Kapitel dreizehn
Travis betrachtete Sarah. Sie war völlig vertieft ins Lesen, und es hatte den Anschein, als ob nichts um sie herum existierte außer der inneren Welt, die sie geschaffen hatte. Ihre Augen leuchteten leidenschaftlich, und sie nahm die Stimmen ihrer Charaktere an, schlüpfte abwechselnd in jede ihrer Figuren hinein. Wenn sie Isabella, die Heldin ihres Buches, war, wurde ihre Stimme höher, näselnder, und ihre Augen weiteten sich. Wenn sie der Weihnachtsmann war, plumpste ihre Stimme in den Keller, sie machte die Schultern breit und lachte tief aus dem Bauch heraus. Die Kinder waren wie gebannt, gefangen im Zauber der Geschichte und der Art und Weise, wie Sarah sie vorlas.
Das war Sarahs Welt, und die einzige Verbindung, die er dazu hatte, war das Buch, das seine Tochter so liebte.
Den Rest der Zeit, wenn sie nicht in ihre fiktionale Welt eingetaucht war, war Sarah zurückhaltend und vorsichtig. Sein Vater war ganz ähnlich gewesen – still, in sich gekehrt, schwer zu durchschauen, schwer zugänglich. Er hatte Travis oft ein Gefühl von Einsamkeit vermittelt, selbst wenn sie sich im selben Zimmer aufhielten. Vielleicht war das einer der Gründe, warum er seine kleine Tochter mit Aufmerksamkeit überschüttete. Sein Vater hatte es oftmals mit Missbilligung betrachtet, wenn Travis seine Entscheidungen aus dem Bauch heraus gefällt hatte. War Sarah genauso? So rational wie Mr. Spock, wenn es um Gefühle ging?
Wollte er sich wirklich so sehr um sie bemühen? Mal abgesehen davon, dass er sie körperlich so heftig begehrte, dass es schon schmerzhaft war, waren da auch wieder diese Gefühle, wider jede Vernunft, aber übermächtig. Wie war es ihr gelungen, sie abzustellen und ihren Verstand die Oberhand gewinnen zu lassen? Was nutzte es ihm also, wenn er sie ansah und sein Gefühl ihm sagte, sie wären füreinander bestimmt? Es gab ein paar Dinge, die selbst die Liebe nicht richten konnte. Sein Blick glitt über seine Tochter. Er wusste das aus eigener Erfahrung.
Liebe.
Das Wort machte einen Stepptanz in seinem Kopf. Hatte er sich wirklich in Sarah Collier verliebt, oder verwechselte er die Dankbarkeit, die er wegen all dem empfand, das sie für seine Tochter getan hatte, mit Liebe? Vielleicht beruhte auch alles auf reiner Begierde. Weder Vorsehung noch Schicksal, sondern schlicht und einfach eine körperliche Anziehung, die er in dieser Heftigkeit noch nie zuvor verspürt hatte.
Genau in diesem Augenblick hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen, dann schaute sie schnell zur Seite, und Travis wusste, dass er dazu verdammt war, eine Frau zu lieben, die seine Liebe niemals so erwidern würde, wie er geliebt werden wollte.
Als Sarah wieder in Manhattan war, inmitten der hupenden Taxis, der erschlagenden Menschenmassen und der Gebäude, die so hoch waren, dass sie den Himmel verdüsterten, konnte sie nicht schreiben. Die Muse, die ihr in Twilight ruhig und gelassen auf der Schulter gesessen und ihr die Versatzstücke zu einer brillanten Geschichte ins Ohr geflüstert hatte, war verschwunden. Das Einzige, woran sie denken konnte, waren Travis und Jazzy und alles, was sie zurückgelassen hatte.
