Kapitel vier

Travis blickte die Frau an, die ihm einst ihre unsterbliche Liebe gestanden hatte. Na schön, damals war sie ein Mädchen gewesen. Ihre faszinierenden Augen ließen seinen Puls schneller schlagen, und die Erde drehte sich wie verrückt um ihre eigene Achse. Er hatte das Gefühl, einen jener surrealen Augenblicke aus einem der Märchen zu erleben, die Jazzy so gern von ihm vorgelesen bekam, wo der Mann die schlafende Schönheit küsst, einen Elfenbeinturm erklimmt oder ein paar tausend Drachen erschlägt, um das Mädchen seiner Träume zu bekommen.

Er dachte an seine Mutter, die zu sagen pflegte, er würde es tief in seinem Herzen fühlen, wenn er die Richtige gefunden hatte. Sie hatte dann stets ihre kleine Hand zur Faust geballt, sie auf die linke Seite ihrer Brust gepresst und ihm direkt in die Augen geschaut. »So war es auch bei deinem Vater und mir. Wenn du deinen Seelenverwandten findest, lösen sich alle Zweifel auf.«

Er wusste, dass er das Gefühl bei Crystal nicht gehabt hatte. Bei seiner Exfrau war es ihm schlicht und einfach um Sex gegangen. Aber hier und jetzt, beim Anblick von Sarahs Augen, war er … hin und weg.

Was zum Teufel war das für ein Gefühl? Ihm war heiß und kalt, und er verspürte Schmerz und Euphorie zugleich, als hätte er hohes Fieber.

Ihre Lippen waren verführerisch nah, und sein einziger Gedanke war, sie zu küssen. Gott sei Dank war Jazzy da, hüpfte zwischen ihnen auf und ab und hörte nicht auf zu plappern. Sonst hätte er Sarah, getrieben von einer Kraft, die er weder verstand noch kontrollieren konnte, womöglich tatsächlich geküsst.

Als Sarah ein Teenager gewesen war, hatte Travis nie auf eine romantische Art und Weise an sie gedacht. Er hatte sie gemocht, sicher, und sie waren Freunde gewesen. Sie war neugierig, wissbegierig gewesen, fasziniert von den Dingen, die ihn interessierten – von der Natur, den Tieren, dem Angeln –, doch sie war eben nur ein cooles Mädchen gewesen.

Jetzt war sie kein Mädchen mehr, und jetzt sah er etwas ganz anderes in ihr.

Die kleine Sarah Collier war zu einer schönen Frau herangewachsen. Sie war schlanker, aber an den richtigen Stellen immer noch kurvig. Er mochte Kurven. Der Blick aus ihren einmalig blauen Augen war klug und aufgeweckt. Daran hatte er sie letztendlich erkannt: an diesen außergewöhnlichen Augen. Ihre Haut war lilienblass, als wäre sie nie in die Sonne gegangen, und ihr karamellfarbenes Haar war voller und länger als damals und zu einem Zopf geflochten. Sie duftete so gut, wie ein Kuchen aus säuerlichen, grünen Äpfeln, unerwartet vertraut, doch mit einem kräftigen Schuss an Dreistigkeit. Alle möglichen Gefühle überkamen Travis: Überraschung, Verlangen, Verwirrung und – Freude. Er freute sich über seine Entdeckung, dass Sarah Collier Sadie Cool war.

Und was das Verblüffende war: Der Ausdruck auf Sarahs Gesicht sagte ihm, dass sie in etwa dasselbe empfand.

Sie blickten einander an, ihr Atem ging abgehackt und schnell.

Es war ein sehr seltsamer Moment. Schließlich kam es nicht jeden Tag vor, dass ein Mann feststellte, dass die Lieblingsschriftstellerin seiner Tochter im Haus neben ihm aufgewachsen war. Ein Mädchen, das in seine Hochzeitszeremonie hineingeplatzt war, um ihm mitzuteilen, dass er für sie bestimmt war.

Bestimmung, Schicksal, Vorsehung. Genauso fühlte sich das im Augenblick an.

Sarah hob eine Hand an ihre Wange. »Warum … warum starrst du mich so an? Hab ich was im Gesicht?«

Ja, und zwar wundervolle Lippen.

