Kapitel zehn
Glaubst du, Sarah wäre vielleicht bereit, eine Mommy zu sein?
Jazzys Frage nagte an Travis, als er sich fürs Bett fertig machte. Er hatte herumgedruckst, um den heißen Brei geredet und ihr schließlich eine gute Nacht gewünscht und das Licht ausgemacht, ohne ihr eine richtige Antwort gegeben zu haben.
Dabei war es gar nicht die Antwort auf ihre Frage, die ihm so schwerfiel. Um ehrlich zu sein, hatte er keine Ahnung, ob Sarah bereit war für Ehe und Mutterschaft. Er kannte die Frau ja kaum. Ja, sicher, er hatte sie vor Jahren gekannt, aber da war sie für ihn einfach das Mädchen von nebenan gewesen, auch wenn sie eindeutig für ihn geschwärmt hatte. Aber jetzt war er ein anderer, und auch sie hatte sich verändert.
Nein, was ihn an Jazzys Frage beunruhigte, war die Schlussfolgerung, dass seine Tochter sie als potenzielle Ersatz-Mommy betrachtete. Und nicht nur das: Er wusste, dass sie von Sarah verzaubert war. Jazzy schenkte anderen Menschen schnell und bedingungslos ihre Zuneigung, und er fürchtete, sie könne Sarah ihre Liebe schenken, nur um zu erleben, dass diese nach New York zurückkehrte und sie genauso verließ wie Crystal.
Er machte Sarah natürlich keinen Vorwurf. Sie konnte nichts dafür, dass Jazzy von ihr fasziniert war. Nein, er gab sich selbst die Schuld. Er war derjenige, der das nicht hatte kommen sehen. Er hätte Sarah nicht zu dem Krippenspiel mitnehmen dürfen. Hätte sie nicht zu Pasta Pappa oder zum Lutscherkaufen ins Candy Bin einladen dürfen. Und er sollte nicht die Gefühle für sie haben, die er hatte. Er fühlte sich körperlich zu ihr hingezogen, und zwar ganz gewaltig. Außerdem hatten sie Spaß miteinander. Er genoss ihre schlagfertigen Neckereien, was Jazzy offenbar bemerkt hatte. Doch seine Aufgabe war es, seine Tochter zu beschützen; ihr Sarah auf einer weniger oberflächlichen Ebene vorzustellen, war ein großer Fehler gewesen.
Doch Sarah war nur bis Sonntag in der Stadt. Er musste bloß noch die Pyjamaparty im Buchladen am Samstagabend durchstehen, dann hätte er es geschafft. Bis dahin würde er sein Bestes geben, um ihr aus dem Weg zu gehen.
Nur noch ein paar Tage. Wie schwer konnte das sein?
Die alljährliche Plätzchenbörse des First Love Cookie Clubs begann Freitagnachmittag um drei und endete für gewöhnlich zwischen neun und zehn Uhr abends. Über die Jahre hinweg hatte sich herausgestellt, dass sich die Veranstaltung bei einem späteren Beginn – zwischen achtzehn und neunzehn Uhr – bis in die frühen Morgenstunden hineinzog, also hatten die Damen sie auf den Nachmittag vorverlegt.
Zumindest war es das, was Christine Sarah erzählte, als diese um vierzehn Uhr fünfundfünfzig mit den Pfefferminzplätzchen, die sie in Jennys Küche im Merry Cherub gebacken hatte, vor Christines Haus eintraf. Die Plätzchen waren in einer fröhlich aussehenden blauen Schachtel verpackt, die mit Schneeflocken verziert war. Jenny hatte sie für Sarah gebastelt, als sie feststellte, dass diese die Plätzchen auf einem mit Frischhaltefolie umwickelten Pappteller mitnehmen wollte.
»O Mann, die duften ja köstlich«, sagte Belinda, die hinter Sarah den Bürgersteig entlangkam und eine riesige, festlich aussehende Dose bei sich trug, auf der Weihnachtswichtel in einem Bowlingcenter abgebildet waren. Sie hatte einen blauen Jeansrock an, einen dicken Pullover mit einem Weihnachtsmann darauf und darüber eine blaue Jeansjacke.
»Ihre ebenfalls«, sagte Sarah und atmete einen Hauch von Frischkäse und Aprikosen ein.
