Kapitel sechs
Raylene und Dotty Mae warteten in der Lobby des Merry Cherub auf Sarah. Hinter der Rezeption lehnte Jenny, auf die Ellbogen gestützt, das Kinn in den Händen. Alle drei blätterten durch einen Katalog mit Engelsartikeln, der auf dem Tresen vor ihnen lag.
»Da bist du ja!«, rief Dotty Mae, als sie Sarah entdeckte. Sie warf einen Blick auf ihre Sportklamotten. »Aber du bist noch nicht fertig.«
»Fertig, wofür?« Sarah fuhr sich mit der Hand durch die Stirnfransen, die der Wind unten am See zerzaust hatte. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass jetzt Travis das Haus ihrer Großmutter gehörte und niemand ein Wort zu ihr gesagt hatte.
»Sie haben einen vollen Tag vor sich«, sagte Raylene. »Haben Sie Ihren Terminplan nicht bekommen?«
Schuldbewusst dachte Sarah an den Stapel Papier, den Bürgermeister Schebly ihr gestern in die Hand gedrückt hatte. Sie hatte ihn auf den Nachttisch geworfen und keines weiteren Blickes gewürdigt. »Ähm, tut mir leid, ich habe ihn noch nicht gelesen … für gewöhnlich erledigt mein Agent solche Dinge für mich.« Sie stellte fest, wie sehr das nach einer Ausrede klang. Sie hasste öffentliche Auftritte, und wenn Benny ihr nicht einen kräftigen Stoß gab, drückte sie sich davor, aber es war unhöflich von ihr, dass sie nicht einmal einen Blick auf den Terminplan geworfen hatte. Sie hatte Dotty Mae und Raylene warten lassen. »Ich hätte das selbst tun müssen. Entschuldigung.«
»Du liebe Güte«, sagte Dotty Mae, »dieser Agent hat dich ja ganz schön verwöhnt.«
»Ich schätze schon«, gab Sarah zu.
»Ist schon gut, wir warten ja noch nicht lange«, beschwichtigte Raylene.
»Würden mich die Damen für einen Augenblick entschuldigen? Ich muss mich schnell duschen und umziehen.«
»Na, dann ab mit dir.« Dotty Mae wedelte ungeduldig mit der Hand. »Ich wollte gerade dieses Engel-Fondue-Set bestellen. Die Tellerböden sind mit Bibelversen versehen. Wenn man aufgegessen hat, entdeckt man – tatatataaa – das Wort Gottes.«
Raylene verdrehte die Augen. »Was ist mit den Gästen, die nicht gerne Fondue und Religion vermischen?«
»Die sollen eben nicht auf den Tellerboden schauen. Bestell mir bitte so ein Set, Jenny.« Und an Sarah gewandt erklärte Dotty Mae: »Jenny verkauft Engelsgeschirr, so ähnlich wie auf Tupperpartys musst du dir vorstellen, aber es ist viel gemütlicher.«
»Sie sollten sich besser beeilen«, sagte Raylene zu Sarah. »Um neun überreicht Moe Ihnen den Stadtschlüssel, und jetzt ist es schon halb.«
»Ja, ja.« Sarah eilte die Stufen hinauf und zog im Laufen ihren Zimmerschlüssel aus der Tasche.
So gern sie sich auch vor dieser Verpflichtung gedrückt hätte, es schien ihr keine andere Wahl zu bleiben. Seufzend zog sie ihre Sachen aus und stieg unter die Dusche.
Fünfzehn Minuten später hatte sie eine schwarze Hose und einen roten Strickpullover angezogen. Sie legte ein bisschen Make-up auf, dann schnappte sie sich ihren Mantel, öffnete die Tür und stieß auf Dotty Mae und Raylene, die sich auf dem Gang herumdrückten.
Gemeinsam verließen sie das B&B. Draußen blieb Dotty Mae neben einem verblichenen VW Käfer aus den 1960ern stehen, der in der Kurve parkte, und schloss die Beifahrertür auf.
