Kapitel achtzehn
Sarah und Travis setzten sich vor das große Fenster im Rinky-Tink, tranken aus Weihnachtsmanntassen heiße Schokolade mit dicker Sahnehaube und teilten sich einen kleinen Teller Schokosplitterkekse. Die Eisdiele war voller Touristen, und sie hatten Glück, dass sie diesen Fensterplatz bekamen, weil gerade jemand aufgestanden war. Sarah war immer noch mit der Frage beschäftigt, ob er sie dort draußen vor dem Weihnachtsbaum wirklich gefragt hatte, ob sie bei ihm einziehen wolle, oder ob sie sich das nur eingebildet hatte. Sie wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber die liebeskranke Fünfzehnjährige in ihr hatte bereits einen Kopfsprung vom Mount Everest gemacht.
Er hatte sein dunkles Haar aus der Stirn gekämmt, was ihm sehr gut stand, und seine kräftigen Finger schlossen sich um den Griff seiner Tasse. Sie dachte daran, wie sich diese Finger auf ihr angefühlt hatten, und ein Schauer lief ihr das Rückgrat hinunter.
»Nun«, sagte sie, »das ist schön. Du und ich und eine heiße Schokolade.«
Er grinste anzüglich. »Es wäre noch schöner, wenn wir allein wären und nicht in einer überfüllten Eisdiele.«
Sie hob ihre Tasse zum Mund, nahm einen kräftigen Schluck und spürte, wie die heiße Schokolade sie wärmte. Vielleicht war es aber auch der Ausdruck in seinen Augen, der dieses Gefühl der Wärme in ihr hervorrief. Sie knabberte an einem Plätzchen und versuchte, nicht zu viel hineinzuinterpretieren.
»Bevor wir über das sprechen, was ich da draußen gesagt habe« – er deutete mit dem Daumen in Richtung Weihnachtsbaum –, »möchte ich dir etwas schenken. Eigentlich wollte ich bis Weihnachten damit warten, aber jetzt scheint mir der Zeitpunkt passender.«
»Du hast ein Weihnachtsgeschenk für mich?«, fragte sie aufgeregt und gleichzeitig verlegen. »Ich habe noch nichts für dich besorgt.« Um ehrlich zu sein, hatte sie keinen blassen Schimmer, was sie ihm Angemessenes schenken sollte. Was für ein Geschenk konnte schon ausdrücken, was sie dachte? Wir haben miteinander geschlafen, ja, und du bist nicht wegen meiner Narbe ausgeflippt, aber ich habe trotzdem keine Ahnung, wohin zum Teufel das Ganze führen soll. Nun, sie würde es gleich herausfinden.
Er lehnte sich vor, griff nach seinem Mantel, den er über die Rückenlehne des leeren Stuhls an ihrem Tisch gehängt hatte, und zog ein Päckchen vorne aus der großen Pattentasche. Es war in glänzend grünes Papier gewickelt und mit einer silbernen Schleife verziert. Ihre Finger berührten sich, als er es ihr überreichte. Sie hob die Augen und begegnete seinem Blick.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Mach es auf.«
Unsicher zupfte sie an dem Silberband, dann öffnete sie das Geschenkpapier. Ein abgenutztes, gebundenes Exemplar von Die Zeitfalte kam zum Vorschein. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
»Es ist eine Erstausgabe«, erklärte Travis.
»Aber wie ist dir das denn gelungen? Ich habe dir doch erst am Freitagabend verraten, dass es mein Lieblingsbuch ist, und am Sonntagabend hast du schon eine Erstausgabe?«
»Expressdienst.«
»Das kostet doch ein Vermögen.«
»Ich wollte sichergehen, dass ich es noch vor Weihnachten bekomme.«
Behutsam öffnete sie das Buch und fuhr ehrfürchtig mit dem Finger über die Seiten.
Als sie aufsah, bemerkte sie, dass er nervös war. Er rutschte auf seinem Stuhl herum und beugte sich vor, seine Stimme war bloß ein kleines bisschen höher, aber sie kannte den Unterschied. Es war rührend.
»Es ist großartig«, sagte sie aufrichtig. »Es ist das allerschönste Geschenk, das mir je gemacht wurde.«
»Ich wollte dir etwas Besonderes schenken, das dich an uns erinnert, an mich und Jazzy«, sagte er.
Vorsichtig legte sie das Buch aus der Hand. »Und ich dachte, du hättest mich gerade gebeten, bei euch einzuziehen.«
Er griff sich in den Nacken und machte ein verlegenes Gesicht. »Das ist wohl nicht unbedingt so rübergekommen, wie ich es beabsichtigt hatte.«
»Ich würde sagen, dass du ganz schön forsch rangehst.«
»Nach dem, was zwischen uns im Blockhaus passiert ist, gehen wir ohnehin sehr forsch voran, aber ich darf nicht nur an mich denken. Jazzy und mich gibt’s nur im Paket, und sie sehnt sich so sehr nach einer Mutter … Ich darf … wir dürfen … nichts überstürzen.« Er streckte die Hand aus und legte sie auf ihre. »Wir müssen uns ganz sicher sein.«
Sarah war sich ganz und gar nicht sicher. Fest stand für sie nur, dass ihr Herz einen Satz machte, jedes Mal, wenn sie sich im selben Zimmer befand wie er. Das hatte es von jeher getan, und so würde es wohl auf ewig bleiben. Egal, was passierte. Doch er hatte recht. Das alles ging viel zu schnell. Sie beide waren äußerst verletzlich. Sie hatte Angst, daran zu glauben, dass Märchen wahr werden könnten, und Travis … nun Jazzy würde bei ihm immer an erster Stelle stehen, und sie verstand das. Wäre das anders, würde sie ihn sicher nicht so sehr lieben.