»Das sind die Winterwunderland-Plätzchen. Ein Rezept von meiner Großmutter. Sind Familientraditionen nicht etwas Wundervolles?«
Christine führte sie in die Diele, nahm ihnen die Jacken ab und hängte sie an die Garderobe neben der Tür. Von da, wo sie stand, konnte Sarah ins Wohnzimmer hineinblicken. Ein großer, frisch geschlagener Tannenbaum stand vor dem Fenster, geschmackvoll dekoriert mit roten und weißen Lichtern, Zuckerstangen und rot-weißem Weihnachtsschmuck zum Thema Backen. An seinen Zweigen hingen ein winziges rotes Rührgerät, ein daumengroßer Eierkarton, die Frau des Weihnachtsmanns mit einer Schürze, die ein Tablett mit Plätzchen in den Händen hielt, eine knicksende Lebkuchenfrau und ein rot-weißer Kühlschrank mit offener Tür und einem kleinen Licht darin.
Die Einrichtung war im französischen Landhausstil gehalten, die vorherrschenden Farben waren salbeigrün und Eierschale mit gelben Akzenten. Eine große orangebraune Maine-Coon-Katze lag zusammengerollt vor dem Gaskamin. Aus der Stereoanlage tönte Bing Crosbys »White Christmas«, was in Sarah eine Kindheitserinnerung auslöste, die sie vergessen zu haben glaubte. In jenem Moment war sie wieder dreizehn und auf der Schwelle zur Frau, aber immer noch aufgeregt wegen Weihnachten.
Sie war bei Gram. Ihre Eltern sollten an Heiligabend eintreffen. Sie hatte sie seit Thanksgiving nicht mehr gesehen, und sie brannte darauf, ihnen von den glatten Einsern zu erzählen, die sie in Englisch bekommen hatte. Die Plätzchen waren gebacken, die Geschenke, die sie für ihre Eltern ausgesucht und selbst eingepackt hatte, lagen unter dem Weihnachtsbaum. Und dann riefen sie in letzter Minute an. Ein Notfall im Krankenhaus. Sie würden es über Weihnachten nicht nach Twilight schaffen.
Gram war noch mehr außer sich gewesen als Sarah. »Ich bin stolz auf meine Tochter«, hatte sie gesagt. »Sie stammt von Leuten aus der Arbeiterschicht ab, die froh waren, die Highschool abgeschlossen zu haben, und sie hat hart gearbeitet, um sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen und Herzchirurgin zu werden. Aber sie hat keinen blassen Schimmer, was es bedeutet, eine Mutter zu sein. Was das angeht, schäme ich mich für sie. Ihr fehlt etwas. Helen fehlt einfach der mütterliche Instinkt.«
Sarah hatte auf die Päckchen unter dem Baum gestarrt und so getan, als würde ihr das nichts ausmachen. Sie hatte sich in ihren Kopf zurückgezogen und angefangen, sich eine Geschichte zu erzählen über einen magischen Ort, an dem Eltern ihre Kinder an Weihnachten niemals im Stich ließen. Als sie schließlich zwei Tage später aufgekreuzt waren, hatten sie Sarah ein Erste-Hilfe-Set, ein Mikroskop und ein Sparzertifikat mit dem Geld für ihr Studium an der medizinischen Fakultät geschenkt. Sie hatte sich Harry Potter und der Stein der Weisen, eine CD von den Backstreet Boys und eine Mickymaus-Uhr gewünscht. Bekommen hatte sie nichts davon.
Gram hatte das Geschenkpapier vom Wohnzimmerfußboden aufgehoben, Sarah in das unglückliche Gesicht geblickt und gemurmelt: »Sie hat wirklich keinen blassen Schimmer.«
»Sarah?«
Sie blinzelte und stellte fest, dass Christine etwas zu ihr gesagt hatte. »Ja?«
»Kommen Sie mit in die Küche. Möchten Sie Rotwein, Weißwein oder Eggnog oder vielleicht lieber etwas Nichtalkoholisches?«
Normalerweise trank sie um diese Tageszeit keinen Alkohol, aber ein Tässchen Eggnog oder ein Glas Wein würden ihr helfen, sich ein wenig zu entspannen. Benny redete andauernd auf sie ein, sie solle mal ab und zu aus sich herausgehen und das Leben genießen. Die Sache war nur die: Es fiel ihr wirklich schwer, sich in Gesellschaft zu entspannen.
»Eggnog klingt gut«, sagte sie und folgte Christine in die Küche.
Dort tummelte sich bereits Belinda und fing an, ihre Kekse auf einer Anrichte auszubreiten, die schon vor Häppchen überquoll: Artisanal-Käse – Stilton, Garroxta, Brie, geräucherter Gouda. Ausgewählte Kräcker – mit Sesam, Kürbiskern oder auch mit schwarzem Pfeffer. Rohkost – Sellerie, Karotten, längs geschnittene Gurken, Blumenkohl und Brokkoli. Dips – Hummus, French Onion, Schwarze Bohne, Avocado. Die Auswahl war erstaunlich für eine Kleinstadt.
