Kapitel zwölf

Sie protestierte nicht, als er sie erneut küsste, hatte sich in Wirklichkeit nach seinen Lippen gesehnt. Diesmal war sein Kuss sanft, so wie unter dem Mistelzweig, aber forscher. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände, hielt es fest und berührte seine Zungenspitze mit ihrer. Übernahm die Kontrolle. Sie würde nicht alles dem Schicksal oder magischen Weihnachtsplätzchen überlassen. Wenn es passierte, dann weil sie beide es so gewollt hatten.

Sarah schaute ihm in die Augen, ließ sich in sie hineinfallen. Normalerweise küsste sie mit geschlossenen Lidern, aber jetzt wollte sie alles sehen – seine dichten, geschwungenen Wimpern, sein dunkles, schimmerndes Haar, seine kantigen Wangenknochen, die im gedämpften Schein des Feuers glänzten.

Er vertiefte seinen Kuss und schloss die Augen, und sie folgte seinem Beispiel und überließ sich ganz ihren anderen Sinnen: schmecken, fühlen, riechen, hören. Er schmeckte nach Weihnachten, nach Pfefferminzzuckerstangen. Hatte er sich eine vom Baum genommen und gegessen, während sie in der Badewanne gewesen war? Sie musste nur einmal seine Lippen berühren, und schon drehte sich ihr wie verrückt der Kopf, wenn sie in Tagträumereien von leuchtend bunten Geschenken, Schlittenglocken und Truthahnbraten versank.

Die Berührung seiner Zunge war unglaublich, seine männlichen Hände zu spüren, die den Ärmel ihres Bademantels hinaufglitten, einfach göttlich. Sein Duft stieg ihr in die Nase, wurde mit zunehmender Leidenschaft immer intensiver und vermischte sich mit ihrem eigenen Geruch – oder vielmehr mit dem von Mr. Bubble. Eine außergewöhnliche Mischung, die sie erregte.

Hier stand sie, mit dem Mann ihrer Träume, und konnte es einfach nicht fassen.

Doch Augenblick mal, sie würde die Situation nicht romantisch verklären. Wenn sie schon nicht ihre Begierde im Zaum halten konnte, so würde sie wenigstens ihr Herz ausschalten. Sie würde sich nicht noch einmal verletzen lassen.

Sarah zog sich zurück und legte ihm die Hand auf die Brust. »Wir müssen reden.«

»Ich höre.« Er beugte sich vor und fuhr mit seiner heißen, feuchten Zunge ihre Ohrmuschel nach.

Sarah schauderte. »Das sind doch nur die Hormone, die Chemie, unsere Lust. Mehr nicht.«

»Das kannst du dir den ganzen Tag einreden, aber wir wissen beide, dass es nicht so ist«, flüsterte er heiser.

»Entschuldige.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. »Glaubst du, ich habe neun Jahre lang nichts anderes getan, als deinen Namen zu kritzeln und darauf zu warten, mit dir ins Bett zu gehen?«

»Nein, natürlich nicht. Aber irgendwann einmal hast du geglaubt, ich sei dein Seelenverwandter.«

»Irgendwann einmal habe ich auch an den Weihnachtsmann geglaubt. Du bildest dir zu viel ein, Travis.« Sie reckte ihr Kinn in die Höhe. »Ich bin ein großes Mädchen. Ich kann Sex von Liebe unterscheiden. Lass uns die sexuelle Anziehung nicht überinterpretieren.«

Er sah sie ernst an. »Willst du das wirklich?«

Sie nickte. »Ja.«

Langsam fing Travis an, ihren Bademantelgürtel zu lösen, aber sie hielt seine Hand fest. Sie wollte noch nicht, dass er ihre Narbe sah.

Aber es war zu spät. Seine Hand war bereits in ihren Bademantel geschlüpft. Ihre Narbe kribbelte, als er sie mit den Fingerknöcheln streifte.

Sarah starrte ihm ins Gesicht und wartete ängstlich auf seine Reaktion, doch er ließ sich nichts anmerken. Wie erstarrt stand sie da und wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte.

Seine linke Hand spreizte sich über ihrem nackten Bauch. Mit der rechten Hand fasste er ihr unters Kinn und gab ihr einen weiteren langen, sehnsuchtsvollen Kuss.

Gut, es hatte ihn also nicht abgeschreckt, die Narbe zu berühren. Was geschähe wohl, wenn er sie sah?

Dazu wird es gar nicht erst kommen, redete sie sich ein, doch dann fing er an, mit seiner Zunge zu spielen, und sie ließ sich gegen seinen muskulösen Körper sinken.

