Kapitel elf

Langsam ging die Sonne im winterlichen See unter. Die scharfen gelben Kanten schoben sich unter einen verträumten Dunstschleier aus lilastichigem Blau, der genau dieselbe spektakuläre Farbe hatte wie Sarahs Augen und zunehmend die Grenze zwischen Ufer und Wasser verschwimmen ließ. Die nackten Zweige der in den Himmel ragenden Bäume verwischten, ebenso die Konturen der Festmacherboote im Hafenbecken. An jenem Abend beschleunigten ein feiner Nebel, der sich wie eine graue Decke über den See legte, und ein starker Wind den Einbruch der Abenddämmerung. Der Hafen war in ein milchiges orangerotes Licht getaucht.

Travis nahm den Moment in sich auf. Der Vater eines chronisch kranken Kindes zu sein hatte ihn gelehrt, den Augenblick zu genießen. Seine Lungen im Bruchteil einer Sekunde damit zu füllen, ihn so lange wie möglich auszukosten und seine Einzigartigkeit zu würdigen. Er liebte den Winter im Allgemeinen und vor allem die Vorweihnachtszeit. Doch dieses Jahr war etwas ganz Besonderes. Dieses Jahr war Jazzy zum ersten Mal seit vier langen Jahren nicht mehr Sklavin ihres Asthmas. Es war wahrhaftig ein Weihnachtswunder, eins, das er niemals vergessen würde.

Überraschenderweise stellte er fest, dass er sich wünschte, Sarah wäre bei ihm – ein Gefühl, das er sogleich zu unterdrücken versuchte. Es hatte keinen Sinn, sich etwas zu wünschen, das er – wie er sehr gut wusste – nicht haben konnte, trotzdem konnte er nicht aufhören, an sie zu denken.

Travis hätte gern gemeinsam mit ihr den Sonnenuntergang genossen, hätte sich gern an ihrer Gesellschaft erfreut, solange sie hier in Twilight war. Aber er musste an Jazzy denken. Er durfte das nicht tun. Er durfte nichts mit Sarah anfangen, wenn ihm von vornherein klar war, dass das mit ihnen keine Zukunft hatte. Sie hatte mehr verdient als ein vorübergehendes Techtelmechtel und er genauso. Mit flüchtigen Affären hatte er abgeschlossen. Er wusste, dass auf das vorübergehende Hochgefühl schon bald eine große Leere folgte. Nein, er war bereit für etwas Beständigeres in seinem Leben, und vielleicht war jetzt, da es Jazzy besser ging, wirklich der richtige Zeitpunkt dafür. Doch Sarah würde schon am Sonntag die Stadt verlassen. Die Zeit war zu kurz, um den Dingen ihren Lauf zu lassen, zu sehen, ob sich mehr daraus entwickelte.

Außerdem wusste er nicht so recht, wie er mit der starken sexuellen Anziehungskraft umgehen sollte, die sie auf ihn ausübte. Vor allem nicht, wenn man bedachte, was dem vorangegangen war. Damals hatte sie sich in ihn verliebt, doch er war zu alt für sie gewesen. Jetzt hatte er sich in sie verknallt, doch mittlerweile war sie eine Großstädterin, die viel zu cool war für einen einfachen Jungen vom Lande wie ihn.

Wieder holte er tief Luft, füllte seine Atemwege mit dem Duft des Sees und der Erinnerung an sie – geheimnisvolle Anmut, gepaart mit weiblicher Verführung. Allein der Gedanke an sie löste ein heißes, elektrisierendes Kribbeln von Kopf bis Fuß in ihm aus. Er rief sich ins Gedächtnis, was auf dem Spiel stand – er durfte seine Begierde nicht die Oberhand über seine Vernunft gewinnen lassen. Das war ihm schon einmal passiert. Überstürzte Lust konnte eine Menge Probleme verursachen.

Der Wind frischte auf, fegte übers Wasser und schickte ein ganzes Bataillon von weiß schäumenden Wellen ans Ufer. Es hatte eine Sturmwarnung für die örtlichen Seen und Wasserwege gegeben, sodass Travis nicht damit rechnete, irgendwelchen anderen Booten zu begegnen, als er sein Jagdaufseherboot durch die kabbeligen Wellen heimwärts lenkte. Seit er am See wohnte, nahm er das Boot mit nach Hause, wo er es an seinem privaten Anlegesteg befestigte.