In der Mitte stand ein Blumengesteck aus weißen und roten Weihnachtssternen, umgeben von Ilexzweigen. Draußen vor den Fenstern hingen blinkende Lichter, auf der Küchenarbeitsplatte brannten Vanille-Duftkerzen. Neben den Kerzen lagen in einer silbernen Dose mehrere Dutzend mit Zuckerguss verzierte Plätzchen.
Alles war so schön, dass Sarah das Herz wehtat.
Es klingelte an der Tür, und Christine ging öffnen. Eine Minute später kehrte sie mit Raylene, Patsy und Dotty Mae zurück, die mit Tüten und Päckchen beladen waren. Alle drei waren weihnachtlich gekleidet. Dotty Mae trug einen grünen Hosenanzug aus Pannesamt, der Sarah so sehr an Gram erinnerte, dass sie ganz nostalgisch wurde. Raylene hatte einen ihrer berüchtigten kurzen Röcke (heute mal aus rotem Leder) an, dazu eine weiße Seidenbluse unter einem Strickpullunder mit weihnachtlichen Applikationen. Patsy hatte sich für ein burgunderrotes Glitzertop zu einer schwarzen Hose entschieden und sich eine diamantbesetzte Schneemannbrosche an den Kragen gesteckt.
»Seid ihr bereit für die Party?«, fragte Raylene und hielt eine Flasche Pfefferminzschnaps in die Höhe.
»Marva und Terri sind noch nicht hier«, wandte Christine ein, doch in diesem Augenblick klopfte es an die Glastür, die in den Garten ging.
Sarah sah Marva und Terri auf der Terrasse stehen.
»Jetzt ist die Bande versammelt«, sagte Dotty Mae.
Christine winkte die beiden herein.
Die Terrassentür öffnete sich, und Marva und Terri platzten ins Wohnzimmer.
Terri trug leuchtend bunte Papiertaschen mit Griffen in der Größe von Butterbrottüten bei sich, außerdem eine durchsichtige Plastikschachtel voller Bastelbedarf: grüner und roter Glitter, Klebstoff, Pfeifenreiniger, Bastelpapier. Eine Brise wehte ins Zimmer und blies Herbstblätter, jetzt braun und vertrocknet, über die Schwelle.
»Ihr bleibt draußen«, sagte Terri und beförderte die Blätter mit den Füßen zurück auf die Terrasse. »Ihr seid nicht eingeladen.«
»Was sind das für Bastelsachen?«, wandte sich Patsy an Terri.
»Vivian hat mich gebeten, die Taschen für die kleinen Geschenke morgen Abend zu verzieren. Gerald freut sich schon so auf die Pyjamaparty im Book Nook. Er kann es gar nicht abwarten, der Öffentlichkeit endlich seinen neuen Spiderman-Schlafanzug vorführen zu können.«
»Wer ist Gerald?«, fragte Sarah Christine.
»Terris vierjähriger Sohn. Er ist zuckersüß, aber nur um Sie vorzuwarnen: Er ist ein echter Wirbelwind«, flüsterte Christine. »Sie werden es morgen bei der Party schon sehen.«
»Und warum hast du diese Taschen zu unserer Plätzchenbörse mitgebracht?« Raylene beäugte verächtlich die Bastelsachen.
Terri lächelte breit. »Ich dachte, wenn uns langweilig wird …«
»Schätzchen, wenn ich etwas trinke, möchtest du nicht, dass ich auch nur in die Nähe einer Schere komme«, sagte Raylene. »Ach, wenn wir schon davon reden, schenk mir doch bitte noch etwas Eggnog ein, Christine.«
Alle lachten und machten sich über das Essen und die Getränke her.
Auf der Kücheninsel in der Mitte des Raums hatte Christine emsig die Plätzchenauswahl hergerichtet. Acht verschiedene Sorten zu jeweils acht Dutzend Stück – Raylenes Gewürzkekse, Christines Pekannuss-Sandplätzchen, Sarahs Pfefferminzplätzchen, Dotty Maes Toffeekekse, Patsys gefüllte Plätzchen, Belindas Frischkäse-Aprikosenplätzchen, Terris Sirupplätzchen und Marvas Zitronenecken. Es war ein Kaleidoskop von Gerüchen, Farben und Konsistenzen. Eine fast beschämende Zurschaustellung von Köstlichkeiten.
Lebensmittelpornographie, dachte Sarah, und dann bemerkte sie, dass etwas fehlte. Es gab keine Schicksalsplätzchen. Aus Respekt vor ihr? Oder weil sie angenommen hatten, Sarah würde sie backen? Sie hatte daran gedacht, aber sie hatte sich nicht getraut.