Sie ließen ihn an weiche Matratzen und lange Winternächte denken, und für einen Mann, dessen Gedanken in den vergangenen vier Jahren allein um seine Tochter gekreist waren, war das verdammt beunruhigend.

»Nein«, sagte er mit einem heiseren Krächzen. »Du hast nichts im Gesicht. Du siehst großartig aus.«

Ihre Wangen röteten sich, und sie wandte den Kopf ab und winkte der Menge auf ihrer Seite des Schlittens zu.

Und da war er wieder, der überwältigende Drang, sie zu küssen. Er musste sich alle Mühe geben, dem zu widerstehen. Sarah war nur für kurze Zeit in Twilight. Sie kam aus der Großstadt, und er war aus der Provinz.

Was ist so verkehrt an einer kurzen Affäre? An zwei Freunden, die sich eine schöne Zeit miteinander machen? Solange du dem nicht zu viel Gewicht beimisst …

Ganz bestimmt nicht. Er würde nichts mit ihr anfangen. Zum einen war da Jazzy. Es wäre ein Riesenfehler, sich mit dem Idol seiner Tochter einzulassen. Außerdem hatte er das starke Gefühl, sollte er je mit Sarah Collier ins Bett gehen, würde ihm eine Woche mit ihr niemals reichen.

Sarah wusste nicht, wie sie die Parade hinter sich gebracht hatte. Sie hatte gelächelt und gewinkt und die ganze Zeit über gedacht: Ich sitze neben Travis Walker. Hier sitze ich Schulter an Schulter mit dem Mann, dem ich unbedingt aus dem Weg gehen wollte.

Nachdem er ihr verkündet hatte, er wisse nun, wer sie sei, hatte Travis nichts mehr zu ihr gesagt. Was mochte er denken? Sie zuckte innerlich zusammen, wenn sie sich vorstellte, welche Szene sich gerade in seinem Kopf abspielte. Ob er insgeheim die Augen verdrehte darüber, dass er auf demselben Umzugswagen gelandet war wie die an einen Stalker erinnernde Fünfzehnjährige, die ihm bei seiner eigenen Hochzeit lauthals erklärt hatte, er sei ihre einzig wahre Liebe?

Sie rutschte tiefer in ihren Sitz, hielt den Blick fest auf die Menge gerichtet, weg von Travis, und ignorierte ihr heftig klopfendes Herz und den Schweiß, der sich am Kragen ihres Pullovers sammelte.

Endlich, nach einer scheinbaren Ewigkeit, die in Wirklichkeit nicht länger als eine halbe Stunde gedauert hatte, traf der Umzug wieder am Football-Platz der Highschool ein. Im selben Augenblick, in dem der Wagen zum Stehen kam, sprang Sarah auf, um vom Schlitten zu klettern, doch dazu hätte sie sich an Travis’ langen, kräftigen, weit ausgestreckten Beinen vorbeidrücken müssen. Sie zauderte. Weshalb ließ er sie nicht vorbei? Wollte er sie necken?

Dann sah sie warum, und kam sich vor wie ein Trottel, weil sie gedacht hatte, er hätte sich wegen ihr so verhalten. Er richtete Jazzys Mütze, achtete darauf, dass ihre Ohren bedeckt waren. »So, meine Süße«, sagte er, »deine Öhrchen müssen schön warm bleiben.«

»Oh, Daddy«, sagte Jazzy genervt, »es geht mir gut.«

»Ja, den Eindruck habe ich auch«, bestätigte er.

Der Ausdruck auf seinem Gesicht war so zärtlich, dass er Sarah ins Herz traf. Schnell schaute sie zur Seite und erblickte zwei Schüler, die eine Leiter an den Umzugswagen lehnten. Travis stand auf und übergab Jazzy seiner Tante Raylene, die unten wartete.

Doch anschließend kletterte er immer noch nicht die Leiter hinunter. Sie hatte vergessen, wie langsam die Dinge in Twilight abliefen. Sarah holte tief Luft. Geduld, Geduld.

Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte hinauf in den Himmel. »Na sieh mal einer an«, sagte er und klang eher wie ein Texas Cowboy als wie ein viktorianischer Weihnachtsmann. »Schau mal!«

»Was ist?« Sarah blinzelte hinauf in die Dunkelheit.

»Ein kleines bisschen Weihnachtszauber.«

»Hm?«

Er hob eine weiß behandschuhte Hand und fing eine dicke, weiche Schneeflocke auf. Sie schmolz, sobald sie auf seinen Handschuh traf. »Es schneit. Du weißt, wie selten das vorkommt? Wenn überhaupt, haben wir nur ein-, zweimal im Jahr Schnee, und jetzt schneit es, genau an dem Tag, an dem du nach Hause zurückgekehrt bist, Sarah Collier.«

»Twilight ist nicht meine Heimat«, erwiderte Sarah steif.

»Äh-ähm.« Travis grinste hinter dem albernen Weihnachtsmannbart. Um ihn herum tanzten Schneeflocken. Er sah aus, als würde er bei einem Verkaufssender im Fernsehen auftreten.

»Was soll das heißen?« Sein eingebildetes Lächeln ging ihr auf die Nerven.

»Gar nichts. Wie geht es übrigens deinen Eltern?«

Sie zuckte die Achseln. »Gut. Ich sehe sie nicht oft. Du weißt schon, dasselbe wie immer: wichtige Herzchirurgen, die zu beschäftigt sind für ein Familienleben. Was macht dein Vater?«

Travis’ Gesicht verdüsterte sich, und er senkte die Stimme. »Er ist gestorben.«

»Oh.« Was sollte sie dazu sagen? Das tut mir leid kam ihr so unangemessen vor. Sarah war nie gut darin gewesen, Menschen zu trösten. Sie tendierte eher dazu, sie so zu behandeln, wie sie selbst gern behandelt werden wollte, und ließ sie in Ruhe, damit sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern konnten. »Ähm … das ist schrecklich zu hören.«

»Es ist schon ein paar Jahre her«, sagte er schlicht, als hätte er den Tod seines Vaters bereits verarbeitet.

»Dann bist du jetzt also brav geworden?«

Er blickte auf Jazzy hinab, die inmitten einer Gruppe in sie vernarrter Damen stand. »Ich bin brav.«

Sarah verlagerte ihr Gewicht. Zeit, sich zu verabschieden, bevor sie sich noch in ein richtiges Gespräch verstrickten, das irgendwohin führte, wohin sie nicht gehen wollte. Sarah machte einen Schritt an ihm vorbei zur Leiter. Er streckte seine Hand aus, um ihr zu helfen, aber sie zog es vor, seine Hand zu übersehen und ohne Hilfe nach unten zu klettern.

Was sie nicht bedacht hatte, waren die herumwirbelnden Schneeflocken, die schmolzen, sobald sie auf den Boden trafen. Das hier war Nord-Zentral-Texas, und selbst wenn es schneite, war der fette Boden warm. Die Flocken konnten noch so heftig vom Himmel fallen, der Schnee blieb nicht liegen. Man nehme die Nässe, dazu die Metallstufen der Leiter und modische Stiefel mit Zehn-Zentimeter-Absätzen, und man hatte das perfekte Rezept für ein Desaster. Was Sarah zwei Sekunden zu spät klar wurde.

Ihr Stiefel traf auf die nasse Sprosse, und ihr Fuß glitt ab.

»Oh!« Sie schnappte nach Luft, ruderte mit den Armen, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, doch dann geriet ihr anderer Fuß ins Rutschen, und Sarah wusste, dass sie stürzen würde.

Die Frauen, die am Fuß der Leiter zusammenstanden, streckten die Arme nach ihr aus, sogar die kleine Jazzy. In ihrem Isabella-Kostüm sah sie aus wie Sarahs junge Heldin, die darauf wartete, sie aufzufangen.

Aber sie fiel nicht.

Zwei starke Arme umfassten sie und zogen sie zurück auf den Umzugswagen. Travis hatte die Hände unter ihrer Brust verschränkt, sein warmer Atem strich ihr über die Schläfe. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie albern sie aussehen musste. Wenngleich das nicht das erste Mal war, dass sie sich vor ihm lächerlich gemacht hatte.