Raylene trat vor, legte den Vordersitz um und quetschte sich nach hinten. »Gäste sitzen vorne. Ich hätte meinen Cadillac genommen, aber der steht in der Werkstatt, und Dottys VW ist besser als Earls stinkender alter Pick-up.«
Sarah glitt auf den Beifahrersitz, während Dotty Mae zur Fahrerseite tappte. Die Frau war über achtzig!
»Darf sie überhaupt fahren?«, flüsterte Sarah Raylene besorgt zu.
»Lassen Sie sich nicht täuschen, nur weil sie so langsam ist, Dotty Mae ist immer noch auf Zack. Ich bin mir sicher, Ihre Großmutter Mia wäre genauso munter gewesen, wenn sie noch leben würde, Gott hab sie selig«, erklärte Raylene.
Dotty Mae stieg ein und ließ den Motor an. Der Käfer erwachte tuckernd zum Leben. »Nun sag schon, ist Travis ein guter Küsser? Gestern Abend sah es ganz danach aus.«
»Von wann ist dieser VW?«, lenkte Sarah ab.
»1967.«
»Ah, der Sommer der Liebe«, schwärmte Raylene. »Ich wünschte, ich könnte mich besser daran erinnern. Ich hab damals einfach zu viel Gras geraucht.«
»Ich habe gehört, er wäre ein guter Küsser«, beharrte Dotty Mae. »Schließlich war er ein ganz schöner Frauenschwarm, bevor er geheiratet hat und Vater geworden ist.«
Sarah ließ diese Bemerkung unkommentiert.
»Doch seit er das kleine Mädchen hat, hat er sich um hundertachtzig Grad gedreht«, erzählte Raylene. »Er hat sich so verändert. Travis ist immer völlig furchtlos gewesen. Ich erinnere mich noch daran, wie er einmal am 4. Juli einen dreifachen Salto von der alten Brücke gemacht hat, um all den schmachtenden Mädchen am Ufer zu imponieren.«
Auch Sarah erinnerte sich daran. Sie war eins von diesen Mädchen gewesen.
»Er hätte sich seinen verdammten Hals brechen können.« Raylene schnalzte mit der Zunge. »Aber jetzt versteht er, was es heißt, ein Elternteil zu sein. Man kann keine Dummheiten mehr machen, wenn ein anderer von einem abhängig ist.«
»Auf gewisse Art und Weise könnte man sagen, dass Jazzy ihm das Leben gerettet hat. Ganz besonders, wenn man bedenkt, was mit Travis’ Vater passiert ist.«
Sarah hätte gern gefragt, was mit Travis’ Vater passiert war, aber sie tat es nicht. Was interessierte sie das schon? Es ging sie nichts an, und sie wollte den Klatsch und Tratsch nicht noch befeuern.
»Was für eine Schande, dass du damals nicht alt genug für Travis warst und er bereits Crystal in Schwierigkeiten gebracht hatte«, fuhr Dotty Mae fort. »Die Leute scheinen sich heutzutage nicht mehr so zu verlieben wie du dich in Travis. Es braucht ganz schön Mut, so in eine Hochzeit hineinzuplatzen, wie du es getan hast. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.«
»Ich war da«, erklärte Raylene. »Das war schon ein Ding.«
Das war es offenbar tatsächlich, denn sonst würden sie nicht neun Jahre später noch davon reden. Lasst es gut sein, das ist doch Schnee von gestern. Sarah unterdrückte ein Seufzen.
Doch Raylene ließ nicht locker. »Ich habe noch nie eine so von Herzen kommende Liebeserklärung gehört. Selbst ich habe feuchte Augen bekommen, und jeder weiß, dass ich nicht schnell in Tränen ausbreche. Du warst so verletzlich, Sarah – ich darf doch Du sagen? –, mit diesem Rentiergeweih und dem Glöckchen-Pullunder.«
Bitte, lieber Gott, lass mich auf der Stelle sterben.