Es gehörte zu seinem Job, bei schlechtem Wetter rauszufahren und nach Leuten Ausschau zu halten, die nicht umsichtig genug gewesen waren, den Wetterbericht zurate zu ziehen, bevor sie aufs Wasser hinausfuhren. Die Fischer in der Gegend kannten sich aus, aber es gab immer ein, zwei Touristen, die sich nichts sagen ließen.

Heute war er mehrere Stunden draußen gewesen, ohne eine Menschenseele zu Gesicht zu bekommen.

Wieder dachte er an Sarah, daran, wie er sie das erste Mal zum Angeln mitgenommen hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Er hatte es getan, um seiner Nachbarin Mia Martin einen Gefallen zu erweisen, die sich um ihn gekümmert hatte, nachdem seine eigene Mutter gestorben war, und auch, weil er Sarah mochte.

Sie war ein stilles, aber neugieriges Kind gewesen. Die Fragen, die sie stellte, waren klug und wohlüberlegt, zum Beispiel, warum Fische in kühlerem Wasser besser anbissen als bei Sommerhitze. Oder warum Sonnenbarsche tiefe, dicht bewachsene Stellen bevorzugten, während Welse trübes, flaches Wasser mochten. Wenn sie weiter mit ihm zum Angeln an den See gekommen wäre, hätte er noch einen richtigen Profi aus ihr gemacht. Sie hatte das Angeln fast ebenso geliebt wie er.

Der kalte Wind blies jetzt in Böen, zauste sein Haar und schnitt ihm in die Ohren. Er schloss den oberen Mantelknopf und fuhr schneller. Wie er sich darauf freute, nach Hause zu kommen und sich über den großen Eintopf herzumachen, der seit dem Morgen im Schongarer vor sich hin köchelte. Er liebte es, wenn das Haus nach Schulterbraten und deftigem Wurzelgemüse duftete. Er würde Jazzy von der Kinderfrau abholen, die nach der Schule auf sie aufpasste, bis er von der Arbeit kam.

Ach nein, Jazzy blieb über Nacht bei ihrer besten Freundin Andi. Obwohl er ein etwas ungutes Gefühl deswegen verspürte. Sie hatte die Nacht noch nie woanders verbracht außer bei seiner Tante Raylene. Der Gedanke, dass sie nicht bei ihm war, sollte sich ihr Gesundheitszustand plötzlich verschlechtern, gefiel ihm nicht, aber da sie seit fast zwei Monaten keinen Asthmaanfall mehr gehabt hatte, hatte er schließlich nachgegeben. Es fiel ihm schwer sie loszulassen, aber er wusste, dass sie ihren Horizont erweitern musste. Sie wirkte ohnehin sehr jung für ihr Alter.

Die Sonne war fast untergegangen, als er den mittleren Teil des Sees erreichte. Er war nur noch ein paar Minuten von zu Hause entfernt, und er richtete seinen Blick auf vertraute Orientierungspunkte wie den alten, abgestorbenen Baum, der dort drüben aus dem Wasser ragte. In der Ferne war das Knirschen der Maschinen im etwa eine Meile nördlich des Sees gelegenen Steinbruch zu vernehmen; Fledermäuse flatterten aus ihren unterirdischen Höhlen ins Abendlicht. Sein Magen knurrte voller Vorfreude auf den Eintopf. Er war so beschäftigt mit der schlichten Verheißung des bevorstehenden Tagesendes, dass er beinahe vergessen hätte, einen letzten Blick auf den See zu werfen, doch ein Kribbeln im Nacken ließ ihn den Kopf nach rechts drehen.

Zunächst sah er nichts außer Wasser und Himmel, die sich zu einem tiefen, majestätischen Blau vermischten, doch dann vernahm er den leisen Klang einer menschlichen Stimme, die in der zunehmenden Dämmerung um Hilfe rief. Die Haare auf seinen Armen stellten sich auf.

Er bremste das Boot ab, neigte den Kopf und blickte suchend übers Wasser. Dort, ein paar hundert Meter entfernt, entdeckte er sie. Eine Frau, die auf etwas kauerte, das aussah wie ein sinkendes Tretboot. Der Rumpf war schon fast komplett unter Wasser. Binnen Minuten, vielleicht Sekunden wäre es ganz untergegangen und die Frau mit ihm.