»Nun komm schon, du musst mal raus aus diesem Apartment. Du brauchst Sonnenschein«, sagte Benny zu Sarah an dem Dienstag, nachdem sie aus Twilight zurückgekehrt war. »Lass uns einen Spaziergang im Central Park machen.«
Sarah blieb mit vorgebeugten Schultern auf ihrem Stuhl sitzen, den Blick auf den Computerbildschirm gerichtet. Sie dehnte die Ärmel ihres Pullovers so weit, dass sie bis über ihre Fingerspitzen reichten, und starrte auf den blinkenden Cursor. Wo war die Woge der Inspiration geblieben, die in Twilight über sie hereingebrochen war? Wie konnte sie einfach verschwunden sein?
»Hallo.« Benny klopfte auf ihren Kirschholzcouchtisch. »Ist jemand zu Hause?«
»Ich kann nicht denken. Mein Kopf ist total leer.«
»Das liegt bloß am Jetlag. Du bist doch erst seit zwei Tagen wieder hier. Und jetzt steh aus diesem Stuhl auf.«
»Ein Spaziergang wird die Dinge nicht besser machen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich bin heute schon dreimal spazieren gegangen.«
»Wollen wir im Rockefeller Center Schlittschuh laufen?«
»Vergiss es. Bei dieser Blockade hilft gar nichts.«
Er nahm ihren Mantel von dem Haken neben der Tür und hielt ihn für sie auf. »Ich denke nicht, dass du eine Schreibblockade hast.«
Sarah stöhnte und schlurfte zu ihm, um die Hände in die Ärmel zu stecken. »Bitte zitier jetzt nicht wieder Stephen King.«
Benny öffnete die Tür und schob sie hinaus in den Gang. »Ich wollte nicht King zitieren. Ich wollte sagen, dass du Heimweh hast.«
»Twilight ist nicht meine Heimat«, protestierte sie, als er ihren Ellbogen nahm und sie zu den Fahrstühlen geleitete.
»Geografisch betrachtet vielleicht nicht, aber in deinem Herzen.« Sie stiegen ein, und er drückte auf den Knopf fürs Erdgeschoss.
»Wie in aller Welt kommst du auf diese Idee?«
»Wenn du von diesem Städtchen sprichst, hellt sich dein ganzes Gesicht auf. Die Frauen vom Plätzchenclub, der Stadtplatz, Jazzy.«
»Tut es nicht.«
Sie gingen durch die Eingangshalle und traten hinaus in die kalte Dezemberluft. »Die übrige Zeit bläst du Trübsal, seufzt und starrst andauernd gedankenverloren aus dem Fenster, was nicht gerade von Vorteil ist, wenn man an einem Buch arbeitet. Du hast entweder Heimweh oder Liebeskummer.« Benny zögerte und kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen. »Du hast dich doch nicht etwa verliebt, während du weg warst, oder?«
Sarah ging schneller in Richtung Central Park und ließ Benny ein Stück weit hinter sich.
»Du hast dich verliebt!«, rief Benny aus und beeilte sich, zu ihr aufzuschließen.
»Hab ich nicht.«
»Jetzt sag nicht, es ist der Typ, in den du schon auf der Highschool verknallt warst.«
Sie nickte automatisch und versuchte, den Kloß herunterzuschlucken, der sich in ihrer Kehle staute, dann erzählte sie Benny, dass sich Jazzy als Travis’ Tochter entpuppt hatte und die Damen des Plätzchenclubs die Kupplerinnen gespielt hatten. Um sie herum pulsierte New York vor Energie, und unweigerlich verglich sie diesen stimulierenden Ort mit der behäbigen Gangart in Twilight. Die eine Stadt brachte einen auf Touren, die andere dagegen drosselte das Tempo.
»Wow.«
»Wow. Da hast du recht.«
»Was ist passiert?«
Sarah zuckte die Achseln. »Gar nichts.«
»Nun lüg mich nicht an. Irgendwas muss doch passiert sein.«
»Na schön …« Sarah holte tief Luft. »Wir hätten fast miteinander geschlafen.«
»Und was hat euch davon abgehalten?«
Sie tastete nach ihrem Bauch, fühlte die Wülste ihrer Brandnarbe durch ihre Kleidung. »Meine Ängste, seine Tochter, unsere Zweifel. Ach ja, und dass er mich in Unterwäsche auf die Veranda geschubst hat.« Ihr Atem kam in eisigen Wölkchen, und sie kuschelte sich tiefer in ihren Mantel.