»Ähm, ist das nicht ein Stoppschild?« Sarah deutete auf das Stoppzeichen, an dem Dotty Mae mit ungebremster Geschwindigkeit vorbeizischte.
»Der Stadtrat hat vor, es zu entfernen«, winkte Dotty Mae ab.
Sarah stieß die angehaltene Luft aus. »Doch solange es nicht weg ist, sollten Sie das Schild besser beachten, nur für den Fall, dass andere Autofahrer davon ausgehen, dass Sie stehen bleiben.«
»Das hab ich noch gar nicht bedacht«, sagte Dotty Mae nachdenklich und bog um die Ecke auf einen Parkplatz, auf dem ein Parkwächter die Wagen einwies.
Sie kamen gerade noch rechtzeitig auf dem Stadtplatz an; Bürgermeister Moe alias Charles Dickens eröffnete gerade die für diesen Tag geplanten Festivitäten. Alles war festlich dekoriert, egal, wohin man blickte. Sämtliche Stände waren mit roten Bändern und Schleifen geschmückt, kunterbunte Girlanden aus Metallic-Papier umrahmten die Schaufenster. Endlose blinkende Lichterketten hingen in den umstehenden Bäumen – Eichen, Pekannussbäume, Ulmen, Zedern –, nichts war von der überschäumenden Festtagsstimmung verschont geblieben. Die unbarmherzige Fröhlichkeit ging Sarah auf die Nerven, und sie war erstaunt, dass so viele Leute auf dem Rasen vor dem Rathaus standen. Worauf warteten die alle?
Moe entdeckte Sarah und winkte sie zu sich auf die Bühne. Die Highschool-Band spielte »Deck the Halls«, und mit viel Tamtam erklomm Sarah die Stufen und stellte sich neben den Bürgermeister ans Mikrofon.
Dieser hielt eine Rede über Das magische Weihnachtsplätzchen, wie wunderbar es sei, wenn Wünsche in Erfüllung gingen, und dass Sarahs Leistung die Stadt sehr stolz mache. Die Menge jubelte. Der Bürgermeister überreichte ihr den Stadtschlüssel.
Die Bürger und Bürgerinnen von Twilight taten ihr Bestes, damit sie sich nicht nur willkommen, sondern als etwas ganz Besonderes fühlte. Jeder andere hätte sich vermutlich geehrt und geschmeichelt gefühlt, aber Sarah … nun, das war das Merkwürdige: Sie fühlte so gut wie gar nichts. Das alles passierte Sadie Cool, nicht ihr.
Ihr Alter Ego trat nach vorn, nahm den Schlüssel mit einem Lächeln entgegen und hielt sogar eine kleine, improvisierte Dankesrede. Sie wünschte, Benny wäre hier. Er hätte die gegensätzlichen Gefühle in ihr verstanden. Warum konnte sie die Anerkennung, die Komplimente nicht annehmen?
Doch sie kannte bereits die Antwort auf diese Frage: Es lag daran, dass sie rein zufällig in diese Karriere hineingestolpert war. Sie hatte einfach Glück gehabt, aber genau so lief es im Verlagswesen. Es war ein wenig wie Lotteriespielen: Schreib ein Buch, schick es raus, drück die Daumen und hoffe, dass du eine Sternschnuppe siehst, damit du einen Wunsch frei hast. Fast immer stehst du am Ende mit einem wertlosen Lottoschein da, aber sie hatte gleich beim ersten Versuch den Jackpot geknackt. Was nicht unbedingt bedeutete, dass sie Talent hatte und all die Aufmerksamkeit verdient war. Und genau deshalb kam sie sich vor wie eine Betrügerin. Jeder konnte ein Los kaufen, Roulette spielen, die Würfel rollen lassen. Ihre tückische Schreibblockade verstärkte diesen Eindruck nur. Was, wenn sie wirklich eine Eintagsfliege war?
Der große, symbolische, vergoldete Schlüssel lag kühl in ihren Händen.