»Alles okay?«, murmelte er.

Sie legte den Kopf schräg, blickte in diese umwerfenden grauen Augen, die so viele ihrer Teenager-Fantasien beflügelt hatten, und schluckte. »Prima«, brummelte sie.

Zum Glück ließ er sie los, denn sie befürchtete, er könnte bemerken, dass ihre Brustwarzen unter dem Pullover plötzlich hart geworden waren. Diese unerwartete Wende der Ereignisse entsetzte sie.

Jetzt legte er die Hand auf ihren Rücken, um ihr Halt zu geben. Ein Schauder rieselte ihr das Rückgrat hinunter. Seine grauen Augen funkelten schalkhaft.

Der Song »Santa Baby« in der Version von Eartha Kitt (gegen die jede andere Interpretation verblasste) ging ihr durch den Kopf. Sie biss sich auf die Unterlippe und gab sich große Mühe sich zu beherrschen, doch ihre alten Schulmädchenträume kehrten mit aller Gewalt zurück, befeuert von ihrer Erfahrung als Erwachsene.

Sie riss sich mit einem Ruck von ihm los, unfähig, den Tumult von Gefühlen unter Kontrolle zu bringen, der in ihr tobte. Sei gleichgültig, bleib ruhig, reiß dich zusammen. Du bist Sadie Cool, also benimm dich auch so.

»Nun«, plapperte sie. »Vielen Dank.«

Ja, sie war ja so cool.

Einer seiner Mundwinkel zog sich nach oben, und ein schelmischer Ausdruck trat auf sein Gesicht, als stellte er sich vor, wie sie nackt aussah. »Keine Ursache.«

Sarah spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, und senkte schnell den Kopf, damit er nicht merkte, was in ihr vorging. Sie hätte es nicht ertragen können, wenn er dachte, dass sie noch immer für ihn schwärmte. Sie stand nicht mehr auf ihn. Ganz und gar nicht. Sie war eine erwachsene Frau, eine erfolgreiche Kinderbuchautorin, und er war …

Ein äußerst durchtrainierter Cowboy-Weihnachtsmann mit Schnee im Bart.

Sie verspürte ein sehnsüchtiges Verlangen in ihrem Solarplexus. Nicht gut. Zeit zu verschwinden. Kein weiterer Weihnachtszauber-Unsinn. Irgendwie schaffte sie es wohlbehalten die Sprossen hinunter, nur um von den Damen umringt zu werden, die auf sie gewartet hatten.

»Willkommen«, sagte eine von ihnen. »Wir sind die Mitglieder des First Love Cookie Clubs, und wir sind diejenigen, die Sie nach Twilight eingeladen haben, Miss Cool. Vielen, vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Es ist schön, Sie wieder hier zu haben.«

Dann fingen sie alle auf einmal an zu reden, und sie stellte fest, dass viele von ihnen Freundinnen ihrer Großmutter gewesen waren, auch wenn sie sich nicht an alle Namen erinnern konnte. Sie umarmten sie und stellten sich ihr vor, dann umarmten sie sie wieder. Sie dufteten nach Chanel No. 5, Vanille, Zimt und Lavendelseife.

Das war zu viel für sie. Menschenmengen machten sie immer nervös, und freudestrahlende Fremde, die sie berühren wollten, umso mehr. Das hier war beinahe genauso aufreibend, wie oben mit Travis auf dem Umzugswagen zu sitzen. Sie blickte über die Schulter in seine Richtung. Er stand ein paar Schritte von ihr entfernt am Boden und hob Jazzy auf seine Schultern. Das kleine Mädchen hatte den Kopf zurückgeworfen, sein fröhliches Kinderlachen erfüllte die Luft.

Ein neues Gefühl verdrängte ihre Wehmut und Beklommenheit, und in diesem Augenblick erfuhr Sarah eine Einsamkeit, so düster und überwältigend, dass ihr die Luft aus den Lungen wich. Am liebsten wäre sie direkt zum Merry Cherub zurückgekehrt und mit einem guten Buch ins Bett gehüpft.