Eng umschlungen überließen sich Sarah und Travis ganz ihrem Verlangen. Travis weckte in Sarah eine Begierde, die so groß war, dass sie fürchtete, sie niemals stillen zu können. Sie schlang die Arme um seinen Nacken und erforschte seinen Mund mit der Zunge, wobei sie kaum bemerkte, wie er sie vom Boden hob, zur Couch trug und auf das weiche Leder legte.

Mit vor Leidenschaft glänzenden Augen sah er sie an, streichelte sie mit seinem Blick so zart wie mit seinen Fingerspitzen und holte tief Luft. »Du bist so schön im Schein des Feuers. Ich will dich nackt sehen.«

Sie fühlte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. »Ich … ich bin noch nicht dazu bereit.«

»Okay, dann mache ich den Anfang.« Er fing an, ungeduldig sein Hemd aufzuknöpfen und streifte es ab.

Beim Anblick seiner muskulösen nackten Brust biss sich Sarah auf die Unterlippe.

Er hatte einen richtigen Waschbrettbauch. Prächtig! Die Wirklichkeit übertraf all ihre Fantasien.

Er setzte sich zu ihr auf die Couch, zog sie wieder in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

Sie gab sich ihm hin, ließ sich fallen, konnte nichts tun, um dem Einhalt zu gebieten. Die ganzen alten Gefühle, die sie so sicher verschlossen geglaubt hatte, sprudelten wieder an die Oberfläche, und sie wusste, dass reiner Sex ihr niemals genügen würde. Sie durfte das nicht zulassen. Durfte keinen Schritt weitergehen. Es stand so viel auf dem Spiel, und es gab so viel, was sie zurückschrecken ließ. Ihre gemeinsame Vergangenheit, ihre Narbe, die ungewisse Zukunft.

»Travis …«, stieß sie hervor, um ihn aufzuhalten, aber die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Sie mussten noch warten, doch verdammt, sie wollte nicht warten. »Es gibt da etwas, das ich …«

Unfähig weiterzusprechen, stand sie einfach auf und ließ den Bademantel fallen.

Travis starrte sie an. Seine Augen weiteten sich. Er atmete hörbar ein. Sie wurde von Zweifeln gepackt. Was mochte er denken? War das Abscheu auf seinem Gesicht?

Draußen auf der Auffahrt schlug eine Autotür, dann waren Stimmen zu hören. Kinderstimmen.

Wie der Blitz schoss Travis von der Couch hoch und zum Fenster. Er spähte durch die Jalousien, dann wirbelte er herum und rannte aus dem Wohnzimmer.

Verwirrt und mehr als nur ein bisschen benommen, griff sie nach dem Bademantel, doch noch bevor sie ihn überziehen konnte, warf Travis ihr ihre noch nicht ganz trockenen Klamotten zu. »Schnell, geh! Du musst gehen!«

»Was ist denn los?«, fragte sie und fuhr eilig in ihr Höschen, dann kämpfte sie mit ihrem BH.

»Jazzy. Wir haben keine Zeit. Du musst sofort raus hier.« Er nahm ihre Stiefel vom Fußboden und drückte sie ihr zusammen mit den anderen Sachen in die Arme. Dann legte er ihr die Hand in den Rücken und schob sie durch die Wohnzimmertür in die Küche zum Hinterausgang. Sarah hörte die Haustür aufgehen, gerade als Travis sie auf die Veranda hinausdrängte.

»Daddy, ich bin zu Hause!«

»Ich muss mich beeilen!«, sagte Travis und knallte die Tür zu.

Im selben Augenblick wusste Travis, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Sarah würde denken, er hätte sie wegen ihrer Narbe weggeschickt, nicht weil Jazzy unerwartet nach Hause gekommen war.

Um ein Haar hätte er die Tür wieder aufgerissen, sie zurück ins Haus gezogen und ihr gesagt, wie leid es ihm tat, aber da kam seine Tochter auch schon in die Küche geschossen und barg ihren Kopf an seiner nackten Brust.

Jazzys Freundin Andi und ihre Mutter standen hinter ihr.

»Warum hast du kein Hemd an?«, fragte Jazzy.

»Ähm …« Travis räusperte sich. »Ich habe den Kamin angemacht, und es ist ziemlich heiß hier drinnen, also … habe ich es eben ausgezogen.« Mein Gott, was war er doch für ein schlechter Lügner! »Was ist denn los mit dir? Warum bist du zu Hause?«

Jazzy blickte verdrossen drein.