Als alle einen Platz gefunden hatten, nahm Christine eine kleine Silberglocke zur Hand und brachte sie zum Klingeln. »Also«, sagte sie. »Wer möchte beginnen?«
»Beginnen?« Sarah zog eine Augenbraue hoch.
»Es ist eine Tradition des First Love Cookie Clubs, dass jedes Mitglied eine Geschichte über seine erste Liebe erzählt, und zwar über seine erste Liebe zu Plätzchen und zu einem Mann«, erklärte Belinda. »Das machen wir jedes Mal bei unserer Plätzchenbörse Anfang Dezember. Und es muss immer eine Geschichte sein, die wir noch nicht kennen.«
Sarah rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. Sie wollte nicht über ihre erste Liebe sprechen. Nicht vor lauter Leuten, die sie kaum kannte. Vor allem nicht vor lauter Kleinstadtfrauen, die liebend gerne nicht nur Plätzchen, sondern auch Klatsch und Tratsch austauschten.
»Weil ich nie eine erste Liebe hatte«, sagte Christine, »werde ich den Anfang machen und von dem ersten Mal erzählen, als ich die heilende Kraft von Plätzchen entdeckte.«
»Leg los.« Terri kaute an einer Selleriestange, die beladen war mit Roter-Pfeffer-Hummus.
»Es war direkt nach dem Unfall.« Sie wies mit der Hand auf ihr Bein. »Die Ärzte hatten meinen Eltern gesagt, ich würde vermutlich nie wieder gehen und schon gar nicht Leichtathletik machen können. Meine Träume vom olympischen Ruhm waren dahin. Marva …« – sie machte eine Pause und lächelte Marva an –, »die damals meine Mathelehrerin war, hat mich im Krankenhaus besucht. Sie hatte Plätzchen für mich gebacken, um mich aufzumuntern. Ich habe mir die Augen ausgeheult, denn das Einzige, was ich wollte, war, als Sprinterin an der Olympiade teilzunehmen. Marva hat mir gesagt, ich solle aufhören, mich selbst zu bemitleiden, schließlich gäbe es jede Menge Menschen, die schlechter dran seien als ich, und wenn ich nicht mehr laufen könne, solle ich mir eben etwas anderes suchen, was mir genauso viel Freude macht.«
Alle blickten auf Marva.
Marva setzte ein bescheidenes Gesicht auf. »Ich hab damit nichts zu tun, Christine, das hast du ganz allein geschafft. Ich habe dir bloß ein wenig die Augen geöffnet.«
»Aber das war noch nicht alles. Nachdem du gegangen warst, habe ich in eins dieser Plätzchen gebissen, und es hat einfach himmlisch geschmeckt. Diese Plätzchen bewirkten, dass es mir besser ging. Du hast deine ganze Zuneigung und Sorge um mich in diese Plätzchen gelegt, und das hat sich auf mich übertragen. Nun wusste ich, dass auch ich solche Plätzchen backen und all meine Liebe und Hingabe hineinstecken konnte … und seht her, was aus mir geworden ist …« Christine machte eine umfassende Handbewegung, ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht. »Ich besitze meine eigene Bäckerei und bekunde der Gemeinde damit jeden Tag meine ganz persönliche Zuneigung. Das Laufen konnte ich natürlich vergessen, aber immerhin gehe ich wieder!«
»Ähm …« Marva räusperte sich. »Ich weiß nicht, ob das der richtige Zeitpunkt ist, dir zu gestehen, dass ich die Plätzchen im Laden gekauft habe …«
»Wie bitte?!«, rief Christine aus.
Marva lachte. »Ich mache nur Spaß.«
»Oh, puh!« Christine tat so, als wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. »Jetzt hätte ich fast gedacht, meine ganze Karriere wäre auf eine Lüge gegründet!«
Alle lachten, Fröhlichkeit erfüllte den Raum.
»Also, wer ist als Nächste dran?«, fragte Christine.
»Ich«, bot Terri an. »Habe ich euch schon erzählt, wie Ted mich das erste Mal geküsst hat?«
Alle schüttelten den Kopf, und Terri legte los, erzählte ihnen von dem ersten Kuss, den Ted ihr unter der Tribüne gegeben hatte, nachdem ihr Team das lokale Fußballturnier gewonnen hatte.
»Oooh«, schwärmte Belinda. »Der erste Kuss von der ersten Liebe. Das ist das Thema dieses Jahres.«
Sie fuhren mit ihren Geschichten fort, und Sarah wusste, dass sie bald an der Reihe wäre, doch sie wollte nicht mitmachen. Wollte nicht zugeben, dass ihre erste Liebe sie gerade erst vor ein paar Tagen unter dem Mistelzweig im Horny Toad geküsst hatte.