Aufgeregt riss er sein Boot herum und hielt direkt auf sie zu. Jetzt, da er sie entdeckt hatte, würde ihr nichts ernstlich Schlimmes zustoßen, mal abgesehen davon, dass sie nass werden würde. Doch er wollte gar nicht dran denken, was passiert wäre, hätte er nicht aus irgendeinem unerfindlichen Grund nach rechts geblickt.

Die Frau sah ihn und begann zu winken.

Als er näher kam, erkannte er das sinkende Tretboot als eins der sechs Boote des Merry Cherub, und als er sah, dass die Frau darauf lange, karamellfarbene Haare hatte, die zu einem Zopf geflochten waren, bekam er einen trockenen Mund.

Sarah?

Konnte das sein? Was um alles in der Welt hatte sie mitten im Dezember bei Anbruch der Dunkelheit in einem Tretboot auf dem See zu suchen?

Er war verärgert und gleichzeitig besorgt. Hatte sie die Sturmwarnung nicht gehört? Warum hatte Jenny sie nicht gewarnt? Sarah lebte in Manhattan. Dennoch: Sie war in ihrer Kindheit oft in Twilight gewesen, und sie hätte es besser wissen müssen.

Als er nur noch ein paar Meter von ihr entfernt war, stellte er den Motor ab, damit seine Heckwelle dem Tretboot nicht den Rest gab, und griff nach der Rettungsweste. Sie stand jetzt auf der Rückbank und versuchte, die Balance zu halten, das Wasser schwappte um ihre Knöchel. Er entschied sich gegen die Schwimmweste, da er hoffte, sie trocken in sein Boot zu bekommen, und griff stattdessen nach einem auf dem Boden liegenden Ruder.

»Sachte! Sachte!«, rief er. »Ich werde versuchen, so dicht zu dir zu rudern, dass du direkt in mein Boot steigen kannst.«

Sie nickte gefasst.

Wie zum Teufel konnte sie so ruhig bleiben, während sein Puls wie verrückt hämmerte, obwohl er jede Menge Erfahrung im Umgang mit Booten hatte? Vielleicht war sie sich der Gefahr, in die sie sich gebracht hatte, nicht voll bewusst. Am liebsten hätte er ihr zugebrüllt: Was zur Hölle hast du dir denn dabei gedacht?, doch als er die stille Furcht in ihren Augen sah, wusste er, was sie durchgemacht hatte. Gott sei Dank hatte sie keinen Schaden genommen. Sein Magen zog sich zusammen, als er daran dachte, was für einen Ausgang diese Situation hätte nehmen können.

Als er nah genug an sie herangekommen war, warf er das Ruder zurück ins Boot und streckte die Hand nach ihr aus.

Zentimeter um Zentimeter bewegte sie sich auf ihn zu, doch das Tretboot sank rasch immer tiefer. Erschrocken riss sie die Augen auf und streckte die Arme seitlich aus, um das Gleichgewicht zu halten. Mittlerweile stand ihr das Wasser bis zu den Waden.

»Komm, es ist ganz leicht.«

Sie zögerte, holte tief Luft und machte einen weiteren Schritt. Das Tretboot gab ein gurgelndes Geräusch von sich und ging endgültig unter. Wenn sie sich jetzt nicht in Bewegung setzte, würde sie von dem Strudel unter Wasser gezogen werden.

»Spring!«, befahl Travis. Sie zögerte. Er sah ihr in die Augen und untermauerte seine Worte mit einem durchdringenden, festen Blick. Komm schon, Liebes, du schaffst das. »Spring!«

Und Sarah sprang.

Er fing sie auf und hob sie ins Boot, während der See das Tretboot in eine wässrige Umarmung zog und verschluckte.

Die Wucht ihres Sprungs brachte ihn aus dem Gleichgewicht, sodass sie beide auf dem Boden seines Boots landeten. Das nasse Ruder drückte sich in seinen Rücken, und Sarah lag heftig atmend auf ihm.

Sie blickten einander tief in die Augen.

Sein Herz hämmerte. Seine Gedanken rasten. Jede Stelle seines Körpers, an der sie ihn berührte, war quicklebendig. So nah war er seit Ewigkeiten keiner Frau mehr gekommen.

Und in diesem Augenblick wusste Travis Walker, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckte.

»Ich hab dich, Liebes, du bist in Sicherheit«, murmelte Travis.