»Sie hat Heimweh bekommen«, erklärte Sandy, Andis Mutter. »Und da wir morgen Abend alle zu der großen Pyjamaparty im Book Nook gehen, dachten wir, es wäre das Beste, wenn Jazzy heute Nacht zu Hause schläft. Es bleibt doch bei der Pyjamaparty, oder?«

Travis fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass Sandy seine nackte Brust beäugte, als wäre sie ein Stück Schokoladenkuchen. Sandy war Single, frisch geschieden, und bevor Sarah in die Stadt gekommen war, bevor er herausgefunden hatte, dass sie Sadie Cool war, hatte er mit ihr ausgemacht, dass sie gemeinsam mit ihren Töchtern die Pyjamaparty zu Ehren von Das magische Weihnachtsplätzchen besuchen wollten. Es kam ihm vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen. So vieles hatte sich verändert.

»Wir gehen doch hin, Daddy, oder?« Jazzy klang besorgt.

»Aber sicher doch. Natürlich gehen wir noch hin.« Er lächelte seine Tochter an, und Sandy strahlte. »Danke, dass du Jazzy nach Hause gebracht hast«, sagte er zu ihr.

»Kein Problem.« Sandy kniff die Augen zusammen und warf ihm einen forschenden Blick zu. »Möchtet ihr morgen bei uns vorbeikommen, und wir fahren zusammen mit meinem Minivan zum Buchladen?«

»Ich denke, wir nehmen unseren eigenen Wagen«, sagte Travis ausweichend. »Ich habe morgen noch einiges zu erledigen.« Zum Beispiel Sarah sagen, wie leid es mir tut.

»Dann sehen wir euch also dort?«, fragte Sandy strahlend.

»Ja.« Er nickte.

Sandy und ihre Tochter verabschiedeten sich, und Travis wandte sich an Jazzy. »Soso, du hast also Heimweh bekommen.«

»Ich habe dich vermisst.«

»Ich habe dich auch vermisst, Prinzessin.« Er zwickte sie spielerisch in die Nase.

Jazzy legte den Kopf schief und betrachtete ihn einen Augenblick. »Du wirkst so … anders.«

»Anders? Nein, ich bin nicht anders.« Er wusste, dass seine Tochter sehr intuitiv war, aber woher sollte sie von seinen veränderten Gefühlen wissen? Er versuchte, nicht verlegen dreinzublicken, und ging ins Wohnzimmer, um sein Hemd vom Fußboden aufzuheben und überzustreifen.

Jazzy tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Jawohl, du bist irgendwie anders.«

»Ich bin immer noch derselbe alte Dad.« Ihr durchdringender Blick machte ihn nervös. Als dürfte er aber auch gar nichts vor ihr verbergen. Dann stellte er fest, dass seine Gefühle für Sarah das Erste waren, das er jemals vor ihr verborgen hatte. Vermutlich lag es daran. Er blickte schuldbewusst drein.

»Bist du hungrig? Hast du etwas gegessen? Wollen wir ein bisschen Eintopf futtern?« Travis marschierte zum Schongarer und nahm zwei tiefe Teller aus dem Schrank.

»Was ist das für ein Lärm?«

»Was für ein Lärm?«

»Es klingt so, als wäre jemand auf der Veranda.«

»Nein, da ist niemand.« Stand Sarah immer noch da draußen?

»Doch.« Jazzy eilte zur Hintertür.

Rasch verstellte Travis ihr den Weg, einen Teller Eintopf in der Hand. »Das Essen ist fertig.«

Wieder sah sie ihn durchdringend an und murmelte: »Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.«

»Setz dich, junge Dame, und iss dein Abendessen.«

Gott sei Dank gehorchte Jazzy und setzte sich an den Tisch. Als er den Teller vor sie stellte, beugte er sich vor und warf einen Blick aus dem Fenster, gerade noch rechtzeitig, um Sarah hinter der Ecke verschwinden zu sehen. Er kam sich abgrundtief mies vor, doch er würde sich auf jeden Fall etwas einfallen lassen, um seinen Fehler wiedergutzumachen.

Nachdem Travis sie in Unterwäsche auf die Veranda geschoben hatte, hatte Sarah Pullover und Jeans übergestreift und sich eingeredet, alles wäre in Ordnung. Es war in Ordnung, dass er sie zur Hintertür hinausbefördert hatte, als seine Tochter nach Hause gebracht worden war. Das konnte ihm niemand zum Vorwurf machen. Seine Tochter kam an erster Stelle. Das hatte sie kapiert. Es war nur so, dass sie nicht aufhören konnte, sich zu fragen, was passiert wäre, wenn Jazzy nicht nach Hause gekommen wäre. Hätte Travis über ihre Brandnarbe hinwegsehen können? Die Anziehungskraft zwischen ihnen war stark, aber war sie auch stark genug, um diesen körperlichen Makel wettzumachen?