Sarah beobachtete, wie eine nach der anderen ihre Geheimnisse enthüllte. Sarah, die unbeteiligte Beobachterin, die nicht wirklich dazugehörte und die dennoch die Wärme verspürte, welche von dieser Gruppe ausging – eine Außenstehende, die sich am Rand eines Lagerfeuers wärmte. Und sie saß tatsächlich ein wenig am Rand, dem Ausgang am nächsten, ein kleines Stück entfernt vom Rest, eine Besucherin in dieser heilen Welt. Das Gefühl von Einsamkeit und Reserviertheit, das sie oft in Räumen voller Menschen empfand, überfiel sie wieder. Bedrängte sie, drängte sie ins Abseits, bis sie meinte, ganz allein in einer Ecke zu stehen. Alle anderen lachten, redeten und aßen, während sie wie gewöhnlich außerhalb stand und nur zusah.
Sie beobachtete die Frauen und spürte, wie sie wieder in die Spirale des Trübsinns gezogen wurde, der sie seit ihrer frühen Kindheit quälte. Eine düstere Spirale, die sie in ihrer Trostlosigkeit oftmals als merkwürdig beruhigend empfand. Sie umfing sie wie ein kaltes, schwarzes Loch, wann immer sie versuchte, sich irgendwo einzufügen, wohin sie nicht gehörte. Es war offenbar leichter, besser sogar, sich einfach zu separieren, abzusondern, frei zu machen.
Im Augenblick waren ihre Gefühle zu groß, um damit zurechtzukommen. Ihr Wunsch, dazuzugehören, ihre Furcht, dass ihr das niemals möglich sein würde. Die kindliche, allumfassende Liebe, die sie einst für Travis empfunden hatte, und ihre neuen Gefühle für ihn wühlten etwas in ihr auf, das sie nicht klar benennen konnte.
Diese Welt dort draußen, die Welt des First Love Cookie Clubs, war zu strahlend mit ihren Geschichten, ihrer Freundschaft und ihrer Liebe – und sie fegte über Sarah hinweg wie ein Wirbelsturm. Ein Tornado aus Heiterkeit, Wärme und Kameradschaft, die sie so nicht kannte.
Sie erinnerte sich an eine Zeit, als sie klein gewesen war. Vielleicht drei oder vier. Sie hatte allein in der Dunkelheit ihres Kleiderschranks gespielt, hatte sich mit ihrer Fantasiefreundin Sadie zu einer Teeparty eingefunden. Es war in der Vorweihnachtszeit gewesen, vielleicht kurz nach Thanksgiving.
Unten hatten ihre Eltern zu einer Teeparty eingeladen. Es roch nach gebratenem Fleisch und exotischen Gewürzen. Der Lärm von Gelächter, Scherzen und hitzigen Diskussionen drang die Treppe hinauf. In ihrer Abgeschiedenheit, im Bauch ihres Zimmers, fühlte sich Sarah unglaublich geborgen. Könnte sie doch einfach nur hierbleiben – zusammen mit Sadie in der Dunkelheit, im Kleiderschrank, weit weg von all dem Trubel –, würde ihr mit Sicherheit niemals etwas Schlimmes zustoßen. Aber so beruhigend diese schöne Vorstellung auch war, so wusste sie doch, dass sie es nicht schaffen würde, wenn sie diesem Impuls nachgab. Ihr ganzes Leben schien ein einziger, gewaltiger Kampf gegen ebenjenen Drang zu sein, den sie schon in diesem zarten Alter verspürt hatte. Sosehr sie es sich auch wünschen mochte, sie durfte sich nicht dieser Fantasiewelt überlassen, denn ganz davon verschluckt zu werden, war schlimmer als die raue, schmerzliche Verletzbarkeit, die sie in diesem Augenblick empfand.
Mit den Damen des First Love Cookie Clubs in diesem anheimelnden Zimmer zusammenzusitzen, den Plätzchenduft zu atmen, der in der Luft hing, den Geschmack des Eggnog auf der Zunge zu spüren, die lächelnden Gesichter um sich herum zu sehen, all das trieb Sarah die Tränen in die Augen. Wie sollte sie diese Eindrücke verarbeiten, ohne sich selbst dabei zu verlieren? Die Mauer, die sie um sich herum errichtet hatte, ragte zu weit hinauf, Rapunzels Turm war zu hoch.