»Wie bitte?«
Sarah winkte ab, dann steckte sie die Hände in die Taschen. »Es war nicht so schlimm, wie es klingt. Seine Tochter kam überraschend nach Hause, und er wollte nicht, dass sie uns zusammen sieht.«
»Er schämt sich deinetwegen?«
»Nein, ganz und gar nicht. Er will nur nicht, dass Jazzy zu viel in mich hineininterpretiert.«
»Und warum?«
»Weil … ach, du kennst mich, Benny. Ich hatte noch nie eine richtige romantische Beziehung. Ich weiß nicht, wie so etwas geht. Und obwohl durch das Zusammensein mit Travis ein Traum wahr geworden ist, kann ich meinen Gefühlen nicht trauen. Sind sie echt? Oder Wunschdenken? Ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin, ihn anders als durch die rosarote Brille meiner Jugend zu betrachten.«
»Du hast Angst, deinen eigenen Gefühlen zu trauen.«
»So ungefähr.«
»Und jetzt hast du wieder eine Schreibblockade.«
Sie nickte.
»Ich habe gelesen, was du mir geschickt hast«, sagte er. »Das ist auch der eigentliche Grund, weshalb ich vorbeigekommen bin. Ich wollte dir sagen, dass mich die Story absolut umgehauen hat. Sie ist so viel leidenschaftlicher als Das magische Weihnachtsplätzchen. Aber drei Viertel einer Geschichte bringen es nicht. Du musst schon ein hammermäßiges Ende parat haben.«
»Ich weiß.« Sie stöhnte. »Aber ich bin auf eine Mauer gestoßen, die ich offenbar nicht umgehen kann.«
»Falsch.«
»Was meinst du?«
»Du kannst die Mauer umgehen, du willst nur nicht.«
»Wie bitte?«
»Wenn du willst, dass deine Inspiration wiederkommt, musst du an den Ort zurückkehren, an dem sie dich das erste Mal überfallen hat.«
»Nach Twilight?«
»Nach Twilight«, bestätigte Benny.
Bei ihm klang das so einfach. Steig in den Flieger und kehr zurück.
Mit Sicherheit würde Travis denken, hinter ihrer Rückkehr stecke mehr als die Notwendigkeit, ihre Muse wiederzufinden. Was die Frage aufwarf, ob ihre schwindende Kreativität ihrem hinterhältigen Unterbewusstsein nicht schlicht und einfach die Möglichkeit bot, sie zurück nach Twilight zu locken.
»Ich will dir keine Daumenschrauben anlegen«, sagte Benny, während eine Gruppe von Joggern an ihnen vorbeizog. »Aber ich habe heute mit Hal zu Mittag gegessen.«
Sie blieb stehen und schaute ihn an. Der Geruch nach Schnee lag in der Luft, und irgendwo röstete jemand Maronen. »Der Ausdruck auf deinem Gesicht gefällt mir nicht.«
»Ich habe auch keine guten Nachrichten.«
Ein Frösteln durchlief sie, das nichts mit der frostigen Luft zu tun hatte. »Und?«
»Er sagt, wenn du dich dieses Mal nicht an deine Zeitvorgabe hältst, wird er deinen Vertrag auflösen, und du wirst die Viertelmillion Vorschuss zurückzahlen müssen. Wenn das tatsächlich passiert, ist es mit deiner Karriere als Autorin vorbei.«
Travis versuchte sich einzureden, es sei vermutlich das Beste, dass Sarah nach New York zurückgekehrt sei. Sie war nicht bereit für eine ernsthafte Beziehung, und wegen Jazzy konnte er sich nichts Flüchtiges erlauben.
Wem versuchte er etwas vorzumachen? Er wollte keine flüchtige Beziehung mit Sarah. Es war ihm ernst mit ihr, während sie hin- und hergerissen zu sein schien.