»Ich muss zurück nach New York«, sagte sie. »Am 1. Januar ist mein neues Buch fällig.«
»Und danach?« Er streichelte mit dem Daumen ihre Fingerknöchel.
»Ich könnte euch besuchen kommen.«
»Jazzy und ich könnten uns ein neues Plätzchen suchen und dir das Haus überlassen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich will, dass ihr bleibt. Es ist das einzige Zuhause, das Jazzy je kennengelernt hat.«
»Wir könnten umziehen. Das würde sie schon verkraften. Sie ist ein starkes Mädchen.«
»Das ist sie in der Tat.«
Gleichzeitig wandten sie den Kopf und blickten aus dem Fenster auf den Weihnachtsbaum vor dem Rathaus. Zwischen den Passanten konnten sie Jazzy erkennen, die mit ihrer Tante Raylene an einer Bude stand und Moosbeeren- und Popcorngirlanden auffädelte.
»Aber du denkst schon, dass sich etwas Tieferes zwischen uns entwickeln könnte? Etwas Dauerhaftes?«
Sarah hielt den Atem an. Sie hatte den Eindruck, sämtliche Kindheitsfantasien würden wahr. Warum konnte sie nicht einfach sagen: Ja, ja, ja, Travis Walker, ich liebe dich? Sie wünschte sich beinahe schmerzhaft, die Worte aussprechen zu können, aber ihre Angst, ihm ihr Herz zu schenken, war zu groß. Sie dachte an den Schmerz, den sie empfunden hatte, als sie fünfzehn gewesen war, und wusste, dass es diesmal um ein Hundertfaches schlimmer sein würde.
Im Grunde fürchtete sie, dass er nicht mehr so begeistert wäre, wenn er sie erst einmal näher kennengelernt hatte. Ihre Vorliebe, sich über längere Zeiträume ganz und gar in Bücher zu vertiefen, würde jemandem, der gerne unter Leuten war, sicher bald auf die Nerven gehen. Das Neue an ihrer Beziehung war aufregend, und auch wenn sich Gegensätze zunächst anzogen – wenn es darauf ankam, waren sie womöglich einfach zu verschieden.
Vielleicht sind diese Gegensätze aber auch genau das, was euch verbindet. Ihr ergänzt einander. Jeder zeigt dort Stärken, wo der andere Schwächen hat.
Sie betete, dass das tatsächlich der Fall wäre, doch sie brauchten Zeit, um das herauszufinden. Sie öffnete soeben den Mund, um ihm ihre Gedanken mitzuteilen, als Travis aufsprang, seinen Stuhl umstieß und »Verdammte Scheiße!« rief.
Er starrte aus dem Fenster, leichenblass und am ganzen Körper zitternd. Er sah aus, als hätte er soeben einen Elektroschock bekommen.
Sarah schlug die Hand vor den Mund und folgte seinem Blick, um zu sehen, was ihn so aus der Fassung gebracht hatte. »Was ist? Was ist los?«
»Crystal ist da«, sagte er, »und sie hat Jazzy.«
Travis stürmte aus der Eisdiele und merkte kaum, dass Sarah ihm folgte. Er hatte nur noch eins im Sinn: seine Tochter von seiner Exfrau fortzubringen.
Seit sie ihn verlassen hatte, hatte er Crystal nicht mehr gesehen. Er hatte die Scheidung eingereicht und das volle Sorgerecht für Jazzy erhalten, was sie nicht angefochten hatte. Unterhaltszahlungen hatte er keine von ihr entgegengenommen – er wollte ihr Geld nicht. Wissen, warum sie jetzt hier war, wollte er dagegen schon.
»Crystal«, blaffte er und ballte die Hände zu Fäusten.
Sie saß neben Jazzy in der Girlandenbude, seine Tante Raylene war nirgends zu sehen. Seine Exfrau und seine Tochter blickten auf, als er näher kam.
»Daddy!«, rief Jazzy. »Sieh mal! Es ist ein Weihnachtswunder! Ich habe um eine Mommy gebeten, und schau nur: Sie ist nach Hause gekommen!«
Auf einen Schlag war sein Zorn verraucht, die reine Freude auf dem Gesicht seiner Tochter hatte die Wut in ihm verpuffen lassen. Sie war glücklich, dass ihre Mutter wieder da war.
Crystal sah umwerfend aus mit ihren langen blonden Haaren, die ihr über die Schultern fielen, ihrem eng anliegenden roten Pullover und den ebenso engen Jeans. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sie für das schönste Mädchen gehalten, das ihm je begegnet war. Doch damals war er jung und dumm gewesen und hatte allein auf seine Triebe gehört, ohne zu realisieren, wie oberflächlich diese Schönheit war. Jetzt zog er Sarahs schlichte Eleganz Crystals Kriegsbemalung, dem toupierten Haar und den figurbetonten Klamotten vor.
