Kapitel drei

Als der Dezember heranrückte, war Sarah mit ihrem Buch noch nicht weiter als im Oktober. Oh, sie hatte viel geschrieben, aber nichts davon hatte sie wirklich überzeugt. Nichts stimmte. Sie hatte geschrieben, überarbeitet, verworfen. Abscheu war das einzige Gefühl, das sie diesem Werk entgegenbrachte, und Abscheu war nicht gerade ein Gefühl, auf das man eine erfolgreiche Story aufbauen konnte.

Im Vergleich dazu wirkte es nahezu verführerisch, nach Twilight zurückzukehren, was davon zeugte, wie verzweifelt sie war. Schließlich hätte sie bislang lieber Ferien in Bagdad gemacht, als an den Geburtsort ihrer Großmutter zurückzukehren.

Doch am ersten Donnerstag im Dezember, als ein Fahrer das Lincoln Town Car, das am Dallas/Fort Worth International Airport für sie bereitgestanden hatte, an dem »Willkommen in Twilight, der freundlichsten Stadt in Texas«-Schild vorbeigesteuert hatte und sie in der Ferne den Lake Twilight blau schimmern sah, wurde sie von tiefer Nostalgie erfasst. Wie sehr sie Gramma Mia vermisste! Selbst jetzt noch konnte sie den Duft nach frisch gebackenem Hefeteig und süßer, hausgemachter Pfirsichmarmelade in der Küche ihrer Großmutter riechen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie die Trauer wie ein Schlag auf den Brustkorb treffen würde, als der Fahrer in die Ruby Street mit ihren großen, schützenden Ulmen bog, die beide Straßenseiten säumten. Die Stadt war genau so, wie sie sie in Erinnerung hatte. Nichts hatte sich verändert. Fast jeder Garten, den sie passierten, war weihnachtlich geschmückt. Die Leute lächelten, nickten und winkten dem vorbeifahrenden Wagen zu, als wären sie Freunde, die sie willkommen hießen.

Twilight zählte zu den besonders bezaubernden Touristenstädtchen, wie man sie häufig an den Flüssen und Küsten sowie am Fuße der majestätischen Berge fand. Saftige grüne Rasenflächen und weiße, kniehohe Gartenzäune umgaben die meisten der im viktorianischen, im Cape-Cod- oder im Craftsman-Stil gebauten Häuser, die die Gegend um den Hauptplatz und den See herum dominierten. Flaggen als Zeichen von Patriotismus flatterten auf den Dächern, Windspiele erklangen in Eichen. Kitschige rosa Flamingos und Holzsägearbeiten von Damen in Bloomers-Kostümen sprenkelten die Landschaft.

Im Frühling und Sommer waren die Blumenbeete der Traum eines jeden Blumenliebhabers. Pflanzkästen und Hängekörbe beherbergten eine Vielfalt von Petunien, Immergrün und Stiefmütterchen. Ende Februar, Anfang März quollen die Beete entlang der Gehwege über vor Narzissen, Amaryllis und Hyazinthen, um später durch Iris, Gladiolen und Taglilien ersetzt zu werden. Alokasien, wegen ihrer großen, spitz zulaufenden fächerförmigen Blätter auch Elefantenohren genannt, zählten zu den beliebtesten Pflanzen, die in dem schroffen Boden von Texas gediehen, zusammen mit Salbei, Geranien und Begonien. Um diese Jahreszeit sorgten überwiegend Weihnachtskakteen und rostrote Chrysanthemen für Farbtupfer.

Die liebliche Vertrautheit ließ sie salzige Tränen auf der Zunge spüren. Sie umklammerte mit beiden Händen ihre Handtasche und ballte die Finger um die Riemen aus italienischem Leder zu Fäusten, um zu verhindern, dass sie den Fahrer bat, den Wagen zu wenden und schnurstracks zum Flughafen zurückzukehren.

Der Lincoln bog um die Ecke zum Stadtplatz mit seinem prächtigen alten Rathaus, das 1870 erbaut worden war, als die Stadt noch in den Kinderschuhen steckte. Sämtliche Gebäude, welche an die vier Quadranten des Rathauses angrenzten, stammten aus derselben Ära. Wenn sie als Kind durch die Straßen von Twilight spaziert war, hatte Sarah oft erwartet, Jesse James zu begegnen, der sein Pferd an einer der hölzernen Pferdestangen festband, die immer noch vor dem Funny-Farm-Restaurant standen. Es ging das Gerücht, dass der berüchtigte Gesetzlose einst die Höhlen in der Gegend des Brazos River als Versteck genutzt hatte.