Doch die sieben Damen des First Love Cookie Clubs hatten andere Pläne. Dotty Mae Densmore, Gramma Mias ehemalige beste Freundin, wenngleich die zwei so verschieden wie Tag und Nacht gewesen waren, hakte sich bei ihr unter. »Komm«, sagte sie, »wir gehen auf eine Party.«

»Ähm, auf eine Party?«

»Das ist Tradition. Der First Love Cookie Club veranstaltet jedes Jahr eine Dickens-Gala, und du bist der Ehrengast.«

Sarah blickte sich um in der Hoffnung, dem zu entkommen, aber ihr wollte keine vernünftige Ausrede einfallen. Sie sah, wie der Weihnachtsmann und Jazzy in einen braunen Pick-up einstiegen.

Hör auf, ihn anzustarren.

Doch das tat sie nicht, und als er sich noch einmal umdrehte, bevor er hinters Lenkrad glitt, warf er ihr einen Blick zu, der Sarahs Herz Purzelbäume schlagen ließ.

»Sie kommen mit uns«, sagte Raylene Pringle und trat zu ihnen, um Sarahs anderen Arm zu nehmen.

Der Rest der Gruppe folgte ihnen zu einem weinroten Minivan, der ein kleines Stück von den Umzugswagen entfernt parkte.

»Wohin fahren wir?«, fragte Sarah, die das Gefühl hatte, entführt zu werden.

»Zum Horny Toad«, antwortete Belinda Murphey und startete den Motor.

»Entschuldigung?«

»Du bist wirklich zu lange fort gewesen« – Dotty Mae, die nach Pfefferminz und Oil of Olaz roch, tätschelte Sarahs Hand –, »wenn du dich nicht mal daran erinnerst, dass Raylene und Earl die Horny Toad Tavern gehört. Sie haben das Lokal extra wegen der Party für die Öffentlichkeit geschlossen und es richtig festlich hergerichtet. Es wird dir gefallen.«

Das bezweifelte Sarah ernstlich, auch wenn sie die Damen des Plätzchenclubs dorthin begleitete. Bring diese Woche einfach hinter dich. Bald schon wirst du wieder in New York sein und mit deinem neuen Buch kämpfen.

Ein paar Minuten später hielten sie vor der Horny Toad Tavern, die nicht viel mehr war als eine Spelunke, doch der Parkplatz war gesteckt voll mit Fahrzeugen, die meisten davon Pick-ups oder Geländewagen.

Als sie eintraten, wurden sie beinahe erschlagen von der weihnachtlichen Stimmung. Aus der Musikbox in der Ecke dröhnte Weihnachtsmusik; Tim McGraw sang sein schmalziges »Dear Santa«. Ein ausladender, über zwei Meter hoher künstlicher Weihnachtsbaum, überladen mit silbernem und rotem Weihnachtsschmuck, nahm eine ganze Wand ein. Fast jeder der Anwesenden hatte ein Kostüm an, entweder ein viktorianisches oder irgendeine kitschige Weihnachtsaufmachung. Seit ihrem Auftritt mit dem Rentiergeweih und dem Glöckchen-Pullunder hatte Sarah nichts dergleichen mehr getragen. Köstliche Gerüche stiegen ihr in die Nase. Die Billardtische waren zu Büfetttischen umfunktioniert worden, auf einem davon standen ausschließlich Desserts.

Sarah leckte sich die Lippen beim Anblick von Schokotoffeeplätzchen. Schokolade war ihre Schwäche, weshalb sie fast gänzlich darauf verzichtete. Eine Bowle-Schüssel mit Eggnog, einem weihnachtlichen Getränk aus Alkohol, Zucker, Sahne und Eiern, thronte an einem Ende der Bar, am anderen standen Martinigläser mit einer rot-weißen Flüssigkeit darin.