»Was machst du hier?«, fragte er mit fester Stimme und kam über den Gehweg auf sie zu. Er hatte schon immer die tief sitzende Befürchtung gehegt, Crystal könne ihre Meinung bezüglich des Sorgerechts ändern und versuchen, ihm Jazzy wegzunehmen. Früher hatte er sogar Albträume deswegen gehabt. Jetzt kehrte alles wieder mit voller Wucht zurück.
Crystal hatte ihren Arm um Jazzys Stuhllehne gelegt. »Ich bin gekommen, um meine Tochter an Weihnachten zu besuchen. Ist das in Ordnung?«
Travis wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Zum Teufel nein, hätte er am liebsten gesagt, aber er wusste, dass er das nicht tun konnte. Also nickte er knapp.
»Kann sie bei uns bleiben, Daddy?«, fragte Jazzy. »Sie kann bei mir im Bett schlafen.«
»Kann ich dich unter vier Augen sprechen?«, wandte sich Travis an Crystal.
»Sicher.« Crystal stand auf und strich ihre Jeans glatt.
Er fasste sie am Ellbogen und führte sie hinter die Bude. »Na schön, raus mit der Sprache. Warum bist du wirklich hier? Wenn du Geld willst, muss ich dich enttäuschen. Ich bin völlig pleite.«
»Ich weiß.« Crystal hatte Mühe, ihm in die Augen zu sehen. »Ich habe gehört, dass du das Haus verkauft hast, um Jazzys Medikamente bezahlen zu können.«
»Wer hat dir das erzählt?«
Sie zuckte die Achseln. »Du kennst doch diese Stadt.«
»Klatsch und Tratsch verbreiten sich schnell«, sagte er sarkastisch. »Wenn du so viel über das weißt, was hier vor sich geht, wie kommt es dann, dass wir gerade jetzt von dir hören?«
Seine Exfrau zupfte an einem eingebildeten Fussel auf ihrem Pullover. Travis hätte schwören können, dass sie größere Brüste hatte. Hatte sie sich Implantate machen lassen in der Hoffnung, so ihre Musikkarriere vorantreiben zu können? Das hätte zu ihr gepasst.
»Ich habe mich geschämt«, sagte sie, »und ich dachte, ihr beide wärt besser ohne mich dran.« Jetzt setzte sie mal wieder auf die Mitleidsschiene, wie sie es so oft getan hatte, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
»Das waren wir auch«, bestätigte er, obwohl er wusste, dass das grausam war. Aber die Frau hatte ihn schließlich durch die Hölle getrieben.
»Ich bitte dich nur darum, ein wenig Zeit mit meiner Tochter verbringen zu dürfen.« Sie hob zwei Finger. »Das schwöre ich.«
Travis verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihr einen finsteren Blick zu.
Sie tat es ihm gleich, dann deutete sie mit dem Kinn in Jazzys Richtung. »Sie sieht wirklich gut aus. Keine Spur von Atemnot, obwohl sie draußen in der Nachtluft ist.«
»Das Medikament schlägt an.«
»Es ist sehr teuer, hab ich recht?«
»Zweitausendfünfhundert Dollar pro Injektion, und sie braucht alle zwei Wochen eine.«
»Die Versicherung kommt nicht dafür auf?«
»Nein, der Arzt hat es zulassungsüberschreitend verordnet.« Er erklärte ihr, was genau das für Jazzy und ihn bedeutete.
»Nun, dann muss sie es weiterhin nehmen.«
»Natürlich. Deshalb habe ich ja das Haus verkauft.«
»Aber ihr wohnt weiterhin dort?«
»Ich miete es von der neuen Besitzerin.«
»Oh.«
Sie standen einander gegenüber und schauten sich an, aber sie war eine Fremde für ihn, war es immer gewesen, wie er jetzt feststellte. Er hatte sie nie verstanden. Sie hatte sich verzweifelt danach gesehnt, berühmt zu sein. Er fragte sich, ob das immer noch so war.
»Wie läuft’s in Nashville?«, erkundigte er sich schließlich, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
»Ganz gut«, erwiderte sie.
»Irgendwelche Fortschritte bei deiner Karriere?«
»Ich habe ein paar Eisen im Feuer«, sagte sie, doch er wusste, dass sie log. Sie rieb sich dann immer den Nasenrücken.
»Wo arbeitest du?«
»Ich arbeite als Bedienung im Opryland Hotel.«
Langsam ging ihnen der Gesprächsstoff aus.
»Also«, sie holte tief Luft. »Kann ich die Feiertage bei euch verbringen?«
Er würde Nein sagen. Ja, er würde erlauben, dass sie Jazzy sah, aber er würde nicht zulassen, dass sie sich in seinem Haus einnistete. Das Recht hatte sie verwirkt, als sie Jazzy und ihn sitzen gelassen hatte.
»Daddy?«
Er drehte sich um und sah, dass Jazzy hinter ihm stand. »Ja, Liebes?«
»Bitte sag Ja, dass Mommy bei uns bleibt. Bitte, Daddy, bitte, bitte. Das wäre für mich das schönste Weihnachtsfest, das ich je erlebt habe.«
In dem Augenblick, in dem sie Crystal und Travis zusammen sah, waren Sarahs alte Ängste mit einem Schlag wieder da, und sie tat, was sie immer tat, wenn es in einer Beziehung kompliziert wurde: Sie zog sich zurück.