Liebes. Er hatte sie Liebes genannt. So viel hatte sie trotz ihres blanken Entsetzens mitbekommen.

»Travis«, flüsterte sie, immer noch unfähig zu glauben, dass er da war, dass er sie gerade noch rechtzeitig vor den eisigen Fluten gerettet hatte. Zugegeben, das braune Nutzboot mit dem frisierten Motor war nicht gerade ein hehres Ross, aber in diesem Augenblick sah er für sie aus wie ein Ritter in glänzender Rüstung. »Du bist gekommen, um mich zu retten«, stieß sie hervor.

Er lachte, aber nicht, um sich über sie lustig zu machen. »Das mag vielleicht so aussehen, aber eigentlich war ich auf dem Weg nach Hause. Wenn ich nicht zufällig nach rechts geschaut hätte, hätte ich dich womöglich gar nicht gesehen.«

»Wenn du mich nicht entdeckt hättest …« Den Rest des Satzes ließ sie unausgesprochen.

»Aber ich habe dich gesehen, und jetzt ist alles gut. Außerdem bist du hartgesotten, Sadie Cool.«

»Das würde ich nicht unbedingt behaupten. Ich komme mir so albern vor.«

»Die meisten Leute wären in einer solchen Situation vollkommen außer sich, und du machst dir Gedanken, weil du etwas Albernes getan hast.«

»Ich bin völlig von der Rolle«, gab sie mit klappernden Zähnen zu.

»Na dann, Hut ab! Auf die Hysterie mit Würde!«

Travis versuchte sie zu beruhigen, wobei sich seine Vorgehensweise in all den Jahren nicht geändert hatte: Er grinste und neckte die Leute, um sie wieder aufzubauen. Jetzt legte er einen Arm um sie und gab ihr Halt, während er mit der freien Hand nach einer Wolldecke griff, die zusammengefaltet auf der Sitzbank lag. Sie richteten sich auf, und er legte die Decke um sie, wobei er versehentlich ihre Brüste streifte.

Sie hörte, wie er nach Luft schnappte. Ihre Brustwarzen, die von der Kälte bereits schmerzhaft hart geworden waren, zogen sich noch mehr zusammen. Sarah setzte sich zusammengekauert auf eine Seite der Sitzbank und zitterte vor Kälte. Die Decke um ihre Schultern roch nach Pferden. Sie war verlegen und kam sich unglaublich dumm vor. Beinahe hätte sie sich umgebracht, nur weil ihr die soziale Kompetenz für ein gemütliches Beisammensein mit den Damen des Plätzchenclubs fehlte.

»Jetzt bringen wir dich erst mal ans Ufer. Halt dich fest, ich gebe Gas.« Das Boot hüpfte über die Wellen.

Sie kuschelte sich in die Decke und zog den Kopf ein. Ihre Zähne klapperten wie Kastagnetten.

Er stand am Steuerrad, seine dunklen Haare flatterten im Wind. Wie männlich er wirkte in seiner braunen Uniform und seinem dunklen Allwettermantel!

In ihrem Innern herrschte ein wildes Durcheinander aus Angst, Reue, Dankbarkeit, Scham und Freude darüber, am Leben zu sein, doch ein übermächtiges Gefühl überwog alles andere: eine unbändige Begierde, wie sie sie noch nie zuvor verspürt hatte. Sie blickte Travis an und erkannte dasselbe Gefühl in seinen Augen. Rasch senkte sie den Kopf und tat so, als würde sie sich vor dem Wind schützen.

Geschickt machte er das Boot an dem Anleger hinter seinem Haus fest und half ihr, auf den Holzsteg zu klettern. Dann zog er sie an sich, schützte sie mit seinem Körper vor dem Wind und brachte sie ins Haus.

Sobald sie eingetreten waren, ließ er sie los. »Ich lasse dir ein heißes Bad ein. Du musst sofort deine nassen Sachen ausziehen.«

Er verschwand im Badezimmer, und sie hörte, wie er den Wasserhahn aufdrehte. Langsam zog sie ihre durchweichten Klamotten aus. Das Haus duftete nach Eintopf. Sie schlang sich die Decke um den nackten Körper und blickte sich um. Einst hatten in diesem Wohnzimmer die dick gepolsterte Couch mit dem passenden Zweisitzer gestanden und Spitzengardinen die Fenster bedeckt. Auf dem Fußboden hatte ein beigefarbener Berberteppich gelegen. Jetzt war die Couch aus Leder, Jalousien hingen vor den Fenstern, und die Böden waren aus Hartholz. Die Blümchentapeten waren verschwunden und durch Raufaser in einem warmen Honigton ersetzt worden.