Wie hatte das bloß passieren können? Wie hatte es dazu kommen können, dass er verrückt nach einer Frau war, die ganz offensichtlich Bindungsängste hatte, wenn er doch genug mit seinen eigenen Angelegenheiten und der Sorge um seine Tochter beschäftigt war?
An dem Mittwoch nach Sarahs Abreise war er mit seinem Boot draußen auf dem See und plagte sich mit diesen Fragen, als plötzlich sein Handy vibrierte. Auf dem Display sah er die Nummer von Jazzys Schule. Ihm brach der kalte Schweiß aus.
»Ja«, bellte er ins Telefon.
»Mr. Walker, hier spricht die Krankenschwester der Jon Grant Elementary School.«
Die Furcht stach ihm wie ein Stachel ins Rückgrat. »Was gibt’s?«
»Ich möchte Sie nicht beunruhigen, Sir. Es ist nur so, dass Jazzy heute Morgen das erste Mal, seit sie solche Fortschritte gemacht hat, leichte Probleme mit dem Atmen hat. Es ist längst nicht so schlimm wie sonst, aber ich dachte, Sie würden lieber gleich etwas dagegen unternehmen wollen.«
»Ich bin sofort da.«
Zwanzig Minuten später standen Jazzy und er in Dr. Adams Untersuchungszimmer. Wie die Schwester gesagt hatte, war Jazzys Pfeifen tatsächlich nicht so schlimm wie in der Vergangenheit, doch in Anbetracht ihrer so positiven Reaktion auf das neue Medikament beunruhigte ihn diese Entwicklung. Ließ die Wirkung etwa nach? Waren sie am Ende genauso weit wie zuvor?
Jazzy saß, den Kopf auf der Brust, auf dem Untersuchungstisch, während Dr. Adams ihre Lungen mit dem Stethoskop abhörte. Als er fertig war, rief er die Schwester herein, die Jazzy beim Anziehen helfen sollte, und führte Travis in sein Sprechzimmer.
»Seit Jazzy das neue Medikament bekommt, hat sich ihr Gesundheitszustand beträchtlich verbessert«, erklärte Dr. Adams. »Sie hat unsere Erwartungen weit übertroffen.«
»Ja schon, aber was hat jetzt diese Kurzatmigkeit zu bedeuten?«
»Es hat den Anschein, als würde die Wirkung der letzten Injektion diesmal nicht drei Wochen anhalten.«
Travis wartete. Er hatte sich so davor gescheut zu hoffen, dass dieses Medikament tatsächlich ein für alle Mal eine Lösung für Jazzys gesundheitliche Probleme bot. Er hatte schon so oft Hoffnung geschöpft, und jedes Mal war sie wieder zunichte gemacht worden. In den beiden vergangenen Monaten war seine Tochter so energiegeladen, rotwangig und lebensfroh wie nie zuvor gewesen. Aber heute hatte sie einen Rückschritt gemacht. Er ballte die Fäuste.
Dr. Adams legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Die Dosis reicht für diesen Zeitraum nicht aus. Bitte bedenken Sie, dass wir die Dosis noch bemessen … wir müssen experimentieren. Ich denke, wir sollten die Zeit zwischen den Injektionen auf zwei Wochen verkürzen.«
Travis schluckte. »Das sind fünftausend Dollar im Monat anstatt alle sechs Wochen. Damit steigen die Kosten von vierzigtausend auf sechzigtausend Dollar pro Jahr.«
Der Doktor nickte.