Die Erstausgabe von Die Zeitfalte, die Travis ihr geschenkt hatte, fest in der Hand, bahnte sie sich einen Weg über den Rathausrasen, eilte im Zickzack um die Feiernden herum in Richtung Merry Cherub.
Du empfindest nichts, du empfindest nichts, du empfindest nichts.
Doch sosehr sie sich das auch einredete, es half nichts gegen den Schmerz, der ihr fast das Herz zerriss. Zu spät. Sie hatte sich wieder bis über beide Ohren in Travis Walker verliebt, und gerade als sie bereit war, ihm das zu gestehen, tauchte mit der Pünktlichkeit einer Schweizer Uhr Crystal auf.
Sie kämpfte gegen die Tränen. Sie würde nicht weinen. Sie durfte nicht weinen. Sie zählte nicht zu denen, die ständig in Tränen ausbrachen. Doch die Tränen rollten ihr über die Wangen bis zum Kinn.
Wie sie es hasste, so tief für jemanden zu empfinden! Es war entsetzlich, eine wahre Qual, verliebt zu sein. All diese Gefühle, dabei war sie es doch gewohnt, Gefühle gar nicht erst zuzulassen! Im emotionalen Gleichgewicht zu bleiben, wie sie sich einredete. Wie konnte sie diesen Wall, der sie einst so schützend umgeben hatte, bloß wieder aufbauen?
Sie war ein Dummkopf, dass sie nach Twilight zurückgekehrt war. Sie hätte sich in den Hintern treten können.
Tränen verstopften ihre Nase. Hatte sie ein Taschentuch bei sich? Sie steckte die freie Hand in ihre Manteltasche, um danach zu suchen, doch statt auf ein Taschentuch stießen ihre Finger auf etwas anderes, etwas Hartes. Was war das? Sie zog es heraus.
Jazzys Engelsschmuck mit ihrer Wunschliste kam zum Vorschein. Der Klumpen in ihrem Hals wurde größer. Durch einen Schleier aus Tränen las sie den letzten Wunsch ganz unten auf der Liste der Kleinen.
Ich wünsche mir eine Mommy, damit mein Daddy nicht allein sein muss, wenn ich sterbe.
War sie tatsächlich so albern gewesen, sich insgeheim zu wünschen, sie könnte diese Mommy sein? Ihre Tränen flossen heißer, strömten ihr jetzt förmlich aus den Augen. Sarah konnte kaum sehen, wohin sie ging. Gleichzeitig beschleunigte sie ihre Schritte, um den fröhlichen Festlärm hinter sich zu lassen und in der Dunkelheit zu verschwinden.
»Sarah! Sarah!« Travis griff nach ihrem Ellbogen, wirbelte sie herum und zog sie in seine Arme.
»Nein.« Sie wehrte sich gegen seine Umarmung. »Lass mich los.«
Sofort gab er sie frei und trat zurück. Im sanften Verandalicht des Merry Cherub sah sie, dass er schwer atmete. Sie hielt den Blick gesenkt, wollte nicht, dass er ihre rot geränderten Augen und die tränenverschmierten Wangen sah.
»Du weinst.«
»Nein, das tue ich nicht.« Sie schniefte. »Ich habe eine Allergie. Vermutlich gegen den Weihnachtsbaum.«
Einen Augenblick standen sie da, ohne dass einer von ihnen den Mund aufmachte oder den anderen ansah, doch schließlich sagte Travis: »Ich hatte keine Ahnung, dass Crystal auftauchen würde.«
Sie glaubte ihm. Der schockierte Ausdruck auf seinem Gesicht, als er aus dem Fenster des Rinky-Tink geschaut und sie zusammen mit Jazzy gesehen hatte, war echt gewesen. Aber das war nicht der Punkt.
»Sprich mit mir«, bat er.
Sie zuckte die Achseln und drückte sich das Exemplar von Die Zeitfalte an die Brust. Sie hatte nicht mal Gelegenheit gehabt, sich bei ihm für das Geschenk zu bedanken. Jetzt schien nicht der richtige Zeitpunkt dafür zu sein. »Was soll ich sagen? Deine Exfrau ist zurück.«
»Na und? Was hat das mit dir und mir zu tun?«
Sie warf ihm einen raschen Blick zu. Er sah so elend aus, wie sie sich fühlte. »Travis, es gibt kein Du und Ich. Ja, vielleicht haben wir uns darum bemüht, aber noch ist nichts wirklich Ernstes daraus geworden. Besser, wir lassen es dabei bewenden …«
»So ein Unsinn!«
Sie blinzelte, trat einen Schritt zurück und steckte ihre Hand in die Tasche.
»Du benutzt Crystal als Ausrede, weil du Angst hast vor deinen Gefühlen!«
»Das stimmt nicht.« Sie schloss die Finger um Jazzys Engelsschmuck. Ein Mädchen brauchte seine Mutter. Selbst wenn diese eine lausige Mutter war. Sarah dachte an ihre eigene Mom und dass sie alles dafür getan hätte, um ein bisschen mehr Aufmerksamkeit von Helen zu bekommen. Wenn Crystal zurückgekehrt war, um ihr Verhalten wiedergutzumachen, dann sollte sie die Möglichkeit dazu bekommen, ohne dass Sarah ihr dabei im Weg stand. »Du musst Crystal eine Chance geben«, sagte sie daher.