»Den hast du verdient«, sagte eine Stimme, und einen Augenblick meinte sie, sie käme aus ihrem Kopf. Abgesehen davon, dass es eine männliche Stimme war, begleitet von einem würzigen Hauch Eau de Cologne.
Sarahs Kopf fuhr herum, und sie begegnete den grauen, tröstlichen Augen des Weihnachtsmanns. Travis war unbemerkt hinter ihr auf die Bühne gekommen.
Woher hatte er gewusst, welche Zweifel ihr durch den Kopf gingen? Es war ja fast so, als hätte er übermenschliche Kräfte und könnte ihr direkt ins Gehirn blicken! Verflixt, wie konnte ein Mann nur so sexy in einem Weihnachtsmannkostüm aussehen? Die Band spielte »Santa Claus is Coming to Town«, und Bürgermeister Moe streckte die Arme aus, um ihr von der Bühne zu helfen. Jetzt stand der Weihnachtsmann im Rampenlicht.
Dotty Mae und Raylene begleiteten Sarah zu ihren Verpflichtungen als ehrenamtliche Bürgermeisterin. Um halb zehn machte sie den ersten Spatenstich für die Grundsteinlegung des Büchereianbaus, in dem die neue Kinderbuchabteilung untergebracht werden sollte. Als die Bibliotheksleiterin ihr mitteilte, der Stadtrat habe dafür gestimmt, ihn den Sadie-Cool-Flügel zu nennen, war Sarah sprachlos. Das hatte sie nicht erwartet. Es berührte sie und jagte ihr gleichzeitig eine Riesenangst ein. Offenbar hielten diese Leute sie hier für eine viel größere Nummer, als sie in Wirklichkeit war. Sie hegten bestimmte Erwartungen, und sie war sich nicht sicher, ob sie diesen gerecht werden konnte oder überhaupt wollte.
Um zehn saß sie in der Jury für einen Kostümwettbewerb und um elf auf einer Matratze, die beim traditionellen viktorianischen Bettenrennen von stattlichen Feuerwehrmännern geschoben wurde. Um zwölf ging sie mit den Damen von Twilight zum Mittagessen im Velvet and Lace Tea Room an der Orchid Street, zwei Blocks in südlicher Richtung vom Stadtplatz entfernt. Für sie als eingefleischter introvertierter Mensch war so viel Kontakt an einem einzigen Tag mehr als genug. Mit anderen Leuten zusammen zu sein, raubte ihr die Energie. Sie brauchte Zeit für sich, doch die würde sie nicht bekommen. Nicht heute.
Um halb zwei brachten Raylene und Dotty Mae sie zum Sweetheart Park, um den Liebesbaum für die Weihnachtszeit zum Wunschbaum umzudekorieren. Als ehrenamtliche Bürgermeisterin hatte Sarah den ersten Engel an den Baum zu hängen.
Man erklärte ihr, dass der Wunschbaum dazu diente, die Wünsche benachteiligter, sozial schwächer gestellter oder schwer kranker Kinder aus Hood County zu erfüllen. Der Baum wurde mit Engelsschmuck behängt, der mit den Namen und Wunschzetteln einheimischer Kinder versehen war. Bis Weihnachten würden großzügige Gönner die Engel vom Baum nehmen und anonym dafür sorgen, dass der Wunsch des jeweiligen Kindes wahr wurde.
Der Sweetheart Park hatte sich in den vergangenen neun Jahren ganz und gar nicht verändert. Im Dezember war er aufs Prächtigste geschmückt, überall waren weihnachtliche Dekorationen aufgebaut, vom Weihnachtsmann mit seinem Rentier über Frosty den Schneemann bis hin zu einer aufwändigen Krippe.
Ein Weg aus Kopfsteinpflaster führte durch den Park zu verschiedenen langen Holzstegen, die sich über einen kleinen Nebenfluss des Brazos River spannten, der in den Lake Twilight mündete. In der Mitte des Parks befand sich ein Springbrunnen mit der Betonstatue zweier Liebender in Wildwest-Kleidung, in einen innigen Kuss vertieft. Es ging das Gerücht, wenn man Pennies in das Becken warf, würde man mit seiner Highschool-Liebe wiedervereint. Sarah fragte sich unwillkürlich, was mit Mauerblümchen wie ihr passierte, die nie eine Highschool-Liebe gehabt hatten.