»Ich muss ehrlich zu Ihnen sein. Die heutige Injektion kostet mich den Rest meiner Ersparnisse. Das einzige Geld, über das ich noch verfüge, ist das, was ich für Jazzys College zurückgelegt habe, und das reicht auch nur für weitere sechs Wochen.«
»Jetzt, da wir um die Wirkung des Medikaments wissen, werden wir einen Weg finden müssen, dass Sie dafür aufkommen können, bis die Gesundheitsbehörde das Mittel für die Behandlung von Patienten mit schwerem Asthma freigibt.«
»Wie lange könnte das dauern?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Dr. Adams ausweichend. »Es kämen auf jeden Fall mehrere Injektionen auf Sie zu, und selbstverständlich werde ich auf mein Honorar verzichten …«
»Das müssen Sie nicht«, widersprach Travis. »Ich werde das Geld schon zusammenbringen.«
Verzweifelt überlegte er, wie er fünftausend Dollar im Monat zusammenbringen sollte. Er liebte seinen Job als Jagdaufseher. Es war die einzige Arbeit, die er jemals hatte machen wollen, aber die Bezahlung, auch wenn sie völlig ausreichte, um ihm und Jazzy ein angenehmes Leben zu ermöglichen, konnte Kosten wie diese nicht decken. Er wusste, dass die Stadt ihm unter die Arme greifen, Spenden sammeln würde. Die Leute hier hatten ihn unterstützt, seit Crystal sie beide verlassen hatte, aber er wollte sie nicht um Gelder bitten. Es kam ihm vor, als würde er betteln gehen, obwohl – so wurde ihm jetzt klar – er auch dafür nicht zu stolz wäre. Nicht wenn es um Jazzy ging. Er wusste, dass seine Tante Raylene ihm helfen würde, doch Earl und sie hatten einen herben Schlag während der Wirtschaftskrise hinnehmen müssen, weil sie den größten Teil ihres Vermögens in Immobilien angelegt hatten.
Das kleine Haus war das Einzige, was er noch zu Geld machen konnte. Wenn er die Gesundheit seiner Tochter erhalten wollte, führte kein Weg daran vorbei, es zu verkaufen.
Sarah starrte den leeren Bildschirm an und schwitzte förmlich Blut, um die Worte wie von Zauberhand auf die Seite zu bringen. Seit Benny sich verabschiedet hatte, war sie wie erstarrt. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte, und wusste nicht genau, welcher Tag heute war. Es war schrecklich.
Gar nicht so sehr, dass sie den Vorschuss würde zurückzahlen müssen. Sie hatte ohnehin erst die Hälfte davon erhalten, und das Geld, das sie für die Filmrechte bekommen hatte, war auch noch da. Zudem verfügte sie über einen kleinen Treuhandfonds, den ihre Eltern für sie eingerichtet hatten, und die Tantiemen für Das magische Weihnachtsplätzchen flossen auch noch.
Was wirklich schrecklich war und sie nahezu lähmte vor Angst, war der Gedanke, dass diese Schreibblockade sie ihre Karriere kosten könnte. Mal abgesehen davon, dass ihr der rasche Erfolg ohnehin ein wenig wie ein Schwindel vorgekommen war. Doch schlussendlich war schreiben das Einzige, was sie je hatte tun wollen, alles, was sie wirklich konnte. Wenn sie keine Schriftstellerin war, was war sie dann?
Etwas, das ihre Großmutter einst zu ihr gesagt hatte, kam ihr in den Sinn. »Deine Mutter hat nie begriffen, dass eine berufliche Karriere immer nur eine Karriere ist. Sie definiert nicht das, was du bist.«
Sarah stieß einen Seufzer aus. Das musste man sich mal vorstellen: Ihre Mutter und sie hatten etwas gemeinsam.
Das Telefon klingelte, doch sie schaffte es nicht, vom Stuhl aufzustehen und dranzugehen. Sie blieb einfach sitzen, starrte auf den leeren Bildschirm und lauschte auf das Klingeln.
Der Anrufbeantworter sprang an.
»Sarah, bist du da? Wenn du da bist, geh bitte dran. Hier spricht Travis.«
Sie schoss aus ihrem Stuhl und schnappte sich das Telefon. Dann zögerte sie. Freude und Misstrauen prallten aufeinander; Freude, dass er sie angerufen hatte, kämpfte mit ihrer Vernunft. Angst kämpfte mit Hoffnung.
Sei auf der Hut.
»Ich weiß, dass ich nicht die Person bin, mit der du unbedingt reden möchtest, aber bitte geh dran. Es geht um Jazzy.«
Sarah nahm den Hörer von der Ladestation. »Was ist los?«
»Keine Panik«, sagte er. »Mit Jazzy ist alles in Ordnung, aber wir brauchen deine Hilfe.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, also hörte sie nur schweigend zu.