»Das werde ich nicht tun.«
»Was, wenn sie sich wirklich verändert hat?«
»Das ist mir gleich, ich liebe sie nicht.«
»Du vielleicht nicht, aber Jazzy.«
»Was willst du damit sagen? Dass ich meine Exfrau zurücknehmen soll, obwohl ich sie nicht liebe und sie mich auch nicht, nur um Jazzys willen?« Er sah verdutzt aus.
»Ich will sagen, dass du es Jazzy schuldig bist, ihrer Mutter die Gelegenheit zu geben, Zeit mit ihr zu verbringen. Das wäre ein angemessenes, reifes Verhalten.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass du aufgibst, ohne uns eine Chance eingeräumt zu haben. Wir passen gut zusammen, Sarah, und das weißt du. Wenn wir zusammen sind, sind wir beide bessere Menschen.«
»Wie das?«
»Wenn ich bei dir bin, zeigst du mir, wie man unabhängig ist, objektiv und sachlich. Und wenn du bei mir bist, kommst du mehr aus dir heraus. Du gehst von deinem Kopf in deinen ganzen Körper.«
»Jetzt bring bitte nicht Sex ins Spiel.«
»Warum nicht?« Er trat näher. In seinen Augen flackerte Verlangen auf. »Ich habe noch nie zuvor so etwas empfunden wie mit dir, und ich habe den Eindruck, das gilt umgekehrt auch für dich.«
Sarah hatte schreckliche Angst, dass er versuchen würde, sie zu küssen. »Es gibt mehr im Leben als Sex.«
»Das stimmt, aber grandioser Sex ist das, was Glanz ins Leben bringt.«
»Du könntest es mit Flüssigwachs versuchen«, bemerkte sie nüchtern.
Er warf den Kopf zurück und lachte. »Genau das liebe ich an dir: deinen trockenen Humor.«
Lieben? Er hatte das Wort »lieben« verwendet.
Jetzt interpretier da mal nicht zu viel hinein.
Normalerweise hätte sie nüchtern, sachlich mit der Situation umgehen können, ein außenstehender Beobachter, der nicht wirklich involviert war. Doch all das hatte er zunichtegemacht. Er hatte wieder ihr fünfzehnjähriges Ich zum Vorschein gebracht, das alles an sich heranließ und noch nicht über die Fertigkeit verfügte, Gefühle tief im Innern zu vergraben. Verflixt!
Sie drückte den Engelsschmuck in ihrer Manteltasche und holte angespannt Luft. »Es ist das Beste so. Vielleicht haben wir vorübergehend das Beste in uns zum Vorschein gebracht, aber auf lange Sicht würden wir einander sicher auf die Nerven gehen.«
»Ist das alles? Du kapitulierst schon, bevor wir überhaupt begonnen haben?«
»Ich sage nur: Lass uns einen Gang zurückschalten. Du musst dich jetzt mit Jazzy und Crystal befassen.«
»Ballast«, sagte er. »Darum geht es. Ich bin zu viel Ballast für dich.«
»Du musst zugeben, dass dein Leben kompliziert ist.«
»Und du hast es gerne einfach.«
»Meine Bedürfnisse sind sehr schlicht«, sagte sie, nicht, weil das unbedingt der Wahrheit entsprach, sondern weil sie wollte, dass er sie in Ruhe ließ. Er war es seiner Tochter schuldig, Crystal eine zweite Chance zu geben, und das konnte er nicht, solange Sarah dazwischenstand.
»Wenn sie hierbleibt, wird sie versuchen, mich zurückzugewinnen«, sagte er. »Du hast keine Ahnung, wie verführerisch sie sein kann.«
»Doch, das kann ich mir vorstellen«, bemerkte Sarah trocken.
»Dann meinst du also tatsächlich das, was ich glaube? Dass es vorbei ist?« Er sah so verletzt aus, aber er konnte sich nicht ein Zehntel des Schmerzes ausmalen, den sie in ihrem Innern niederzukämpfen versuchte.
»Ich meine, wir sollten das Ganze auf Eis legen.«
»Für wie lange?«
»Ich weiß es nicht.« Warum machte er nicht einfach kehrt und ließ sie stehen?
Er trat zurück, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. »Verstehe. Ich schätze, ich habe mehr für dich empfunden als du für mich.«
Nein, das hast du ganz sicher nicht. Wenn du nur wüsstest, wie gerne ich mich in deine Arme werfen und dich anflehen würde, mich für immer zu lieben, wie schwer das hier für mich ist, würdest du nicht so hart urteilen.
»Vermutlich bedeutet das, dass du dein Versprechen, mit Jazzy an Heiligabend Schicksalsplätzchen zu backen, nicht einhalten wirst«, sagte er.
Ihr Magen verknotete sich. Wenn es um das kleine Mädchen ging, konnte sie einfach nicht Nein sagen. »Natürlich werde ich mit Jazzy Plätzchen backen, aber lass uns das im Merry Cherub machen und nicht bei euch zu Hause. Das gibt dir auch Zeit, dich mit Crystal auszusprechen.«
»Ich möchte keine Zeit mit Crystal verbringen, sondern mit dir.«
»Nun, du weißt doch, was die Rolling Stones dazu sagen, oder?«
»Hm?«
»You can’t always get what you want. Man bekommt eben nicht immer, was man möchte.«
Travis fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wirkte unglaublich verloren. »Sarah.«
»Vielen Dank übrigens.«
Er blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Wofür?«
Sie hielt das Buch hoch. »Für Die Zeitfalte.«
»Mit dem Buch wollte ich mich dafür bedanken, dass du meiner Tochter geholfen hast. Bücher haben Macht.«
»Ja«, bestätigte sie schlicht.