Im Augenblick allerdings überlagerte Charles Dickens die gewohnte Wildwest-Architektur. Jedes Jahr am ersten Wochenende im Dezember veranstaltete die Handelskammer von Twilight ein Dickens-Festival auf dem Stadtplatz. Um zehn Uhr morgens waren die Handwerker eifrig damit beschäftigt, rund um die Rasenfläche des Rathauses verschiedene Bühnen aufzubauen. Weihnachtssänger trällerten ihre Lieder und probten ihre verschiedenen Stimmlagen. Straßenverkäufer errichteten die Stände, an denen sie ihre Waren feilbieten wollten: viktorianisch geprägtes Kunsthandwerk, Kleidung, Schmuck und Weihnachtsartikel.

Am Freitagabend wurde die Veranstaltung offiziell mit einem Laternenzug eröffnet, »Königin Viktoria« an der Spitze, gefolgt von Umzugswagen, auf denen die verschiedenen Figuren aus den Romanen von Charles Dickens zu sehen waren. Auf dem letzten Wagen thronte traditionsgemäß der Weihnachtsmann. Von all den Festivitäten, die diese Festivals liebende Stadt veranstaltete, hatte das Dickens-Festival Sarah stets am besten gefallen. Dieser Festzug, der das neunzehnte Jahrhundert in England zum Thema hatte, sprach irgendwie ihre romantische Natur an.

Ja, damals, als du fünfzehn und ein albernes kleines Mädchen warst.

Sie schüttelte den Kopf und blickte aus dem Fenster. Ihre Augen blieben an den Männern in der Menge hängen. Beim Anblick eines großen, dunkelhaarigen Mannes machte ihr Herz einen seltsamen kleinen Satz, und Sarah stellte fest, dass sie unbewusst nach Travis Ausschau hielt. Der Mann drehte sich um, und als sie sah, dass er nicht Travis war, stieß sie mit einem langen Seufzer die Luft aus, die sie, ohne es zu merken, angehalten hatte.

Vor einem restaurierten, blassrosa gestrichenen viktorianischen Haus hielt der Fahrer an. Über den ganzen Vorgarten waren Engel verteilt. Auf dem Schild vor dem Eingang stand: »The Merry Cherub – Bed & Breakfast«. Der Name passte – hier schien es vor fröhlichen Cherubim zu wimmeln.

Sarah ging die Stufen hinauf, doch bevor sie läuten konnte, wurde schwungvoll die Tür von einem Mann mittleren Alters geöffnet, der in Charles-Dickens-Manier gekleidet war: Zylinder, Gehrock, Spazierstock. Er wirkte auf charmante Weise originell und gleichzeitig absolut lächerlich.

»Hallo, Miss Cool«, dröhnte er und streckte die Hand aus. »Bürgermeister Moe Schebly. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«

Sarah gab ihm die Hand, die er auf- und abschwenkte, als versuchte er, Wasser zu pumpen. »Vielen Dank für die Einladung, Herr Bürgermeister.«

»Wir freuen uns, dass Sie sich trotz Ihres vollen Terminkalenders Zeit für uns genommen haben.«

»Es ist mir ein Vergnügen.«

»Wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich gern rasch mit Ihnen die Details der heutigen Abendveranstaltungen und Ihre Aufgaben besprechen, bevor Sie Ihr Zimmer beziehen.« Er tippte auf seine Armbanduhr. »Charles Dickens muss sich an einen straffen Terminplan halten.«

»Ich verstehe.«

Der Bürgermeister zog eine Broschüre und ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner dunkelgrauen Weste und reichte es ihr. »Sie nehmen natürlich an dem Umzug teil, Sie sitzen zusammen mit dem Weihnachtsmann und der kleinen Jazzy auf dem letzten Wagen. Sie müssen kein Kostüm tragen, obwohl ich mir die Freiheit herausgenommen habe, mehrere Gewänder in Ihrem Zimmer zurechtzulegen, sollten Sie sich doch dafür entscheiden.«

»Ähm … gut.«

»Wenn Sie irgendwelche Fragen haben, rufen Sie mich auf dem Handy an; ich habe die Nummer auf dem Blatt mit Ihren Terminen notiert.«

»Vielen Dank.«

»Um siebzehn Uhr sehe ich Sie auf dem Football-Platz der Highschool. Dort machen wir die Umzugswagen fertig. Ich habe Ihnen der Einfachheit halber einen Stadtplan beigelegt«, sagte Bürgermeister Moe alias Charles Dickens. »Jetzt muss ich mich aber beeilen! Bis später!«

Und damit war er verschwunden.

Eine Frau, etwa zehn Jahre älter als Sarah, hatte hinter dem hastig seine Instruktionen herunterratternden Bürgermeister gestanden. Auch sie trug viktorianische Kleidung. Die alte Sarah hätte bei all dieser Romantik geseufzt, Sadie Cool dagegen fragte sich, wie unbequem dieses Korsett wohl sein mochte.