Travis atmete hörbar ein. »Jazzy hatte einen leichten Asthmaschub, und als ich sie zum Arzt gebracht habe, hat er mir mitgeteilt, sie brauche zweimal pro Monat eine Injektion. Damit ich mir das leisten kann, muss ich das Haus deiner Großmutter verkaufen.« Er zögerte. »Ich dachte, ich biete es dir zuerst zum Kauf an, weil ich weiß, wie sehr du diesen Ort liebst, und wenn du möchtest, kann ich es mieten und für dich in Schuss halten.«
Sie konnte ihn vor sich sehen, wie er dastand, die Kappe in der Hand, seine Jagdaufsehermarke an der Brust, und genauso aussah wie das, was er war: ein liebender Vater in Not. Und Sarah wollte sein Angebot liebend gern annehmen. Sie war sprachlos gewesen, als ihre Eltern ihr mitgeteilt hatten, dass Grams Haus verkauft sei. Sprachlos und zornig. Nun hatte sie die Chance, es zurückzubekommen.
Doch zu welchem Preis? Wenn sie das Haus kaufte, wäre Travis ihr Mieter, was ihre Beziehung zueinander verändern würde. Sie würde alle Zügel in der Hand halten.
Was für eine Beziehung? Sie hatten keine Beziehung miteinander. Er war jemand, den sie aus ihrer Kindheit kannte, das war alles. Jemand, der sie wie eine kleine Schwester behandelt hatte. Warum sollte sie nicht seine Vermieterin werden? Besser sie als jemand anders.
Diesmal konnte sie ihre Emotionen nicht verbergen. »Ja, natürlich werde ich es kaufen. Ich werde Jenny anrufen, ein Zimmer im Merry Cherub reservieren und gleich morgen zurück nach Twilight fliegen.«
Am Freitag nahm Travis einen Tag Urlaub, um Sarah vom Flughafen Dallas/Fort Worth abzuholen. Als er sie an der Gepäckausgabe der American Airlines entdeckte, fing sein Herz heftig zu hämmern an. Sie trug ein langärmeliges, knielanges Kleid in Weinrot, das ihre kurvige Figur zur Geltung brachte. Er ging hinüber zum Gepäckband und griff nach ihrer Tasche, gerade als sie sich danach bückte.
Gleichzeitig schlossen sich ihre Hände um den Griff. Sie blickten einander in die Augen, und er spürte, wie die Welt mit einem Klick wieder an der richtigen Stelle einrastete, als wäre sie aus der Umlaufbahn geraten und er hätte es bis zu diesem Moment nicht einmal bemerkt.
Impulsiv schloss er sie in die Arme und küsste sie. Sie erwiderte seinen Kuss, als hätte sie die ganzen fünf Tage ihrer Abwesenheit die Luft angehalten. Waren es nur fünf Tage gewesen? Es hatte sich angefühlt wie fünfhundert.
Spontan sagte er: »Willkommen zu Hause, Liebes«, und er meinte es absolut ernst.
Nach Twilight zurückzukehren war ganz anders, als sie erwartet hatte. Sarah hatte mit Peinlichkeiten gerechnet, aber es gab keine. Es war, als wären Travis und sie seit Jahren zusammen, und es überraschte sie, wie leicht die Dinge zwischen ihnen liefen.
Sobald sie in der Stadt eingetroffen waren, bezog sie wieder ihr Zimmer im Merry Cherub, wo sie bis nach Silvester bleiben wollte. Dann fuhr sie mit Travis weiter zum Rathaus, um einen Notar wegen des Hauskaufs zu konsultieren. Weil der Besitz schuldenfrei war und Sarah bar bezahlte, würde die Transaktion bis kommenden Freitag über die Bühne gegangen sein, was zufällig genau an Heiligabend wäre.
Das Einzige, worüber sie sich noch einig werden mussten, war der Preis. Travis verlangte weit weniger, als das Haus wert war.
»Es hat deiner Großmutter gehört«, sagte er leise.