»Sonst möchtest du nichts sagen?«
»Ich bin nicht deine Exfrau. Ich suche nicht nach einer Entschuldigung dafür, dass ich dich verlasse. Stattdessen denke ich darüber nach, was das Beste für Jazzy ist.«
»Was ist mit dir und mir? Was ist das Beste für uns?«
»Du hast gesagt, Jazzy und dich gäbe es nur zusammen. Da kann man nicht einfach von dir und mir reden. Jazzy wird immer miteinbezogen werden müssen, und das weißt du.«
»Bist du dir sicher, dass es das ist?« Seine grauen Augen verdüsterten sich.
»Was machst du mir zum Vorwurf?«
Er hob die Hände. »He, wenn dir der Boden zu heiß wird, verstehe ich das, aber sei wenigstens so anständig, mir den wahren Grund zu nennen, und lass Jazzy da raus.«
Er hätte sie nicht mehr verletzen können, wenn er sie körperlich angegriffen hätte. Diese Entscheidung zu fällen war qualvoll für sie gewesen, und er tat so, als würde sie einfach davonlaufen, weil der Druck zu viel für sie wurde.
Hatte er womöglich recht?, flüsterte eine obskure Stimme in ihr.
Sie schüttelte den Kopf.
»Es war schön, dich wiederzusehen, Sarah. Ich wünsche dir ein schönes Leben.« Sarkasmus schwang in seiner Stimme mit. Er drehte sich um und trat von der Veranda.
Instinktiv wollte sie ihn zurückrufen, ihn bitten zu bleiben, doch sie widerstand dem Drang, auch wenn sie hart mit sich ringen musste. Sie war daran gewöhnt, ihren Gefühlen Widerstand zu leisten, auch wenn sie im Augenblick nicht wusste, wie sie weiterleben sollte.
Sie sah ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwand, und wusste, dass sie nie wieder einen Mann so lieben würde wie Travis, selbst wenn sie momentan nichts auf der Welt dazu hätte bringen können, ihm das zu gestehen.
Ein Tornado hätte Travis’ Herz nicht effektiver verwüsten können als Sarahs kühle Worte. Wie albern von ihm zu denken, ihre gemeinsame Liebesnacht hätte ihr etwas bedeutet! Da hatte er offenbar völlig danebengelegen.
Blindlings kehrte er zum Stadtplatz zurück, sein Puls raste. Okay, dann wollte Sarah also, dass er Crystal eine zweite Chance gab? Jazzy wollte, dass er Crystal eine zweite Chance gab? Na schön, dann würde er das eben tun. Er würde sie in seinem Haus wohnen und sie wieder an Jazzys Leben teilnehmen lassen, aber das wäre auch alles. Er hatte keine Gefühle mehr für seine Exfrau, die gehörten allesamt Sarah, und jetzt verließ auch sie ihn.
Was zum Teufel stimmte nicht mit ihm, dass er sich ständig die Frauen aussuchte, die seine Liebe nicht erwiderten? Was sagte das über ihn aus?
»Du verliebst dich einfach zu schnell, Walker«, knurrte er. »Es ist Zeit, sich eine Scheibe von Sarahs Haltung abzuschneiden. Hör auf, dein Herz auf der Zunge zu tragen, und erwarte vor allem nicht länger, die wahre Liebe zu finden.«
Irgendwie schaffte es Sarah, heil in ihr Zimmer zu gelangen. Sie zog sich aus, stellte sich unter die Dusche, föhnte sich die neue Frisur, die, so stellte sie jetzt fest, ein großer Fehler gewesen war, und zog ihren Schlafanzug an. Dann klappte sie ihr Notebook auf und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen in die Bettmitte, umgeben von lächelnden Engeln.
Sie öffnete die Datei mit dem Titel Der Weihnachtsengel und starrte auf den blinkenden Cursor. Sie war fast fertig. Das Einzige, was ihr noch fehlte, war der Schluss. Ein Weihnachtswunder, das ihrer Heldin Lily das Leben rettete.
Jemand klopfte an die Tür.
Oh verflixt, bitte lass es nicht Travis sein. Stünde er vor ihrer Tür, würde sie nicht anders können, als ihn ins Zimmer und ins Bett zu zerren.
Es klopfte erneut. Vielleicht war es Jenny Cantrell oder Travis’ Tante Raylene, womöglich auch eine der Damen aus dem Plätzchenclub, die gerade den neuesten Klatsch erfahren hatte.
Sie kletterte vom Bett, tappte zur Tür und spähte durch das Guckloch.
Es war nicht Travis. Es war auch nicht Jenny oder Raylene oder irgendein Mitglied des First Love Cookie Clubs.
Crystal Hunt, Travis’ Exfrau, stand vor der Tür.
Ihr Instinkt riet ihr, zurück ins Bett zu kriechen, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und sich taub zu stellen. Was zum Teufel wollte die Frau von ihr?
Klopf, klopf, klopf.
Poes Rabe fiel ihr ein, der an die Zimmertür tickte. Hau ab!