Nein, sie würde nicht darüber nachgrübeln oder in Selbstmitleid versinken. Das Vorspiel war gut gewesen – ach, wem zum Teufel machte sie etwas vor? –, es war fabelhaft gewesen. Was die Sache irgendwie noch schlimmer machte.

Sie schlüpfte in ihre Stiefel, zog ihre Jacke über und schlich geduckt die Verandastufen hinunter, damit Jazzy sie nicht durchs Küchenfenster entdeckte. Wie überaus demütigend, sich so davonstehlen zu müssen, um nicht von der achtjährigen Tochter des Beinahe-Geliebten ertappt zu werden. Ihre Absätze klapperten auf den Gartenplatten, als sie zum Tor ging.

Sie streifte einen kahlen Rosenbusch und blieb mit dem Saum ihrer Jacke an den Dornen des letzten Sommers hängen. Ohne einen Blick auf das Haus zurückzuwerfen, an das sie so viele wundervolle Ferienerinnerungen hatte, zog Sarah die Schultern hoch, um sich vor dem Wind zu schützen, der vom See herüberwehte, und machte sich auf den Weg zum Merry Cherub. Sie fühlte sich gleich mehrfach gebrochen.

Ihre Nase brannte, Tränen drückten gegen ihre Augenlider, aber sie würde ganz bestimmt nicht anfangen zu weinen.

Je weiter sie ging, desto elender fühlte sie sich. Sie zwang sich, den Pärchen, die Händchen haltend die Uferstraße entlangschlenderten, keine neidvollen Blicke zuzuwerfen, und auch nicht denen, die sich zu den vorweihnachtlichen Kutschfahrten am Stadtplatz in die Schlange eingereiht hatten. Glückliche Familien schlenderten über den Gehsteig, leuchtend bunte Einkaufstaschen und festlich eingewickelte Päckchen in den Armen.

Eine Träne rollte ihr über die Wange. Dann zwei. Jetzt drei.

Was für ein fauler Zauber.

Um achtzehn Uhr am nächsten Abend traf Sarah im Ye Olde Book Nook am Stadtplatz ein. Draußen stand eine Schlange vor dem Laden, viele Leute waren im Pyjama und hielten Schlafsäcke und abgegriffene Exemplare von Das magische Weihnachtsplätzchen in den Händen.

Normalerweise stand ihr bei solchen öffentlichen Auftritten stets ein PR-Betreuer zur Seite. In Twilight stellte sich heraus, dass diese Aufgabe Belinda Murphey übernommen hatte, die draußen die Menge bei Laune hielt, indem sie sie dazu aufforderte, »It’s Beginning to Look a Lot Like Christmas« zu singen. Sie war als Frau des Weihnachtsmanns verkleidet, hielt eine Isabella-Puppe unter dem Arm und versprühte jede Menge Energie. Als sie Sarah entdeckte, brach sie mitten im Lied ab und eilte zu ihr, um sie in den Buchladen zu geleiten.

»Macht Platz für Sadie Cool«, forderte sie die Leute auf. »Aus dem Weg, aus dem Weg, es bleibt genug Zeit, Sadie Cool kennenzulernen, aber erst mal müssen wir rein. Wir haben doch noch die ganze Nacht Zeit!«

Sarah hatte bereits Anfang der Woche beim Ye Olde Book Nook vorbeigeschaut, um sich bei der Besitzerin vorzustellen. Vivian Jones war eine kleine runzlige alte Dame mit einem freundlichen Gesicht, einer überraschend tiefen Stimme und aufgeweckten grünen Augen.

Belinda überließ sie Vivian und wandte sich dann wieder der Menge zu.

Ye Olde Book Nook war einer der wenigen unabhängigen Buchläden, der keine gebrauchten Bücher verkaufte, was Sarah darauf schließen ließ, dass Vivian über Eigenkapital verfügte. Unabhängige Buchhandlungen hatten es momentan schwer, doch Vivian schien eine Nische gefunden zu haben, indem sie auf Touristen abzielte und eine große Auswahl an Titeln anbot, die sich auf die Geschichten und Legenden der hiesigen Gegend sowie auf die Historie von Texas im Allgemeinen bezogen.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel es mir bedeutet, Sie hier zu haben«, sagte Vivian begeistert. Ihre Stimme erinnerte Sarah an Barry White mit einer schlimmen Erkältung. »Die Kinder sind so aufgeregt, und ich ebenso. Wir haben Ihren Auftritt ganz groß beworben. Ich habe eine Annonce im Fort Worth Star-Telegram geschaltet, außerdem hat dieser Radiosender in Weatherford, wo samstagmorgens eine Sendung über Bücher und Autoren läuft, unsere Veranstaltung schon seit Wochen angekündigt.«

»Es ist mir eine Ehre, hier zu sein«, sagte Sarah aufrichtig, obwohl sie nervös war.