Sarah drängte ihre Befürchtung zurück, dass es sie in tausend Stücke sprengen und sie nicht in der Lage sein würde, ihr wahres Ich unter den Trümmern zu entdecken. Sie fühlte sich in zwei entgegengesetzte Richtungen gerissen. Ein Teil von ihr wollte fliehen, denn das war der einzige Weg zu überleben, den sie kannte. Der andere Teil flehte voller Sehnsucht nach Anschluss, nach Ganzheit, nach einem Ort, wo sie hingehörte.
Die Damen schlenderten durch die Küche, füllten ihre Teller nach, schenkten sich Wein ein, erzählten weitere Geschichten. In diesem Moment verlor sie den Kampf gegen ihren Fluchtinstinkt. Ruhig stand sie auf.
Niemand bemerkte etwas.
Patsy und Raylene stritten sich munter, die anderen bezogen Position und warfen ihre Kommentare dazwischen. Sarah wusste nicht mal, worum es eigentlich ging. Sie hatte nicht länger zugehört, sondern sich von ihren eigenen emotionalen Turbulenzen davontragen lassen. »Ich gehe frische Luft schnappen«, murmelte sie.
Keine der Damen achtete auf sie, was Sarahs Verdacht bestätigte, dass sie so gut wie unsichtbar war. Sie holte tief Luft, bewegte sich vorsichtig in Richtung Tür, betete, dass niemand auf sie aufmerksam wurde, niemand etwas zu ihr sagte, obwohl sie sich im Grunde genau das wünschte.
Bemerkt zu werden. Mit einbezogen zu werden. Eine von ihnen zu sein.
Als sie ihre Jacke von der Garderobe nahm und aus der Tür schlüpfte, pochte ihr Herz, als hätte sie einen Hundertmeterlauf hinter sich. Die Flucht war ihr gelungen, und sie verspürte einen Anflug von Euphorie.
Doch vor was sie eigentlich geflohen war, wusste sie nicht.
Die Sonne hing tief am Horizont, auch wenn die Temperatur bei milden vierzehn Grad Celsius lag. Sarah überlegte, ob sie ins Merry Cherub zurückkehren sollte, aber der Gedanke an eine Lobby voller Gäste und eine muntere Jenny hielt sie davon ab. Sie war in der Stimmung, allein zu sein. Die Hände in den Jackentaschen huschte sie davon in Richtung Fußgängerweg, der um den See herumführte.
Passanten lächelten und nickten ihr zu, zwangen sie, ihren Gruß zu erwidern. Sie vermisste die Anonymität von Manhattan, senkte den Kopf und beschleunigte ihren Schritt. Ein paar Minuten später war sie am Hafen.
Sie hatte gar nicht vorgehabt, ein Tretboot zu nehmen – eigentlich hatte sie nichts anderes im Sinn gehabt, als für sich zu sein und das Gefühlschaos in ihrem Inneren genauer zu betrachten –, bis sie die Boote an der Pier auf- und abschaukeln sah. Sechs von ihnen waren leuchtend rot gestrichen. »Merry Cherub« stand in strahlend weißen Buchstaben darauf und wies sie als Eigentum des B&B aus. An ihrem Ankunftstag hatte Jenny ihr erklärt, dass im Hafen Tretboote für die Gäste bereitlagen, und ihr die Kombination für die Zahlenschlösser genannt.
»Die können Sie gar nicht vergessen.« Jenny hatte gelacht. »Die Kombination ergibt auf der Telefontastatur das Wort LOVE. Dreimal die Fünf, dreimal die Sechs, dreimal die Acht, zweimal die Drei.«
Ausgerüstet mit dieser Information klapperte Sarah mit ihren hohen Absätzen über die hölzernen Stegplanken zu den Tretbooten. Sie öffnete eins der Zahlenschlösser, nahm die Kette ab und ließ sich zu einer spontanen Spritztour auf den Sitz gleiten, dann trat sie in die Pedale und lenkte das Boot rückwärts auf den See hinaus. Hinter ihr spritzte Wasser auf, und als sie erst einmal vom Steg weg war, änderte sie ihre Tretrichtung und fuhr von dannen.
Der Wind nahm zu, blies von hinten gegen das Boot und trieb sie schnell auf den See hinaus. Um sie herum sprangen Fische aus dem Wasser und schnappten nach Insekten, ihre Schwänze peitschten das Wasser, wenn sie zurück unter die Oberfläche glitten. Das Tretbootfahren half ihr, einen klaren Kopf zu bekommen. Ihre Verwirrtheit löste sich auf, freudige Erregung machte sich in ihr breit, als das Boot über die Wellen tanzte. Der Wind wehte frisch und scharf, und die abnehmende Temperatur trug zu ihrem plötzlichen Hochgefühl bei. Frei. Sie war frei. Allein und in Bewegung fuhr sie Tretboot auf dem See und konnte ihre Gedanken schweifen lassen.