Wie sah es mit einer unerwiderten Liebe aus? Zählte diese auch?
Vermutlich nicht. So oder so, sie würde keinen Penny für diesen albernen Mythos verschwenden.
Der Liebesbaum selbst war ein zweihundert Jahre alter Pekannussbaum mit dicken, schützenden Ästen. Im vergangenen Jahrhundert waren Hunderte von Namen in seinen Stamm geschnitzt worden. Die beiden ältesten gehörten den ursprünglichen Liebenden, die angeblich die Stadt Twilight begründet hatten. Jon liebt Rebekka war 1874 eingeritzt worden; mittlerweile waren die Buchstaben so verwittert, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Viele Liebespaare waren ihrem Beispiel gefolgt und hatten sich im Stamm des Pekannussbaums verewigt, doch irgendwann in den 1960er-Jahren hatte ein Botaniker gewarnt, dass die ganzen Schnitzereien den Baum umbringen würden, also war ein weißer Zaun mit einem Schild drum herum errichtet worden, das die Leute eindringlich ermahnte, den Liebesbaum nicht länger zu verunstalten.
In einem für sie untypischen Akt der Rebellion hatte Sarah die Mahnung ignoriert und tatsächlich selbst etwas in seine Rinde geschnitzt. Als sie den Baum jetzt wiedersah, fiel ihr alles wieder ein. An Silvester – sie war damals vierzehn gewesen – war sie mitten in der Nacht aus Grams Haus geschlüpft, bewaffnet mit einer Stiftlampe, einem Taschenmesser und einer ausziehbaren Leiter. Es gab keine andere Entschuldigung für ihr Benehmen als die, dass sie unter dem Zauber des Schicksalsplätzchens stand.
Sie schloss kurz die Augen, als sie daran dachte, wie sie die Leiter ausgezogen und an den Baum gelehnt hatte. Sie war die Sprossen hinaufgeklettert, hatte nach einer freien Stelle Ausschau gehalten und sorgfältig Sarah liebt Travis für immer eingeritzt. Bis zu diesem Augenblick hatte sie es verdrängt. Jetzt fragte sie sich, ob Travis ihr Werk jemals entdeckt hatte. Sie wünschte sich, sie könnte die Zeit zurückdrehen, sich selbst in ihren liebeskranken Teenager-Hintern treten und laut rufen: Schluss damit!
Eine Gruppe von Damen und Herren in viktorianischer Kleidung erwartete sie. Zwei Leitern waren bereits unterhalb der kahlen Äste aufgestellt, dazwischen stand ein großer Pappkarton, der überquoll vor Engelsschmuck. Die Gruppe begrüßte sie nach Dickens-Manier.
Wenn sie nicht so besorgt gewesen wäre, dass jemand die Sarah liebt Travis für immer-Schnitzerei entdecken könnte, hätte sie sich von ihrer Fantasie davontreiben lassen und sich ganz dem Rhythmus ihrer so vornehmen Sprache angepasst. Stattdessen lächelte sie einfach und versuchte, nicht allzu viel zu sagen, da sie die Sache hinter sich bringen und so schnell wie möglich wieder verschwinden wollte.
»Darf ich Sie zum Liebesbaum geleiten, Miss Collier?«, fragte ein Mann mit ruhiger, leiser Stimme.
Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer hinter ihr stand. Natürlich musste der Weihnachtsmann beim Schmücken des Wunschbaums zugegen sein. Sie drehte sich um, darum bemüht, gelassen zu bleiben. Was ihr ziemlich schwerfiel, da sie an kaum etwas anderes denken konnte als an den Kuss, den er ihr unter dem Mistelzweig gegeben hatte.
Verdammtes Weihnachten!