»Ich kannte Ihre Großmutter«, fuhr Vivian fort. »Sie war eine gute Freundin von mir. Ich bin mir sicher, dass Sie sich nicht an mich erinnern, aber ich erinnere mich an Sie. Ich war damals auf der Hochzeit von Crystal und Travis, als …«

»Hier findet also die Pyjamaparty statt«, fiel ihr Sarah ins Wort und betrachtete den abgesperrten Teil des Buchladens.

Überall lagen Stepp- und Wolldecken. In der Mitte stand ein Schaukelstuhl, geschmückt mit roten Schleifen und Stechpalmenzweigen. Dahinter waren jede Menge Exemplare von Das magische Weihnachtsplätzchen aufgestapelt, zusammen mit Isabella-Puppen. Tische, beladen mit Weihnachtsplätzchen, Fruchtpunsch und anderen Leckereien standen an der Wand.

»Oh, ja, ja. Zuerst findet im vorderen Ladenbereich die Signierstunde statt.« Vivian deutete mit der Hand in Richtung Eingang. »Dann dürfen die wenigen Glücklichen, die rechtzeitig reserviert haben, in den hinteren Teil gehen, und die Pyjamaparty kann beginnen.«

Sarah zwang sich zu einem Lächeln und widerstand dem Drang, zur Hintertür hinauszuschlüpfen. Ja, sie mochte keine Menschenansammlungen, aber das hier waren ihre Fans. Sie würde das durchstehen, es war schließlich nur eine Nacht. Sie atmete tief ein und stieß langsam die Luft aus. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch beruhigten sich ein bisschen.

Vivian blickte auf die Uhr. »Ups, es ist schon nach sechs, wir lassen sie besser rein, bevor sie Belinda über den Haufen rennen. Sie haben ja keine Ahnung, wie beliebt Sie bei meinen Kunden sind, Miss Cool.«

»Bitte nennen Sie mich Sar…, ähm, Sadie«, sagte Sarah.

»Sadie, gern. Sie können dann am Tisch Platz nehmen, und ich lasse die Leute rein.« Strahlend deutete Vivian auf den Tisch, auf den sie Bücher, einen Stift und ein Glas Eiswasser gestellt hatte.

Sarah setzte sich. Sie kam sich unbeholfen und verletzlich vor und wusste nicht recht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte. Die Türen flogen auf, und die Menge strömte in den Laden. Im Nu war sie von plappernden Lesern umringt, die ihr ihre Exemplare zum Signieren vorlegten. Sie fühlte, wie sie sich bei all dem Trubel in sich selbst zurückzog. Es war fast so, als würde sie neben sich stehen und das Geschehen aus sicherer Distanz verfolgen. Sie lächelte, signierte Bücher und plauderte mit ihren Fans, und dann blickte sie auf und sah Travis vor sich stehen, groß und attraktiv. Doch es war nicht nur sein gutes Aussehen, was den Frauen den Kopf verdrehte, es war sein charmantes Lächeln, sein entspanntes, selbstsicheres Auftreten und nicht zuletzt die Tatsache, dass er der großartigste alleinerziehende Vater der Welt war. Er war der einzige Mann in einem Buchladen voller Frauen und Kinder, und er hielt Jazzys Hand und sah absolut unwiderstehlich aus.

Er trug ein schwarzes Poloshirt, Jeans und kastanienbraune Cowboystiefel. Auf seinem Gesicht lag ein leichter Bartschatten, sein Haar war windzerzaust. Er duftete nach See und Zuckerstangen. Ihr Magen schlug Loopings, als säße sie in der Achterbahn.

»Hi, Sarah!« Jazzy grinste. Sie trug einen flauschigen rosa Häschenschlafanzug und darüber ein rosa Mäntelchen. »Wir haben gerade Pfefferminzkakao mit rosa Marshmallows im Rinky-Tink getrunken. Ich wollte dich einladen, aber Daddy hat gesagt, du wärst zu beschäftigt, um mit uns zu kommen, also sind wir jetzt hier. Wir bleiben über Nacht auf der Pyjamaparty.«

Sarah kniff die Augen halb zu und fragte: »Dein Daddy bleibt auch?«

»Ja«, sagte Travis gedehnt und ließ sein Ladykiller-Lächeln aufblitzen. »Daddy auch.«

Warum strahlte er sie so an? Gestern Abend hatte er sie kurzerhand zur Hintertür hinausbefördert. Glaubte er, sie würde so tun, als wäre nichts gewesen? Als wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen? Richtig, genau das sollte sie tun. Als hätte sein Verhalten sie nicht getroffen. Als wäre sie nicht zutiefst verletzt.