»Miss Cool«, rief Crystal. »Darf ich Sie sprechen?«
Seufzend öffnete Sarah die Tür, doch sie lächelte nicht. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Darf ich reinkommen?«
Sarah machte einen Schritt zur Seite und deutete auf den malvenfarbenen Zweisitzer mit Engelsmuster. Crystal trat über die Schwelle, durchquerte das Zimmer und ließ sich hineinfallen. Sarah schloss die Tür, doch sie blieb stehen.
»Sie sind es, nicht wahr?«, fragte Crystal. Sie hatte dick Wimperntusche aufgetragen und zu viel Rouge. Ihre Haut war blass, ihr platinblondes Haar spröde wie trockenes Gras. »Das Mädchen, das in unsere Hochzeit geplatzt ist.«
»Ja, das bin ich. Der Hochzeits-Crasher.«
»Sie lieben ihn immer noch.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Sarah zuckte die Achseln, was weder ein Eingeständnis noch ein Leugnen war.
»Das dachte ich mir.« Crystal nickte, als hätte Sarah ihr zugestimmt.
»Was wollen Sie?« Sarah machte sich nicht die Mühe, einen höflichen Ton anzuschlagen.
»Ich wollte Sie lediglich wissen lassen, dass ich nicht das Miststück bin, für das die ganze Stadt mich hält.« Sie steckte einen Fingernagel in den Mund und kaute an einem abstehenden Stückchen Nagelhaut. »Sie verurteilen mich. Das weiß ich. Mütter dürfen nicht davonlaufen und ihre Kinder im Stich lassen.«
»Warum haben Sie es dann getan?«
Crystal errötete und machte ein beschämtes Gesicht. »Ich hätte es nicht tun sollen, das weiß ich, aber ich bin mit Jasmines Krankheit einfach nicht zurechtgekommen. Ihr Zustand wurde immer schlechter und schlechter. Sie wissen nicht, was ich durchgemacht habe. Niemand weiß das.«
»Kann es etwas Schlimmeres geben als das, was Jazzy durchgemacht hat?« Sarah verschränkte die Arme vor der Brust. Warum war diese Frau hier? Erwartete sie etwa Mitleid von ihr?
»Travis war sehr gut zu mir, lustig. Wir hatten eine Menge Spaß.«
»Er ist ein guter Mann.«
Crystal nickte und biss weiter auf ihrer Nagelhaut. »Er hat mir geholfen, mich wieder zu fangen.«
Sarah spürte Zorn in sich aufsteigen; überrascht stellte sie fest, wie wütend sie auf diese Frau war, die sie überhaupt nicht kannte. Alles, was sie wusste, war, dass Crystal sowohl Travis als auch Jazzy zutiefst verletzt hatte. »Und das haben Sie ihm vergolten, indem Sie ihn verlassen haben, als er Sie am meisten brauchte.«
»Ich schätze, das habe ich verdient.« Crystal blinzelte. »Aber Sie wissen nicht, wie es ist, Tag für Tag dazusitzen und zuzusehen, wie Ihr Kind langsam stirbt.«
»Das ist richtig«, stimmte Sarah zu, »aber Travis weiß es.«
»Ich rede nicht nur von Jazzy.« Crystal beugte sich vor, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, und ließ den Kopf sinken.
Ihre Worte ließen Sarah stutzen. Die Frau wirkte so hilflos, am Boden zerstört. »Wie bitte?«
»Ich hatte schon einmal ein Kind. Vor Jazzy. Vor Travis.«
Sarah sagte nichts, wartete einfach ab, und dann sprudelte es nur so aus Crystal heraus. »Nur die wenigsten wissen davon. Ich lebte damals nicht in Twilight, und ich habe nie viel darüber gesprochen.« Sie holte zitternd Luft. »Ich habe es nicht mal über mich gebracht, Travis davon zu erzählen.«
Widerstrebend gestand sich Sarah ein, dass sie Mitleid mit dieser Frau empfand, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte. Doch es war unmöglich zu leugnen, wie gebrochen Crystal aussah. Woher sollte sie wissen, wie sie sich an Crystals Stelle verhalten hätte?
Crystal öffnete langsam den Mund, schloss ihn, dann öffnete sie ihn wieder. Sarah konnte ihr ansehen, wie schwer das Ganze für sie war. »Als ich siebzehn war, bin ich von meinem Boss im Chicken Shack schwanger geworden. Als ich ihm davon erzählte, hat er gesagt, er wolle nichts davon wissen, ich solle abtreiben lassen. Er war verheiratet und hatte bereits zwei kleine Kinder.« Crystal starrte ins Leere. »Aber ich wollte das Baby bekommen.«
Sie schwieg. Sarah wusste nicht, was sie sagen sollte, also schwieg sie ebenfalls.
Schließlich gab sich Crystal einen Ruck und fuhr mit monotoner Stimme fort: »Ich habe das Baby bekommen. Meine Eltern haben mich rausgeworfen. Es war schwer, aber das Baby war es wert. Ich habe den Jungen mehr geliebt als mein Leben. Er hatte dunkelbraune Augen und pechschwarzes Haar. Er hat genauso ausgesehen wie sein Daddy. Er hat mich in seine Ärmchen geschlossen, und sein Lächeln war wie der Sonnenschein. Er roch so gut, wie Baumwolllaken und Plüschhasen. Er war mein ganzer Stolz, meine ganze Freude.«
Crystal hielt inne und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, dann flüsterte sie: »Ich habe ihn Shiloh genannt. Shiloh James.«
Sarah verspürte einen Stich im Herzen.