Er reichte ihr den Arm.
Was blieb ihr anderes übrig, als sich bei ihm einzuhaken? Sie legte ihre Hand um seine Ellbeuge, und er führte sie zu einer der beiden Leitern. Zwei Männer sprangen herbei, um ihr die Leiter zu halten, eine Frau, die wie Miss Havisham aus Große Erwartungen in ein zerlumptes Brautkleid gekleidet war und nur einen Schuh trug, griff in den Pappkarton und zog einen rotwangigen Engel hervor, den sie ihr reichte. Auf den Flügeln stand in großen Goldbuchstaben der Name Ashley Duncan; das zusammengerollte Blatt Papier in seinen Händen war Ashleys Wunschzettel. Fäustlinge (blau), einen Mantel Größe 122, eine Bratz-Puppe, dass Daddy an Weihnachten nach Hause kommt.
Sarah schnappte nach Luft und fragte sich, wer Ashleys Vater sein mochte. Dotty Mae und Raylene hatten ihr erzählt, dass die Väter mehrerer Kinder im Gefängnis saßen, während andere als Soldaten im Mittleren Osten stationiert waren. Im Grunde war das egal. Tatsache war, dass Ashley der Vater fehlte.
»Und jetzt wird die gefeierte Schriftstellerin Miss Sadie Cool den ersten Schmuck der diesjährigen Weihnacht an den Wunschbaum hängen«, verkündete Miss Havisham den im Park versammelten Zuschauern.
Leicht verdutzt stellte Sarah fest, wie viele Leute zusammengekommen waren. Glücklicherweise hatte es den Anschein, dass die meiste Aufmerksamkeit auf den Weihnachtsmann gerichtet war, der mit den Kindern scherzte und so tat, als würde er dicke Zuckerstangen hinter ihren Ohren hervorzaubern. Travis hatte eine so natürliche Art, mit Kindern umzugehen. Der Mann strahlte eine Unbefangenheit aus, die die Leute anzog. Sie selbst eingeschlossen.
Hör auf, an ihn zu denken. Steig die Leiter hoch, häng den Engel in den Baum und bring das Ganze hinter dich.
Sie hielt den Engelsschmuck fest umklammert und fing an, die Leiter auf der einen Seite des Baums emporzuklettern; Santa Claus nahm die andere, sodass die Sicht zwischen ihnen durch den Stamm des alten Baumes versperrt war.
Bis sie oben an einer Astgabel angekommen waren. Plötzlich blickte sie in Travis’ Augen. Ungefähr gleichzeitig stellte sie fest, dass ihre Teenager-Schnitzerei direkt zwischen ihnen war.
Bitte lass ihn nicht runterschauen.
Er schaute runter.
Sie sah, worauf sein Blick fiel.
Genau darauf, worauf er nicht fallen sollte, nämlich direkt auf den superalbernen Liebesschwur, den sie in einem bedauerlichen Moment jugendlicher, hormongesteuerter Verwirrung in die Rinde geritzt hatte.
Der Weihnachtsmann verzog hinter seinem Bart die Lippen.
Schau weg, schau einfach weg und tu so, als hättest du nicht bemerkt, dass er es gesehen hat.
Sarah blickte zur Seite, aber sie war nicht schnell genug. Travis hob den Kopf, und sein Blick traf ihren, doch sie konzentrierte sich schnell auf eine andere Inschrift. David liebt Debbie, stand da. Tja, so sollte eine richtige Schnitzerei in einem Liebesbaum wohl aussehen: ein junger Mann, der seine Liebe zu einem Mädchen bekannte, und nicht umgekehrt.
»Hm«, sagte Travis.
Sie würde nicht darauf eingehen, ihn keines weiteren Blickes würdigen. Auf gar keinen Fall. Eifrig sah sie sich nach der perfekten Stelle für den Engelsschmuck um.
»Sieh dir das mal an!« Travis sprach so leise, dass nur sie ihn hören konnte.
Beiß nicht auf den Köder an.