Seine Augen wanderten tiefer zu dem V-Ausschnitt ihres Flanell-Pyjamas und dann langsam zurück zu ihren Augen.

Warum hatte sie bloß einen Push-up-BH angezogen? »Ähm …«, sagte sie, »hinter euch steht eine Riesenschlange von Leuten an.«

»Ach, keine Sorge«, sagte er und deutete mit dem Daumen auf den abgegrenzten Bereich. »Wir warten dahinten auf dich.«

»Das wird wohl noch eine Weile dauern.«

»Der Laden schließt um acht«, sagte er. »Danach beginnt offiziell die Party.«

»Und ihr wollt die ganze Zeit warten?«

»Klar, was anderes können wir sowieso nicht machen.«

»Oh, Travis«, rief eine hübsche junge Mutter affektiert und kam durch den Laden auf ihn zugeschossen. Sie trug ein Negligé im Zebramuster mit passendem Morgenmantel und schicken Pantöffelchen. Sie sah aus, als käme sie gerade vom Frisör, ihre falschen Nägel waren frisch lackiert. Sarah wusste sofort, dass sie auf Männerfang war. »Andi und ich hatten gehofft, dass ihr hier sein würdet. Kommt rüber, wir haben einen Tisch in der Ecke besetzt.«

Die Frau zog ihn in den hinteren Teil des Ladens.

Sieh nicht hin. Es interessiert dich nicht, wohin sie gehen. Es geht dich nichts an.

Sie blickte in die Richtung, in die sie verschwunden waren, und sah, dass Travis über die Schulter zu ihr zurückschaute. Die Frau schleppte ihn ab wie einen Barsch an der Angel.

Ha! Das geschah ihm recht. Doch warum verspürte sie bloß diese nagende Eifersucht?

Erst kurz vor Ladenschluss ließ der Andrang nach. Vivian machte viel Aufhebens um die Eröffnung der Pyjamaparty und stellte Sarah mit einem Riesentamtam vor.

Belinda war geblieben, um sie beim Herumreichen der Plätzchen und des Punschs zu unterstützen und die Kinder in ihren Schlafsäcken und auf Pritschen unterzubringen. Währenddessen nahm sich Sarah einen kleinen Teller mit Gemüse und Dips vom Büfett und biss in ein Brokkoliröschen. Sie hatte nicht daran gedacht, vor der Signierstunde etwas zu essen, und war fast am Verhungern. Sie hatte sich so hingestellt, dass Travis sie nicht sehen konnte, doch als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass er zu ihr herübergeschlendert kam.

»Du ziehst ein Gesicht, als wärst du lieber beim Zahnarzt als hier am Büfett.«

»Aber nein, ich mag Brokkoli.«

»Ich rede nicht vom Brokkoli.«

»Und wovon dann?« Sie wünschte, er würde sie einfach in Ruhe lassen. Sie musste nur noch diese eine Nacht hinter sich bringen, und dann hieß es: Hasta la vista, Twilight.

»Du versteckst dich in einer Ecke und schaust andauernd auf die Uhr.«

»Du amüsierst dich gut mit Miss Zebramuster?«, lenkte sie vom Thema ab und nickte in Richtung Tisch, an dem die Frau im schwarz-weißen Negligé mit Jazzy und einem anderen Mädchen in Jazzys Alter saß.

»Sandy?« Travis blickte zu ihnen rüber. Sandy winkte ihm. »Was soll mit ihr sein?«

»Weiß sie, dass du deinen Damenbesuch in Unterwäsche auf die Veranda schubst, wenn er lästig wird?«

Travis fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Hör mal, das tut mir wirklich leid. Ich muss dir das Gefühl vermittelt haben …«

»Gefühle waren da gar nicht im Spiel«, unterbrach sie ihn schnippisch. »Außer dass es kalt war. Es war saukalt auf der Veranda. In Unterwäsche.«

»Ich hab Panik gekriegt«, gab er zu. »Ich wusste nicht, was ich Jazzy sagen sollte, wenn sie dich bei mir im Wohnzimmer entdeckt. Es ist noch nie eine Frau bei mir über Nacht geblieben.«

»Im Ernst?« Sarah zog eine Augenbraue hoch und blickte sich im Laden um. Die Hälfte der Frauen starrte ihn an wie ein saftiges Filet Mignon. »Das fällt mir schwer zu glauben. Du warst schon auf der Highschool ein Frauenheld. Ein Mädchen nach dem anderen.« Sie klang eifersüchtig, das war ihrer Stimme deutlich anzuhören. Zum Teufel, sie war eifersüchtig.