Ihre Euphorie dauerte so lange, bis ihre Beine müde wurden und sie versuchte, das Boot zurück zum Steg zu lenken.
Doch es ließ sich nicht wenden.
Sie trat fester.
Geräuschvoll wühlten die Schaufelräder das Wasser auf, aber das Boot rührte sich nicht vom Fleck. Tretboote ließen sich ausschließlich durch Muskelkraft bewegen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Auf einmal stellte sie fest, dass sie ganz und gar nicht am Fleck blieb: Die Böen trieben sie immer weiter in die Mitte des Sees, so mühelos, als wäre sie ein Wasserkäfer. Egal, wie fest sie trat, die Strömung war stärker.
Na schön, sie war leicht besorgt. Sie trieb auf einem See, der sich über eine gewaltige Fläche erstreckte und an der tiefsten Stelle knapp fünfundzwanzig Meter tief war. Dabei war sie nicht gerade die beste Schwimmerin der Welt. Eine Rettungsweste hatte sie nicht dabei, die verwahrte Jenny im Merry Cherub, und bald würde die Sonne untergegangen sein. Immerhin war das Boot intakt, und es war durchaus möglich, dass der Wind sie ans Ufer trieb. Doch hoffentlich würde vorher jemand vorbeikommen.
Sie blickte über den See und stellte fest, dass sie weder das Ufer erkennen noch sich erinnern konnte, unterwegs irgendwelche Boote gesehen zu haben. Die einzigen Autos, die am Hafen gestanden hatten, hatten vor dem dazugehörigen Grillrestaurant geparkt. Trotzdem musste doch jemand hier draußen sein. Wenigstens ein, zwei hartgesottene Angler.
»Handy« erinnerte sie sich selbst und zog es aus ihrer Jackentasche, doch sie hatte so gut wie keinen Empfang. Vermutlich reichte es nicht für einen Anruf, aber vielleicht würde sie eine SMS versenden können.
Die Abenddämmerung senkte sich herab und brachte eine Feuchtigkeit mit sich, die ihr in die Finger kroch. Ihre Daumen fühlten sich steif an. Wem sollte sie schreiben? Gut, dass ihr jeder seine Telefonnummer gegeben hatte.
Travis?
Mein Gott, sie hasste es, wie ein Dummkopf dazustehen. Die Damen des Plätzchenclubs waren mit Sicherheit beleidigt, weil sie sich aus dem Staub gemacht hatte. Jenny würde beschäftigt sein.
Wieder musste sie an Travis denken. Hm … das Letzte, was sie wollte, war, dass er mitbekam, wie dämlich sie gewesen war. Blieb also nur noch die Polizei.
Sollte sie den Notruf wählen? Das kam ihr ein wenig drastisch vor.
Sie zögerte, die Finger über den Tasten.
Plötzlich wurde Sarah von einer erneuten Böe überrascht, die gegen das Boot prallte und es heftig schaukeln ließ. Das Handy glitt ihr aus der Hand und fiel ins Wasser.
In ungläubigem Staunen sah sie ihm hinterher, dann lachte sie darüber, wie absurd das Ganze war. Wunderbar. Nun, damit wäre das Problem, wen sie anrufen sollte, wohl gelöst.
Obwohl sie keine gute Schwimmerin war, hatte sie doch nie Angst vorm Wasser gehabt. Solange sie im Boot blieb, würde sich schon alles ergeben. Zumindest redete sie sich das ein, um nicht in Panik auszubrechen.
Sie trat in die Pedale und fühlte, wie ihr Wasser ins Gesicht spritzte. Zuerst dachte sie, es hätte angefangen zu regnen, doch eine Minute später, als erneut Wasser auf ihre Wange traf, stellte sie fest, dass es von unten kam. Sie blickte hinunter und sah, dass Wasser in einem der beiden Fußräume für die Pedale stand. Der Wind musste es hereingetrieben haben, und jedes Mal, wenn sie in die Pedale trat, spritzte es auf.
Super. Sie würde es einfach ausschöpfen.
Nur dass sie nichts zur Hand hatte, womit sie es ausschöpfen konnte, und es von Minute zu Minute kälter wurde. Nicht gerade die beste Situation, in der sie sich je befunden hatte, aber mit Sicherheit auch nicht die schlimmste. Sie war klug und einfallsreich. Sie würde einen Ausweg finden.
Der Sturm – denn mittlerweile war aus der Brise ein wahrhaftiger Sturm geworden – tobte mit alarmierender Wildheit übers Wasser und wirbelte das Boot um dreihundertsechzig Grad herum. Kälte durchfuhr sie, schneidend wie eine Machete in einem Zuckerrohrfeld. Binnen Sekunden war sie komplett orientierungslos. Sie hatte keine Ahnung, aus welcher Richtung sie gekommen war.