»Das ist ja seltsam«, sagte er.
Halt einfach die Klappe!
Sarah gab es auf, nach der perfekten Stelle Ausschau zu halten und hängte den Engelsschmuck einfach an irgendein dünnes Zweiglein vor ihr. »Geschafft!«, rief sie den beiden Männern zu, die die Leiter für sie hielten. »Ich komme jetzt runter.«
»Aber meine Liebe«, sagte Miss Havisham, die, den Saum ihres mottenzerfressenen Brautkleids in einer Hand, das Gewicht auf den Fuß mit dem Schuh verlagert hatte und mehr als nur eine leichte Ähnlichkeit mit Helena Bonham Carter aufwies. »Sie fangen doch gerade erst an.«
Sarah senkte den Kopf und sah, dass einer der Männer einen weiteren Engel zu ihr hinaufreichte.
»Wir haben noch zwei weitere von der Sorte.« Mit einer überschwänglichen Geste deutete Miss Havisham auf den großen Pappkarton.
Zur gleichen Zeit sagte Travis: »Davon habe ich ja gar nichts gewusst.«
Sarah nahm dem Mann den Engel ab und hängte ihn an einen Ast, dann griff sie nach dem nächsten. Reagier nicht darauf.
»Sarah liebt Travis für immer«, las er. »Wann hast du das denn geschrieben?«
Stell dich dumm.
»Hm?« Konnte er nicht einfach damit aufhören?
Sein selbstgefälliges Grinsen hatte so viel Watt wie der Xenon-Scheinwerfer am Hotel Luxor in Las Vegas. »Das ist gleich hier in den Baumstamm geritzt.«
Sie funkelte ihn an. »Glaubst du, ich bin die einzige Sarah in der Stadt? Du warst damals ein wahrer Herzensbrecher. Ich wette, es gibt eine ganze Schar von Sarahs, die auf diesen Baum geklettert sein und ihre unsterbliche Liebe zu dir verewigt haben könnten.«
»Tja.« Er schmunzelte.
»Warum grinst du so?«
»Ich stelle mir vor, wie eine ganze Schar von Sarahs auf diesen Baum klettert und einvernehmlich anfängt zu schnitzen.« Er gluckste.
»Häng einfach ein paar Engel auf und lass uns das hinter uns bringen.«
»Warst du auch in dieser gewaltigen Menge, die sich eines Nachts unter dem Liebesbaum zusammengefunden hat?«, fragte er unschuldig. »Alle in der Absicht, mit einem Taschenmesser meinen Namen in die Rinde zu ritzen?«
»Na schön, ich war’s. Als ich jung und dumm war und mir von einem hübschen Gesicht den Kopf habe verdrehen lassen, habe ich das Verbot missachtet und den Liebesbaum verunstaltet. Bist du jetzt glücklich?«
Sein Glucksen verwandelte sich in ein herzhaftes Lachen. »Du liebst mich für immer«, zog er sie auf.
»Tu ich nicht.«
»He, das steht hier, dann muss es doch auch der Wahrheit entsprechen.«
»Die Dinge ändern sich.«
»Willst du mir erzählen, dass nichts für immer ist?«
»Richtig.«
»Oh, da bin ich aber enttäuscht. Als Nächstes erzählst du mir noch, dass es keinen Weihnachtsmann gibt.«
»Bitte reib mir das jetzt nicht unter die Nase.«
»Was denn?« Er klang verwundert. »Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Ich habe dich nur geneckt, Sarah.«
»Du hast mich nicht in Verlegenheit gebracht. Ich habe mir selbst ein Armutszeugnis ausgestellt, aber Vergangenheit ist Vergangenheit, und ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich unsere Namen in die Rinde geritzt habe.«
»Ich finde das süß«, sagte er, »obwohl ich nicht weiß, wie ich reagiere, wenn Jazzy in dieses verrückte Alter kommt und den Namen von irgendeinem Kerl in dem Baum verewigt. Vielleicht kannst du bis dahin ein Buch über die Sorgen und Nöte von Teenagern schreiben, das ich ihr dann zu lesen gebe.«
Der verletzliche Ausdruck auf seinem Gesicht machte seine Neckereien wieder gut. Es war mit Sicherheit schwer, ein alleinerziehender Vater zu sein. Sie spürte, wie ihr Herz weich wurde. Die Stimmung zwischen ihnen veränderte sich, die Anspannung fiel von ihren Schultern ab. Sie hatte der Vergangenheit einen viel zu großen Stellenwert eingeräumt, hatte nicht bedacht, dass sie nicht mehr als ein Echozeichen auf Travis’ Radar gewesen war. Was eine Erleichterung und gleichzeitig eine kleine Enttäuschung war.