»Glaub mir. Du warst die Erste seit Crystal.«

»Da kann ich mich ja glücklich schätzen.« Sie starrte auf Travis’ Hals, um ihm nicht in die Augen blicken zu müssen. Sein Puls schlug sichtbar. »Weiß das Sandy?«

»Bislang habe ich nie das Bedürfnis verspürt, sie davon in Kenntnis zu setzen.«

Obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte, schaute sie ihm jetzt doch ins Gesicht und verspürte ein tiefgreifendes Verlangen nach etwas, das sie sich nicht zu wünschen wagte. Ein Verlangen wider jede Vernunft.

»Bitte verzeih mir«, sagte er. »Ich war sehr grob.«

Er hielt ihrem Blick stand, und es wollte ihr nicht gelingen, einfach zur Seite zu schauen. Sarah betrachtete seine markanten Züge im Neonlicht. Anders als bei den anderen wirkte seine Haut bei dieser grellen Beleuchtung nicht fahl, sondern strahlend. Sie wartete, bis sich ihre Atmung wieder verlangsamte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für lüsterne Blicke.

»Ich hätte dich im Kleiderschrank verstecken sollen, anstatt dich auf die Veranda zu schubsen«, erklärte er zwinkernd.

Sie musste lachen. Ihr Lachen klang abgehackt und atemlos. Sie blickte auf seine breite Männerbrust und musste daran denken, wie er ohne Hemd ausgesehen hatte, dann schaute sie wieder in seine Augen. Der Ausdruck darin war sanft, entschuldigend. In ihrem Hals bildete sich ein Kloß. Sie hob das Kinn, grinste und vergab ihm alles.

»Ich mache dir ein Friedensangebot«, sagte er. »Und ich hoffe wirklich, du verzeihst mir.«

»Und was wäre das für ein Friedensangebot?«

»Warte.« Er verschwand und kam eine Minute später mit einem riesigen Bouquet Lutscher mit Kirschfüllung zurück, verziert mit einer weihnachtlichen roten Schleife.

»Sind die Rosen ausgegangen?«

»Du bist zu außergewöhnlich für Klischees. Außerdem kannst du die Lutscher mit ins Flugzeug nehmen. Rosen wären eine Verschwendung gewesen.«

»Gut aussehend, reuevoll und praktisch.« Sie lachte wieder und nahm den Lutscherstrauß entgegen.

Sein Lächeln raubte ihr auch noch den restlichen Atem. »Nimmst du meine Entschuldigung an?«

»Hm-hm.« Ihr fiel nichts anderes ein, deshalb steckte sie eine Karotte in den Mund und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, dass ihr die Knie zitterten.

Travis stand reglos da und schaute sie an.

Sarah hörte das Klappern von Pantöffelchen auf dem Laminatboden, roch den Duft von Chanel No. 5 und sah aus dem Augenwinkel ein Zebramuster auf sie zuflattern.

»Ich habe uns Glühwein besorgt«, verkündete Sandy.

Travis lächelte, allerdings in Sarahs Richtung, nicht in Sandys. »Danke.«

Sandy strahlte wieder. »Großartig, dann bringe ich den Glühwein mal an unseren Tisch.«

»Prima«, sagte er, ohne den Blick von Sarah zu wenden.

Sarah unterdrückte ein Lächeln, und als Sandy außer Hörweite war, sagte sie: »Du führst sie ja ganz schön an der Nase herum.«

»Wieso?«

»Sitzt mit ihr zusammen. Lässt sie deinen Glühwein besorgen, obwohl du dich gar nicht für sie interessierst.«

»Ihre Tochter und Jazzy sind beste Freundinnen. Das ist alles.«

»Zebramuster hat da aber andere Vorstellungen.«

»Glaubst du?«

»Ich weiß es. Sie sitzt da drüben und leckt sich die Lippen.«

»Pass auf, deine Augen werden grün.«

»Ich bin nicht eifersüchtig.«

»Jetzt wird deine Nase länger.«

»Du bist unverbesserlich.«

»Und genau das gefällt dir an mir.« Er zwinkerte. »Ich bringe ein bisschen Schwung in dein Leben.«

O ja, das tat er. Das war der Travis, an den sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte: lebenslustig, locker, immer zu einem Späßchen bereit.

Plötzlich verschwand sein Lächeln, und sein Gesichtsausdruck wurde nüchtern. »Dann verlässt du morgen also die Stadt«, sagte er.

Sie nickte.