»Das war nicht gerade eine deiner brillantesten Aktionen, Sadie Cool«, murmelte sie, hauptsächlich um ihre eigene Stimme zu hören.
Das Tretboot neigte sich nach rechts, wo sie saß. Das Wasser im Fußraum war jetzt noch tiefer.
Zeit, mit dem Schöpfen zu beginnen.
Sie biss die Zähne zusammen, beugte sich vor und fing an, mit der hohlen Hand zu schöpfen. Ihre Finger, die bereits steif vor Kälte waren, verkrampften sich, als sie auf das eisige Wasser trafen. Sie ignorierte den stechenden Schmerz und schaufelte mehrere Minuten lang Wasser, doch dann stellte sie zu ihrer Bestürzung fest, dass es nicht weniger wurde.
Und dann sah sie ihn. Den winzigen, aber tödlichen Haarriss in der Hülle.
Entgegen ihrer Vermutung hatte nicht der Wind das Wasser ins Boot getrieben, es sickerte durch einen Riss im Fiberglas. Da konnte sie noch so sehr schöpfen, das Boot würde sinken.
»Das ist ja wieder mal typisch, Collier, dass du dir das Tretboot mit einem Leck herausgepickt hast.«
Wie hatte das nur passieren können? Binnen vierzig Minuten hatte sie die sichere Wärme und Behaglichkeit in einem Raum voller freundlicher, liebenswürdiger Frauen gegen ein leckes Tretboot getauscht, das bei Sturm und Kälte inmitten des Sees trieb, als wollte sie es Kate Winslet in Titanic gleichtun.
Die rechte Hälfte des flachen Bootes bekam Schlagseite, vorne lief Wasser hinein. Ihr Puls hämmerte. Sie konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören. Sie fluchte und fühlte sich sogleich ein bisschen besser, aber das änderte nichts an der Situation.
Beweg dich. Du musst dich bewegen.
Das Wasser stand ihr nun bis zu den Knöcheln. Gut, dass sie Stiefel trug, aber auch die würden bald durchweicht sein.
Eine Krähe flog über ihren Kopf hinweg und krächzte Krah! Krah! Krah!, als würde sie sie auslachen.
»Du hast recht«, sagte sie, »ich habe Spott verdient.«
Hör auf, mit der Krähe zu reden, und beweg dich.
Wieder trat sie in die Pedale und verlagerte dabei ihr Gewicht nach links. Einen Augenblick hatte es den Anschein, als würde sich das Boot wieder aufrichten, und für einen albernen Moment dachte sie, das Wasser wäre vielleicht nicht durch den Haarriss in der Hülle gedrungen, sondern doch vom Wind hereingedrückt worden, aber diese Hoffnung war von kurzer Dauer. Das Boot senkte sich wieder nach rechts.
Sie rutschte so weit nach links, wie sie nur konnte. Die Sonne war jetzt ganz hinter dem Horizont verschwunden. Bald schon würde es stockdunkel sein. Sie schluckte und tat nicht länger so, als hätte sie die Situation auch nur ansatzweise unter Kontrolle.
Regen lag in der Luft, und es roch nach Fisch. Großartig. Bald schon würde sie selbst bei den Fischen liegen.
Sie lachte nervös. Das Wasser stieg weiter, über die beiden Fußräume hinaus. Das Tretboot neigte sich nach vorne. Sarah saß zusammengekauert auf der linken Seite, die Knie an die Brust gezogen.
Langsam fing das Boot an zu sinken. Das Wasser kam näher und näher. Es wurde dunkler und dunkler. Kälter und kälter. Sarah schauderte.
Verzweifelt blickte sie über den See, doch alles, was sie sah, war tiefblaues Wasser. Kein Ufer, keine anderen Boote. Nicht mal eine Boje, zu der sie hätte schwimmen können.
Nicht mehr lange, dann würde das Wasser die gesamte Vorderseite überflutet haben. Das Boot sank jetzt schneller. Vorsichtig kletterte Sarah nach hinten.
Schließlich hatte das Wasser auch den Rücksitz erreicht und umwirbelte ihre Knöchel. Sie zog die Beine an und kauerte sich zusammen, die Schultern nach vorn gezogen, die Arme um sich geschlungen, vollkommen hilflos. In wenigen Minuten wäre sie im Wasser, und es würde nicht lange dauern, bis sie unterging. Sie stellte sich schon die Schlagzeile vor: Gesellschaftsfeindliche Kinderbuchautorin ertrinkt im Lake Twilight.
Das war’s. Es war vorbei. So würde sie also sterben.