Lass das nicht an dich heran. Lass das nicht an dich heran. Lass das nicht an dich heran.
Aber es war zu spät. Das Zusammensein mit Travis hatte ihre emotionalen Schutzmauern eingerissen. Sie konnte sich nicht länger gegen ihre Gefühle wehren.
Tränen liefen Crystal übers Gesicht. Sarah streckte die Hand aus und reichte Crystal die Schachtel mit den Taschentüchern von ihrem Nachttisch.
»Danke.« Crystal schniefte.
»Sie müssen nicht weitererzählen.«
»Nein, ich möchte, dass Sie es wissen, ich möchte, dass Sie mich verstehen.«
Sarah unterdrückte einen Seufzer. Sie wollte es gar nicht wissen.
»Shiloh und ich lebten in einer Sozialwohnung an einer Hauptstraße gegenüber einem Park. Er liebte es zu schaukeln. Immer, wenn ich ihm Anschwung gab, rief er: ›Höher, Mommy, höher.‹ Er war sehr klug, fand immer alles heraus. Als er ein Jahr alt war, betätigte er den Lichtschalter mit einem Besenstiel. Dann, kurz vor seinem zweiten Geburtstag …« Sie hielt inne, holte erneut tief Luft und wischte sich die Tränen ab. »Ich dachte, er wäre in seinem Bett. Ich hatte ihn zu einem Schläfchen hingelegt. Es war Frühling, und ich hatte die Fenster geöffnet. Ich schaute fern und legte Kleidungsstücke zusammen, als es plötzlich an die Tür klopfte. Ich öffnete. Draußen stand ein Polizist, und er hielt …« Crystal schluchzte, zögerte, dann sagte sie schließlich: »Er hielt Shilohs kleines blau gestreiftes Hemd mit den Hasen auf der Tasche in der Hand. Vorne war Blut drauf.«
Sarahs Puls pochte so heftig, dass sie ihn an ihren Schläfen spüren konnte. Sie wappnete sich gegen das, was sie nicht hören wollte.
Crystal war völlig aufgelöst. Zögernd streckte Sarah die Hand aus und legte sie der von Schluchzern geschüttelten Frau auf die Schulter. »Schsch.«
Lange war nichts zu hören außer Crystals Schluchzen, das von den Wänden widerhallte. Dann setzte sie sich auf und rieb sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab. »Ich war so dumm. Ich hatte sein Bettchen in die Nähe des Fensters gestellt, damit er hinausblicken konnte. Ich wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass er hinausklettern und versuchen könnte, über die viel befahrene Straße in den Park zu laufen.«
Vor ihrem inneren Auge konnte Sarah den kleinen schwarzhaarigen Jungen in dem blau gestreiften Hasenhemd sehen, der zu seinen geliebten Schaukeln wackelte und nichts von der drohenden Gefahr ahnte. Sie schlug die Hand aufs Herz. So etwas sollte keiner Mutter je passieren.
»Die Rettungssanitäter reanimierten ihn wieder und brachten ihn ins Krankenhaus, aber er hatte zu schwere Kopfverletzungen erlitten. Sie hängten ihn an ein Beatmungsgerät, doch sie konnten die Gehirnschwellung nicht stoppen. Drei Tage lang habe ich dagesessen und zugesehen, wie mein kleiner Junge um sein Leben kämpfte, dann haben sie mir gesagt, dass er hirntot sei.« Crystals Gesicht war eine Maske nackten Entsetzens. »Sie fragten mich, ob ich seine Organe spenden wolle, damit anderen Kindern ein Leben ermöglicht würde. Diese Aasgeier! Wollten meinen Kleinen bis auf die Knochen blank picken.«
Die arme Crystal war neunzehn gewesen und ganz allein. Keine Familie hatte hinter ihr gestanden, als sie ihr Kind hatte sterben sehen. Mitleid überkam Sarah bei dem Gedanken.
Wieder brach eine Welle der Trauer über Crystal herein, doch sie war so ausgelaugt, dass keine Tränen mehr kommen wollten und sie sich nur noch zitternd wiegte. »Aber … aber dann wurde mir klar, dass ich einer anderen Mutter nicht das Leid zufügen konnte, das ich selber erlitt, wenn doch die Möglichkeit bestand, ihr zu helfen. Also habe ich die Papiere unterschrieben, und sie haben die Geräte abgestellt. Mein süßer kleiner Junge. Verstehen Sie? Deshalb konnte ich nicht so starke Gefühle für Jazzy aufbringen. Ich durfte sie nicht so lieben, wie ich Shiloh geliebt hatte … es hätte mich umgebracht. Vor allem, nachdem sie krank geworden war. Ich konnte das nicht noch einmal durchmachen. Ich konnte es einfach nicht.« Crystal stieß einen langen, durchdringenden Klagelaut aus.
Sarah verlor die Kontrolle über sich. Sie brach in Tränen aus, legte die Arme um Crystal und tröstete sie, versprach ihr, dass alles wieder gut werde. Jazzy gehe es gut, jetzt da Crystal wieder da sei.
Und so schmerzhaft es auch für sie war, wusste Sarah doch ganz genau, was sie als Nächstes zu tun hatte.