»Cranberry Snowdrifts«, erklärte Raylene, die neben ihr stand. »Sie werden aus Preiselbeersaft, Crème de cacao und einem weißen Schokoladenlikör gemixt. Bedienen Sie sich.«

Sarah war keine große Trinkerin, aber der Alkohol half, ihre nervöse Beklommenheit zu mildern, die sie bei gesellschaftlichen Anlässen stets verspürte. Sie probierte einen der Cocktails und fand, dass er erstaunlich gut schmeckte. Sie nippte an ihrem Drink und versuchte, so wenig wie möglich aufzufallen, aber Dotty Mae und ihre Mannschaft ließen ihr keine Gelegenheit dazu. Sie versicherten ihr, wie großartig es sei, sie wieder in Twilight zu haben. Sie sprachen von ihrer Großmutter. Sie erzählten ihr Geschichten aus ihrer Kindheit. Voller Panik, dass jemand ihren extremen Fauxpas in der presbyterianischen Kirche zur Sprache bringen würde, zwang sich Sarah zu einem Lächeln. »Ich denke, ich sollte mich unter die Menge mischen.«

»Unbedingt, meine Liebe, wir wollen dich nicht mit Beschlag belegen«, sagte Dotty Mae.

Doch als sie sich von der Gruppe befreit hatte, stellte sie fest, dass sie niemand sonst kannte. Sie würde ihren Drink austrinken, eine Runde drehen und sich dann verdrücken. Für heute hatte sie genug gesellschaftlichen Umgang gepflegt.

Wenn du solchen Veranstaltungen einfach mal eine Chance geben würdest, würdest du womöglich feststellen, dass sie dir Freude machen, schalt sie Bennys Stimme.

Ihr Agent sagte ihr wieder und wieder, sie solle sich dem Leben öffnen und ein bisschen Spaß haben. Doch er hatte gut reden! Für ihn war das leicht, für Sarah dagegen standen Unterhaltungen mit Fremden auf ihrer Liste mit Dingen, die sie am wenigsten mochte, in etwa an derselben Stelle wie Wurzelbehandlungen.

Na gut, Small Talk ist nicht gerade deine Stärke, aber mit Sicherheit gibt es hier irgendetwas, das dir gefällt. Gib dir einfach mal ein bisschen Mühe!, flüsterte der imaginäre Benny wieder.

Ihr fiel ein gewisser sexy Santa mit lebhaften grauen Augen und einem einnehmenden Lächeln ein, und ihr Herz machte einen merkwürdigen kleinen Hüpfer. Wem würde er nicht gefallen?

Es war ein alberner Gedanke, und sie schüttelte den Kopf, um ihn schnell zu vertreiben, bevor er Zeit hatte, Wurzeln zu schlagen und zu gedeihen. Sie sollte Travis lieber aus dem Weg gehen. Außerdem – ihr Blick glitt suchend über die Bar – war er nicht mal hier. Wahrscheinlich hatte er seine Tochter nach Hause gefahren und brachte sie gerade ins Bett.

Mach dir doch nichts vor. Das, was du jetzt am wenigsten brauchst, ist eine Affäre mit Travis Walker.

Nachdem eine halbe Stunde lang Kinder an seinem Bart gezupft und sich Babys die Lunge aus dem Leib gebrüllt hatten, weil sie sich vor ihm fürchteten, hatte Travis es eilig, aus seinem Weihnachtsmannkostüm herauszukommen und Jazzy rüber zur Bibliothek zu einer Vorlesestunde zu bringen. Er räumte seinen Platz im Weihnachtsmannpavillon, den man auf dem Rathausrasen aufgestellt hatte, wünschte dem Fotografen eine gute Nacht und holte Jazzy von der Nordpol-Hüpfburg ab. Normalerweise hätte er ihr niemals erlaubt, auf eine Hüpfburg zu klettern – viel zu viele Bazillen, viel zu viel Gehüpfe für ein Kind mit schwerem Asthma –, aber seit sie das neue Medikament bekam, machte sie sich so prächtig, dass er es nicht übers Herz gebracht hatte, es ihr zu verbieten. Das arme Kind hatte schließlich ein bisschen Spaß verdient.

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu, um sich zu vergewissern, dass es ihr immer noch gut ging – kein Pfeifen, keine blauen Lippen, kein Fieber –, und atmete erleichtert aus. Erst da fiel ihm auf, dass er die Luft angehalten hatte, während er darauf wartete, dass sie aus der Hüpfburg gekrabbelt kam, die Wangen vor Aufregung gerötet, die Augen funkelnd.