»Es ist ein Seegrundstück«, widersprach sie.
»Ich möchte nur das haben, was Crystal und ich dafür bezahlt haben.«
»Das war vor neun Jahren, und meine Eltern haben es dir nur so billig verkauft, weil sie die Verantwortung dafür los sein wollten. Es ist fünfzigtausend Dollar mehr wert, als du haben willst.«
»Du drückst den Preis in die Höhe, weil du mir bei den Kosten für Jazzys Medikamente unter die Arme greifen willst.«
»Na und?«
»Ich werde nicht zulassen, dass du mehr als den aktuellen Marktwert dafür bezahlst.«
»Es ist der aktuelle Marktwert«, schaltete sich der Notar ein. »Nur eben am oberen Ende der Preisskala.«
»Siehst du«, sagte Sarah.
»Das Haus hat nur hundertzehn Quadratmeter.«
»Dafür aber eine eigene Anlegestelle mit Steg.«
»Es muss renoviert werden.«
»Du wirst es mieten, also mach, wozu auch immer du Zeit hast.«
Der Notar schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie erlebt, dass sich ein Käufer darum gerissen hat, mehr für ein Anwesen zu bezahlen.«
Sarah streckte ihre Hand nach der von Travis aus und blickte ihm direkt in die Augen. »Nimm mein Angebot an. Um Jazzys willen.«
Sie konnte sehen, wie sehr er sich anstrengen musste, seinen Stolz herunterzuschlucken. »Einverstanden«, stimmte er schließlich zu. »Aber ich werde dir Miete bezahlen.«
»Natürlich.« Sie würde ihm nicht verraten, dass sie vorhatte, auf Jazzys Namen ein Konto einzurichten und die Mieteinnahmen darauf zu überweisen.
»Das wird ein Weihnachtsgeschenk für uns beide sein«, sagte Travis, als sie das Rathaus verließen.
»Ja«, stimmte sie zu.
»Miss Sarah«, rief Bürgermeister Moe, der auf sie zugeschlendert kam. »Sie sind wieder da!«
»Hallo, Herr Bürgermeister.« Sarah nickte grüßend, ohne ihm einen Grund für ihre überraschende Rückkehr zu nennen, auch wenn sie spürte, dass Moe vor Neugier starb.
»Wie lange werden Sie bleiben?«, erkundigte er sich.
»Ich bin mir noch nicht sicher.«
»Nun, es ist wundervoll, Sie wieder hierzuhaben, ganz gleich, wie lange Ihr Aufenthalt dauern wird.« Er strahlte, dann wandte er seine Aufmerksamkeit Travis zu. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Frank Jennings das Gatter für Sie offen gelassen hat. Er sagte, er hätte dieses Jahr jede Menge Prachtexemplare im Angebot, unter denen Sie wählen könnten.«
»Vielen Dank, Moe.«
»Was für Prachtexemplare?«, fragte Sarah.
»Weihnachtsbäume. Travis ist der offizielle Holzfäller für den Weihnachtsbaum auf dem Stadtplatz. Er fällt jedes Jahr auf einer Ranch ganz in der Nähe eine große, einheimische Texaszeder.«
»Ach ja, es gibt also immer noch die Tradition des Weihnachtsbaumanzündens am letzten Sonntag vor Weihnachten.«
»Sie erinnern sich daran!« Bürgermeister Moe wirkte erfreut. »Warum begleiten Sie Travis morgen nicht einfach? Weiblichen Rat bei der Auswahl des Baumes könnte er sicher gut gebrauchen.« Moe zwinkerte Sarah zu. »Sorgen Sie dafür, dass er den größten herauspickt. Mindestens viereinhalb Meter.«
»Wollen Sie damit andeuten, meine Weihnachtsbäume wären nicht perfekt gewesen?«, entrüstete sich Travis scherzhaft.
Moe klopfte Travis auf den Rücken. »Viel Vergnügen, Kinder.«
Und so kam es, dass Sarah am nächsten Morgen mit Travis zum Weihnachtsbaumfällen verabredet war.