Neben dem Fenster stand ein Weihnachtsbaum mit einer bunten Lichterkette, handgemachtem Schmuck und Zuckerstangen, genau wie auf dem Bild in ihrem Buch. Das magische Weihnachtsplätzchen hatte Jazzy und Travis als Vorbild für ihren Baum gedient. Sie verspürte einen Kloß im Hals. War das eine Art Zeichen?

Jetzt interpretier da bloß nichts rein. Sie wussten ja nicht mal, dass du Sadie Cool bist.

Eines in dem Raum aber war noch genauso wie früher: das Bücherregal in der Ecke. Es hatte Gram gehört. Ihr Herz machte einen merkwürdigen kleinen Sprung, als sie quer durchs Zimmer darauf zuging und mit der Hand über das polierte Eichenholz fuhr.

Travis räusperte sich.

Sie zuckte zusammen und fuhr herum. Er stand direkt hinter ihr. Sie bückte sich, um ihre nassen Klamotten aufzuheben.

»Lass die Sachen ruhig liegen«, sagte er. »Ich werfe sie in die Waschmaschine und anschließend in den Trockner. Steig in die Badewanne und wärm dich auf. Ich hab dir meinen Bademantel an die Innenseite der Tür gehängt, den kannst du anziehen, bis deine Klamotten trocken sind.«

Das Badezimmer musste Jazzys sein. Die Wände waren leuchtend blau gestrichen, ein glitzerndes Fischernetz voller Seesterne, Schildkröten und Seeigel aus Plastik hing unter der Decke. Rund um den Spiegel, der aussah wie eine Schiffsluke, waren Bilder von Meerjungfrauen aufgeklebt. Der Duschvorhang war ebenfalls mit Meerjungfrauen bedruckt. Unweigerlich musste sie schmunzeln.

Sarah ließ die Decke fallen. Ihr Blick fiel auf ihren verunstalteten Oberkörper im Spiegel. Wie üblich wandte sie sich rasch ab, doch dann zwang sie sich, noch einmal ganz genau hinzusehen. Wie würde Travis ihren Körper betrachten?

Zaghaft strich sie mit der Hand über ihren Bauch und betastete den ungleichmäßigen Wulst der rötlichen Brandnarbe, die auf der rechten Seite ihres Körpers direkt unter dem Brustkorb begann, sich bis unter ihren Nabel zog und oben auf ihrer linken Hüfte endete. Die Haut dort war gerunzelt, gespannt und sah selbst nach drei Jahren noch erschreckend nach rohem Fleisch aus. Keine Bikinis für Sarah Collier. Niemals.

Jeder, der die Narbe zum ersten Mal sah, fühlte sich davon abgestoßen – zumindest Aidan hatte das getan.

Sarah befeuchtete die Lippen mit der Zungenspitze und dachte an den ersten Mann, mit dem sie nach dem Unfall zusammen gewesen war. Aidan Hartley. Groß, schlank, dunkelhaarig, introvertiert und genauso nüchtern wie Sarah. Er restaurierte seltene Bücher, und sie beide hatten sich für ausländische Filme interessiert. Sie hatte gedacht, sie würden perfekt zusammenpassen, auch wenn seine Küsse sie gleichgültig gelassen hatten.

Es war nicht so, dass sie ihn nicht vor der Narbe gewarnt hätte. Aidan hatte behauptet, es würde ihm nichts ausmachen. Doch als sie bei ihrem vierten Date miteinander rumgeknutscht hatten und er die Hand unter ihre Bluse gesteckt hatte, hatte er abrupt einen Gang zurückgeschaltet und ihr erklärt, es wäre schon spät und er müsse früh aufstehen. Bla, bla, bla. Dann hatte er eilig ihre Wohnung verlassen und sie nie wieder angerufen.

Aidan war der zweite Mann gewesen, der sie wegen der Narbe hatte fallen lassen.

Bei der Erinnerung verspürte sie einen Knoten im Magen. Sie ermahnte sich, sich von diesem Vollidioten nicht die Selbstachtung nehmen zu lassen, aber seit diesem Date hatte sie sich nicht mehr verabredet, und das lag nun schon über ein Jahr zurück.