»Glaubst du, dass du so bald wieder zurückkehrst?«

Sarah blickte in seine grauen Augen. »Ich habe keinen Grund, noch einmal nach Twilight zu kommen.«

»Oh.« Er trat zurück und griff sich mit der Hand in den Nacken. »Gibt es denn keine Möglichkeit, dass wir dich überreden können, noch etwas länger zu bleiben? Vielleicht bis nach Weihnachten? Es findet doch noch das alljährliche Weihnachtsbaumanzünden auf dem Stadtplatz statt, was immer ein großer Spaß ist.«

Sarah schüttelte den Kopf. »Ich muss ein Buch fertigstellen …«

Er zwang sich zu einem Lächeln, aber das Strahlen in seinen Augen war erloschen. »Schon gut, ich hab’s kapiert.«

»Meine Heimat ist nun einmal New York.«

»Da irrst du dich, Sadie Cool«, murmelte er. »Ob du dem zustimmst oder nicht: Deine Heimat ist Twilight.«

»Ich habe nie in dieser Stadt gelebt.«

»Das ist egal.« Jetzt war sein Lächeln traurig. »Twilight ist immer noch in deinem Herzen.«

Seine Worte ließen sie zögern. Wollte er andeuten, dass er sich eine Beziehung mit ihr wünschte? »Was willst du mir sagen, Travis? Wenn du mir irgendetwas sagen möchtest, dann raus mit der Sprache.«

»Die Stadt wird dich vermissen. Jazzy wird dich vermissen … ich … ich werde dich vermissen. Gestern Abend war …« Er blickte sich um. »Nun, das ist weder die rechte Zeit noch der rechte Ort, um die Tragweite des gestrigen Abends zu erörtern. Deshalb hatte ich gehofft, du könntest noch etwas länger in Twilight bleiben.«

Wie gern hätte sie Ja gesagt! Sie fühlte, wie sich etwas in ihr löste, öffnete, ähnlich den Schleusen an einer Talsperre nach starken Regenfällen. Sie wollte sich ihm mitteilen, aber sie schreckte vor den Konsequenzen zurück. Es war einfacher, sicherer, so zu tun, als wäre der gestrige Abend nur ein Flirt gewesen und sie wäre unterwegs zum nächsten Abenteuer.

»Du bist aus dem Schneider wegen gestern Abend«, sagte sie daher und hielt den Lutscherstrauß in die Höhe. »Ehrlich, Travis, es ist schon okay. Du musst nicht denken, dass du mir irgendetwas schuldest. Deine Tochter kommt an erster Stelle, und das ist auch richtig so. Pass gut auf sie auf und lass es dabei bewenden.«

Er runzelte die Stirn. »Ich …«

Doch er kam nicht weiter, denn Vivian kam angetrippelt. »Es ist Zeit, mit der Geschichte zu beginnen, Sadie.«

Sarah setzte sich auf den Schaukelstuhl in der Mitte des Bettenlagers und fing an zu lesen. Die Kinder lauschten andächtig. Sie tauchte ganz ins Buch ein und ließ sich davontragen, blendete alles um sie herum aus und nahm nur noch die Worte wahr, die auf den Seiten standen. Sie waren ihr so vertraut, dass sie aus ihr heraussprudelten, und während sie sprach, wurde ihr Körper immer kleiner und kleiner, bis sie schließlich aus sich hinaustrat. Es war, als würde sie über ihrem Körper schweben und sich selbst beim Vorlesen zusehen. Travis beobachten, der wiederum sie beobachtete.

Ein Schauder durchfuhr sie, aber sie spürte ihn nicht. Sie war jenseits der Gefühle, die sich in ihr zusammenbrauten. Sie wollte ihn so sehr, doch gleichzeitig hatte sie solche Angst, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, das emotionale Risiko einzugehen. Was, wenn sie es darauf ankommen ließ und es nicht funktionierte?

Die Bilder des gestrigen Abends wirbelten ihr durch den Kopf. Travis’ Lippen auf ihren, seine Hände auf ihrem Körper, der Ausdruck in seinen Augen. Plötzlich hob sie für den Bruchteil einer Sekunde den Kopf und begegnete seinem Blick, und ihr wurden drei entscheidende Dinge klar.

Erstens: Sie war eine Frau, die eine emotionale Mauer um sich herum errichtet hatte und nicht wusste, wie sie sie niederreißen sollte.

Zweitens: Travis war ein alleinerziehender Vater mit einem kränklichen kleinen Töchterchen, das sich verzweifelt nach einer Mutter sehnte.

Drittens: Sie hatte sich bis über beide Ohren in die zwei verliebt, aber sie hatte Angst, dass ihr das Herz gebrochen wurde.