Travis setzte sie in der Bibliothek ab und machte sich auf den Weg zur Party im Horny Toad. Travis liebte Partys, obwohl er in den vergangenen vier Jahren wegen Jazzy so gut wie keine besucht hatte. Es war schön zu wissen, dass es ihr gut ging und es daher in Ordnung war, wenn er ein wenig auf den Putz haute.

Er fühlte sich so jung wie schon lange nicht mehr, als er in seinen Pick-up stieg und Richtung Highway 377 zum Stadtrand fuhr, wo das Horny Toad lag. Er fragte sich, ob Sarah noch dort war, und dann fragte er sich, warum er sich das fragte. Sie war doch bloß eine gute Woche in der Stadt. Es hatte keinen Sinn, sich etwas zu wünschen, von dem er nicht mal wusste, ob er es wirklich wollte.

Natürlich war es ein seltsamer Zufall, dass sich Jazzys Lieblingsschriftstellerin als Mia Martins Enkelin entpuppt hatte. Travis hatte den heimlichen Verdacht, dass Tante Raylene und ihre Kohorten Kupplerinnen spielten. Er fand es amüsant, und er fragte sich, ob Sarah bemerkt hatte, was da vor sich ging.

Diese Stadt verstand sich auf romantische Legenden und schlachtete sie gnadenlos aus. Die Geschichte von Sarah, wie sie in seine Hochzeit mit Crystal geplatzt war, zählte zu jenen, die sie liebend gern weitertratschten. Und was, wenn Sarah wirklich seine Seelenverwandte war? Er konnte förmlich hören, wie die Damen des First Love Cookie Clubs diese Frage erörterten.

Er bog von der Ruby Street ab und fuhr am Friedhof von Twilight vorbei, wo all seine Vorfahren beerdigt waren, einschließlich seiner Eltern. Beide waren viel zu jung gestorben, seine Mutter vor vierzehn Jahren im Alter von achtunddreißig, sein Vater war sechs Jahre später mit vierundvierzig gefolgt. Auch seine Eltern waren Teil der Märchen über die einzig wahre Liebe geworden, von denen es in Twilight nur so wimmelte. Um ehrlich zu sein, dienten die fantasievollen Geschichten, die sich die Stadtgründer ausgedacht hatten, allein dazu, Touristen nach Twilight zu locken, aber irgendwie vergaßen das die Leute und fingen an, daran zu glauben.

Travis hatte ein Geheimnis, das er noch nie jemandem anvertraut hatte. Die romantischen Mythen machten ihm Angst. Seine Eltern waren schwer ineinander verliebt gewesen. Sie hatten beide geglaubt, sie seien seelenverwandt, waren überzeugt gewesen, ihre einzig wahre Liebe gefunden zu haben. Während er bremste und vor einer Ampel anhielt, dachte er an seine Eltern, wie sie gewesen waren, bevor das Asthma das Beste von seiner Mutter geraubt hatte. Sie waren so voneinander eingenommen gewesen, dass er sich des Öfteren wie ein Außenseiter vorgekommen war.

Nach dem Tod seiner Mutter hatte sich sein Vater gehen lassen. Er hatte aufgehört, auf sich zu achten, hatte aufgehört, auf Travis zu achten, hatte aufgehört, überhaupt etwas um sich herum wahrzunehmen. Er hatte sich in sich selbst zurückgezogen, sich aus dem Leben zurückgezogen, und schließlich … Travis hatte versucht, zu seinem Vater durchzudringen, aber es war, als würde er versuchen, mit einer Wand zu sprechen. Letztlich hatte die starke Liebe zu seiner Frau und seine Unfähigkeit, ohne sie zurechtzukommen, Chuck Walker das Leben gekostet.

Travis hatte den Schmerz gesehen, den sein Vater nach dem Tod seiner Mutter durchmachte, hatte aus erster Hand erfahren, wie Trauer einen Mann vollends vernichten konnte, und als er seinen Vater beerdigt hatte, hatte er beschlossen, sich niemals derart rückhaltlos zu verlieben.

Seiner Meinung nach war das den Preis nicht wert.