Was war, wenn die Narbe Travis ebenfalls abstieß?

Aber weshalb machte sie sich deswegen eigentlich Sorgen? Schließlich war sie nicht hier, weil sie ein Date mit Travis hatte.

Nein, und trotzdem stand sie nackt in seinem Badezimmer.

Sarah verbannte die Gedanken aus ihrem Kopf und stieg in das heiße Badewasser. Eine Flasche Mr. Bubble stand auf dem Wannenrand. Sie lächelte. Er hatte ihr ein Schaumbad gemacht. Sie legte sich zurück und lehnte den Kopf an die Wand. Augenblicklich begann die Wärme ihre verspannten Muskeln zu lösen. Sie schloss die Augen und atmete ein paarmal tief und ruhig durch.

Es war ein seltsames Gefühl, hier in Grams Haus zu sein, das jetzt Travis gehörte. Und noch seltsamer war es, dass sie nackt war und nur durch eine dünne Wand von ihm getrennt. Sarah schluckte und öffnete abrupt die Augen. Schließlich war sie nicht in einem Spa, sondern wollte sich aufwärmen und den klammen Geruch des Sees loswerden.

Sie öffnete den Abfluss, sprang aus der Wanne und spülte sie aus. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, schlüpfte sie in Travis’ marineblauen Frotteebademantel und zog den Gürtel eng zusammen. Er duftete nach Blautanne und Sonnenschein. Typisch Travis.

Sie hatte keinen BH, kein Höschen, nicht mal Socken. All ihre Sachen waren in der Waschmaschine, aber er hatte ihr ein Paar ebenfalls marineblaue Hausschuhe hingestellt – offensichtlich seine eigenen, denn sie waren ihr vier Nummern zu groß. Sie steckte ihre Füße in die Hausschuhe, hängte das nasse Handtuch über den Handtuchwärmer und tappte in den Flur.

Zögernd blieb sie stehen und hielt mit der Hand den Bademantel am Hals fest zusammen. Sie schaute nach rechts und sah ihn auf dem mit einer Borte versehenen Teppich knien, wie er im Kamin eine kleine Flamme schürte.

Sarah konnte den Blick nicht von seinem prächtigen muskulösen Hintern in der braunen Arbeitshose abwenden, die an einem anderen Mann vermutlich alles andere als sexy ausgesehen hätte.

Travis drehte sich um und bemerkte, wohin sie starrte. Rasch wandte sie sich ab. Er grinste und stand auf. Ihr Puls hämmerte, ihr Mund wurde trocken, und sie spürte, wie ihr am ganzen Körper heiß wurde. Wer brauchte da noch ein Feuer? »Ähm.« Sie räusperte sich. »Wo ist Jazzy?«

»Sie übernachtet bei ihrer Freundin. Zum ersten Mal.«

»Bist du nervös?«

»Das kannst du wohl sagen.«

»Du bist ein großartiger Vater.«

Sein Grinsen wurde breiter. »Wer hätte das gedacht, hm? Der böse Bube Travis Walker stellt wegen einer kleinen Blondine sein ganzes Leben auf den Kopf.«

»Sie ist ein erstaunliches Kind.«

»Der Meinung bin ich auch, aber ich bin ja auch voreingenommen.«

Sie sah ihn jetzt direkt an. Hinter ihm loderte das Feuer auf und tauchte ihn in einen teuflisch orangefarbenen Schein. Seine Verwandlung von einem rebellischen Jugendlichen in einen verantwortungsvollen Vater war in der Tat beachtlich. Eine Locke fiel ihm verwegen über die Augenbraue und verriet ihr, dass er trotzdem nicht zu hundert Prozent gezähmt war.

Wasser tropfte aus ihrem Haar und perlte ihr kühl über die Schläfe. Sein Grinsen verschwand, und seine grauen Augen verdunkelten sich. Langsam ging er auf sie zu, der Hartholzboden knackte unter seinem Gewicht. Er streckte die Hand aus und berührte sie mit seinen schwieligen Fingerspitzen, die Augen fest auf sie gerichtet.

Sie rührte sich nicht von der Stelle, unfähig, sich zu bewegen, zu atmen.