Die Männer unter ihr reichten ihnen weitere Engel hinauf, und Travis und sie hängten diese in die Zweige und Äste des Pekannussbaums. Rosa Engel und blaue Engel. Engel mit verschmitztem Lächeln und Engel mit Heiligenschein. Pausbackige Engel und dünne kleine Engelchen, die die Handflächen betend zusammengelegt hatten. Es war einer der letzten Engel, die Sarah entgegennahm. Fast alle Zweige waren jetzt geschmückt, und als sie nach einer freien Stelle suchte, fiel ihr Blick auf den Wunschzettel. Ganz unten auf der Wunschliste, unter den üblichen Dingen, stand in kindlicher Schrift: Ich wünsche mir eine Mommy, damit mein Daddy nicht allein sein muss, wenn ich sterbe.
Sarah hatte die Schrift schon einmal gesehen, und sie musste den Engel gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, wessen Name darauf stand, doch sie holte tief Luft und sah trotzdem nach.
Jazzy Walker.
Anstatt Jazzys Engel an den Baum zu hängen, steckte Sarah ihn in ihre Tasche. Sie wollte Jazzys heimlicher Weihnachtsmann sein. Natürlich konnte sie ihr den letzten Wunsch nicht erfüllen, aber sie würde dafür sorgen, dass das kleine Mädchen alles andere bekam, was es sich wünschte.
Ich wünsche mir eine Mommy, damit mein Daddy nicht allein sein muss, wenn ich sterbe.
Ihr Herz hämmerte. Sie blickte durch die Astgabel, doch Travis schien nichts bemerkt zu haben. Er war damit beschäftigt, einen weiteren Engel aufzuhängen. War Jazzy wirklich so krank? Wusste er, dass seine Tochter nicht damit rechnete, eine Zukunft zu haben? Er wirkte so glücklich hinter seinem weißen Bart, hatte ein breites Lächeln im Gesicht, und seine grauen Augen funkelten. Er hielt inne, fing ihren Blick auf und zwinkerte.
Oh, Travis. Sarah schaffte es nicht, seinem Blick standzuhalten. Mit schwerem Herzen schaute sie zur Seite. Die ganze Zeit über hatte sie sich Sorgen gemacht, wie es sein würde, wenn sie ihn wiedersah. Wie sie sich verhalten sollte, wie sie die erfolgreiche Sadie Cool geben und so tun sollte, als hätte die schmachvolle Blamage in der Vergangenheit nie stattgefunden.
Doch womit sie nicht gerechnet, was sie wie aus heiterem Himmel getroffen hatte, war die Feststellung, dass es hierbei gar nicht um sie ging. Travis war einfach ein alleinerziehender Vater mit einem kranken Kind, dem die Situation über den Kopf wuchs.
In dem Augenblick schloss Sarah Frieden mit ihrer geheimen Schmach. Letztlich interessierte sich niemand wirklich dafür, wie sie sich vor neun Jahren zum Narren gemacht hatte. Alles, was jetzt zählte, war Jazzy.
Und mithilfe dieser Erkenntnis gelang es Sarah, die Vergangenheit loszulassen und aus ihrer eigenen begrenzten Welt herauszutreten, die Augen zu öffnen für die wunderbaren Segnungen des gegenwärtigen Moments.