richtung Tür. »Ich hole dir ein Pflaster.«
»Es geht schon«, sagte sie und schlang die Arme um sich.
Er sah, wie sie sich zurückzog, ihren Schutzwall erhöhte. »Mal abgesehen von der Blase, wie fühlst du dich nach dem Walk?«
»Gut … großartig … hervorragend, um genau zu sein.« Sie klang überrascht.
»Hat die frische Luft für einen klaren Kopf gesorgt?«
»Ja.«
»Und den Kreislauf in Schwung gebracht?«
»Hm-hm.«
Er grinste. »Ich hab’s dir ja gesagt.«
Ihr Blick war auf etwas hinter ihm gerichtet, und er drehte sich um, um zu sehen, worauf sie schaute. Alles, was er sah, war ein kleines Haus im Queen-Anne-Stil, erbaut in den 1920ern. Es hatte eine Veranda, die rund ums Haus ging, Blumenkästen vor den Fenstern und war über und über mit Drechselarbeiten verziert.
»Du wohnst im Haus meiner Großmutter«, stellte sie leise fest.
»Wusstest du das nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Crystal und ich haben es nach dem Tod deiner Großmutter von deinen Eltern gekauft. Nachdem mein Vater gestorben war, habe ich es mit dem Geld aus der Versicherung abbezahlt und sein Haus verkauft. Jetzt gehört es mir.«
»Oh.« Ohne die Miene zu verziehen, starrte sie auf Gramma Mias ehemaliges Haus.
Travis liebte es, doch Crystal hatte es gehasst. »Zu klein«, hatte sie gesagt, »zu kitschig.« Crystal hatte davon geträumt, in einem prächtigen, weitläufigen Anwesen zu wohnen, doch dafür reichte Travis’ Geldbeutel nicht. Er hatte zugeben müssen, dass das Haus mit all seinen Schnörkeleien tatsächlich ein wenig kitschig wirkte. Es erinnerte ihn an eins dieser gemütlichen Cottages in Jazzys Beatrix-Potter-Büchern. Manchmal wirkte es fast märchenhaft, vor allem, wenn der Nebel vom See herüberwaberte.
Er bemerkte, dass Sarah die Hände zu Fäusten geballt hatte und die Lippen zusammenpresste. War sie verletzt wegen dieser Entdeckung? »Wollten deine Eltern das Haus nicht für dich behalten? Ich weiß, wie nahe du deiner Großmutter gestanden hast.«
Sarahs Augen verfinsterten sich. »Man hat mich nicht gefragt. Ich war sechzehn und im Internat, als Gram ihren ersten Schlaganfall hatte und meine Eltern sie in ein Pflegeheim in Houston brachten. Ich schätze, sie dachten nicht, dass es wichtig für mich sein könnte zu erfahren, wer das Haus gekauft hat, und vermutlich ist mir auch nie eingefallen, mich danach zu erkundigen. Meine Eltern …« Sie schüttelte den Kopf. Ihr langer Pferdeschwanz wippte. »Wir stehen uns nicht nahe. Ich bin eine große Enttäuschung für die beiden. Genau genommen habe ich sie jetzt über ein Jahr nicht mehr gesehen. Eigentlich wollten wir uns an den Feiertagen treffen, aber wie immer ist ihnen etwas dazwischengekommen.«
»Sie sind von dir enttäuscht?« Er konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals von Jazzy enttäuscht wäre. »Du hast ein Buch geschrieben, das Tausende von Menschen berührt hat, darunter auch meine Tochter. Wie können sie da nicht stolz auf dich sein?«
Sarah zuckte die Achseln. »Sie wollten, dass ich in ihre Fußstapfen trete. Chirurgin werde. Doch dazu fehlt mir die Begabung, oder vielleicht verspüre ich auch einfach nicht den Wunsch, diesen Weg einzuschlagen.«
»Das kommt daher, dass dein Talent in der Schriftstellerei liegt.«
»Es ist nett, dass du das sagst.« Sie hatte einen distanzierten Ton angeschlagen, sprach mit ihm, wie man mit Fremden sprach. Aber er war kein Fremder, und es ärgerte ihn, dass sie mauerte, ihn wegstieß, wenn er sich wünschte, alles über sie zu erfahren.
Warum? Was war das für eine seltsame Anziehung? Sie war attraktiv, ja, aber das waren viele Frauen, und keine von ihnen hatte je das Gefühl in ihm hervorgerufen … nun, was für ein Gefühl eigentlich? Von ihr fasziniert zu sein? Bezaubert? Keins der beiden Wörter traf richtig zu. Gebannt?
Vielleicht lag es an dem, was zwischen ihnen passiert war. Seine Hochzeit, in die sie geplatzt war. Ihr inniges Gelöbnis. Damals war sie total verliebt in ihn gewesen, und er hatte keinen blassen Schimmer davon gehabt. Jetzt war offenbar er derjenige, der sich in sie verliebt hatte, und sie schien sich nicht für ihn zu interessieren. Lag das daran, dass das Interesse von ihm ausging? Und war er in sie verliebt, eben weil sie kein Interesse zeigte? Wie verdreht war das denn?
Letzte Nacht war irgendein Knoten in ihm geplatzt. Aufgestautes sexuelles Verlangen nagte an ihm. Es hatte sich so verdammt gut angefühlt sie zu küssen, dass er mehr davon wollte. Am liebsten sofort, hier auf dem Rasen am Rand seines Grundstücks, während er ihr in die versonnenen blauen Augen blickte. Er sehnte sich danach, sie ins Bett zu zerren, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und in sie einzudringen, brannte vor Verlangen zu spüren, wie sie ihre Beine um seine Hüften schlang, wie ihr Körper unter seinem erschauderte. Wie gern hätte er die Mauern, die sie um sich herum errichtet hatte, eingerissen!
Angesichts der Intensität, mit der er sich das wünschte, wurde ihm himmelangst. Er hatte nie eine derartige Anziehungskraft verspürt, und am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre um sein Leben gerannt. Aber Travis blieb wo er war, und hielt ihrem Blick stand.
Ein Wagen fuhr die kleine Straße vor dem Haus entlang. Ein Nachbar saß hinter dem Steuer und hob grüßend die Hand. Travis lächelte und winkte zurück.
»Wie dem auch sei«, sagte er, »ich wollte mich noch einmal bei dir bedanken, dass du nach Hause gekommen bist und Jazzys Weihnachtswunsch erfüllt hast. Du ahnst gar nicht, wie viel ihr das bedeutet.«
»Gern geschehen.« Sie lächelte, doch das Lächeln drang nicht bis zu ihren Augen. »Nun, ich geh dann mal besser zurück.«
Er konnte spüren, wie ihre Mauern höher wurden. »Einen schönen Tag noch«, sagte er.
»Dir auch.«
Travis sah ihr nach, wie sie wegging, entschlossenen Schritts, den Kopf hoch erhoben, als versuchte sie, sich selbst von irgendetwas zu überzeugen. Und er fragte sich unweigerlich, wie es ihm gelingen könnte, diese starke Hülle, mit der sie sich umgeben hatte, zu durchbrechen und zu der echten Sarah Collier durchzudringen, die sich dahinter versteckte.