Sanft strich er ihr das Wasser von der Haut. »Sarah …«, sagte er heiser, dann verstummte er und fuhr mit seinen Fingerknöcheln über ihre Wange.

In diesem Augenblick blieb die Welt für sie stehen. Sie hörte nicht länger das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims oder das Knacken des Feuerholzes, sah nichts anderes als diese wundervollen grauen Augen. Wie oft hatte sie von einem Moment wie diesem geträumt? Nur sie und Travis Walker, allein in einem Zimmer, und er begehrte sie, Sarah Collier.

Travis trat näher, senkte den Kopf, doch dann blieb er plötzlich stehen und betrachtete sie. Seine Hand lag noch auf ihrer Wange, sein Daumen strich über ihr Kinn. Ihr Herz fing so laut an zu klopfen, dass sie meinte, er müsse es hören.

»Seit ich dich unter dem Mistelzweig geküsst habe, kann ich an nichts anderes mehr denken, als dich zu berühren, dich in den Armen zu halten, mit dir zu schlafen«, murmelte er mit rauer Stimme.

»Das ist verrückt«, flüsterte sie, doch sie legte ihren Kopf in den Nacken und bot ihm ihren Hals dar. Das geht zu schnell, warnte eine Stimme in ihrem Innern, sie hatte ihm doch noch nicht mal von ihrer Narbe erzählt! Schließlich sollte er keinen Schock bekommen.

»Ja, das ist verrückt«, stimmte er ihr zu. »Aber du machst mich verrückt, Sarah. Ich will dich so sehr. Vielleicht zu sehr. Und ich weiß nur, dass ich so etwas seit einer Ewigkeit nicht mehr gespürt habe.«

Sie wollte ihm sagen, dass sie sich noch nie so gefühlt hatte: zum Äußersten entschlossen, voller Begierde und kopflos vor Verlangen.

»Bist du dir sicher, dass ich es bin, die du willst? Womöglich irrst du dich, und in Wirklichkeit …«

Seine Lippen berührten ihre und küssten sie dann so leidenschaftlich, dass sie jeden Protest vergaß. Dann löste er sich von ihr und sagte mit rauer Stimme: »Du bist es.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Weil ich nicht aufhören kann, an dich zu denken. Dein Duft; deine Art, dich zu bewegen; der kühle verschlossene Ausdruck in deinen Augen … An deinem Ankunftstag hat es geschneit. Weißt du, wie selten das in diesem Teil von Texas Anfang Dezember ist? Du hast so schön ausgesehen, wie du da auf dem Umzugswagen standest mit den Schneeflocken in deinen Haaren. Zum Teufel, wer weiß schon, ob die Schicksalsplätzchen nicht doch recht hatten? Vielleicht gibt es tatsächlich so etwas wie eine Bestimmung.«

Ihr Herz machte einen Satz, doch ihr Kopf wischte seine Vermutung beiseite. Sie glaubte nicht daran. Nicht mehr. »Ich bin wegen Jazzy nach Twilight zurückgekehrt.«

»Und Jazzy ist meine Tochter.«

»Genau. Noch ein Grund, warum das hier keine gute Idee ist.« Sie trat einen Schritt zurück, entzog sich seiner Umarmung und brachte noch mehr Abstand zwischen sie beide.

»Also gut«, sagte er. Seine grauen Augen schimmerten im Licht des Kaminfeuers. »Aber es ändert nichts an meinen Gefühlen. Ich will dich so sehr, dass ich kaum atmen kann.«

Er konnte nicht atmen? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal richtig Luft geholt hatte. Nicht mehr, seit sie dieses Haus betreten hatte, das einst ihr einziges richtiges Zuhause gewesen war, nicht mehr, seit er sie gerade noch rechtzeitig aus dem See gezogen hatte.

Wieder machte er einen Schritt auf sie zu, und sie legte ihm die Hände auf die Brust, um ihn aufzuhalten. Unter seinem blau karierten Flanellhemd war deutlich seine muskulöse Brust zu spüren. Ihre Hände schienen sich in Wachs zu verwandeln. Sie glitten um seinen Brustkorb herum auf seinen Rücken. Verdammt! Was tat sie da bloß?

»Sarah«, murmelte er.

Es gibt keine Vorsehung, es gibt kein Schicksal, es gibt keine Bestimmung.

Und trotzdem war sie hier.

Wenn das kein Schicksal war, was war es dann?