»Hallo.« Die Frau lächelte warmherzig. »Ich bin Jenny Cantrell; meinem Mann Dean und mir gehört das Merry Cherub. Es ist wunderbar, Sie kennenzulernen, Miss Cool. Bitte folgen Sie mir, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«

Erst jetzt konnte Sarah einen Blick auf die Einrichtung werfen. In stummem Erstaunen schaute sie sich um. Das B&B war überflutet von Engeln. Engel waren auf der dicken Velourstapete. Von der Decke hingen Engel-Mobiles, die sanft in der aufsteigenden Heizluft schaukelten. Engel waren in die Holztreppe geschnitzt und in die beeindruckenden Kranzprofile. Engel aus Keramik und Porzellan standen in einer Mahagonivitrine neben der Eingangstür. Es gab einen Engelsschirmständer, eine Engelsgarderobe und sogar einen Engelsschaukelstuhl. Die Engel waren in jedem erdenklichen Stil und in allen möglichen Farben vertreten. Es gab runde Putten, die aussahen wie Babys; lustige, verspielte Cartoon-Engel; große schlanke Engel mit windzerzaustem Haar, Heiligenscheinen und huldvollen Gesichtern.

Verunsichert folgte Sarah Jenny, die bereits die Treppe hinaufging.

Am oberen Treppenabsatz blieb Jenny stehen und zog einen Schlüssel aus der Tasche. »Ich gebe Ihnen das VIP-Zimmer.«

Der ganze Raum – natürlich auch im Engelsthema – war in verschiedenen Rosatönen gehalten. Es sah wahrhaftig so aus, als hätte der Himmel Pepto-Bismol erbrochen, nachdem er Zuckerwatte gegessen hatte. Auch Sarah hatte diese knallrosa Medizin des Öfteren nehmen müssen, wenn sie bei Gram zu viele Köstlichkeiten in sich hineingestopft hatte. Sie musste zugeben, dass das Dekor etwas gewöhnungsbedürftig war. Aber es gab eine nette Wellness-Badewanne, und das Bett sah weich und bequem aus.

Jenny reichte Sarah den Zimmerschlüssel. »Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie einfach an der Rezeption an.«

Sarah ging durchs Zimmer und ließ sich in den malvenfarbenen Zweisitzer fallen, der neben dem Fenster stand. Sie spähte durch die Spitzengardine auf die Straße unter ihr. Das Haus ihrer Großmutter lag ein paar Blocks entfernt, unten am Wasser am Lakeshore Drive. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, es zu sehen. Ihre Eltern hatten es nach Grammas Tod verkauft, ohne sie auch nur nach ihrer Meinung zu fragen. Ein weiterer Grund für das Zerwürfnis mit ihren Eltern, wenngleich Sarah vermutete, dass sie davon ausgegangen waren, sie würde nach ihrer Riesenblamage nie mehr nach Twilight zurückkehren. Sie selbst hatten das Haus offenbar nicht behalten wollen.

Erinnerungen stürzten auf sie ein. Blitzartig fiel ihr die Sarah von früher ein: übergewichtig, die Nase in ein Buch gesteckt, damit sie sich verstecken konnte vor den Dingen, die sie beschäftigten. Einst war Twilight Teil ihres magischen Entrinnens gewesen, ihrer Flucht vor dem Internat und ihren Eltern, die unmöglich hohe Erwartungen an sie stellten. Sie hatte die Tage bis zu den Sommerferien, bis Weihnachten gezählt.

Und dann hatte sie sich selbst diesen Zufluchtsort genommen.

Die Bewohner von Twilight liebten ihre Festivitäten. Sie waren nie um eine Ausrede verlegen, wenn es um das Veranstalten eines Festivals, Volksfests oder sonst einer großen Party ging. Zum Teil war das der Haupteinnahmequelle des Städtchens zuzuschreiben, und die war nun einmal der Tourismus. Dennoch konnte eine Sache nicht ignoriert werden: der Hang zur Romantik, der den Einwohnern sozusagen in die Wiege gelegt worden war.

Die Stadt selbst war angeblich von zwei Liebenden gegründet worden, die der Legende nach während des Amerikanischen Bürgerkriegs getrennt worden waren. Fünfzehn Jahre später hatten sie an den Ufern des Brazos River, dort, wo nun Twilight stand, wieder zueinander gefunden. Doch davon stand nichts in den Geschichtsbüchern. Die offizielle Version lautete, dass Twilight einst ein Militärfort gewesen war, welches die Aufstände der gewalttätigen Kiowa und Komantschen verhindern sollte, die zu jener Zeit überhandnahmen.

Doch die Realität bescherte ihnen keine Touristen.

Die Geschichte von Colonel Jon Grant dagegen, der als Befehlshaber über das Fort gekommen war, und Rebekka Nash, seiner späteren Braut, schon, und so wurde sie zur bevorzugten Gründungsgeschichte.

Nicht dass Travis an derartigen Unsinn geglaubt hätte. Dieser ganze vom Schicksal bestimmte »Und sie lebten glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage«-Quatsch interessierte ihn nicht. Er wusste es besser. Das Einzige, an das er glaubte, war seine Tochter – Jasmine.

Als er sie jetzt anblickte, so kräftig und aufgeregt, schnellte seine Laune in die Höhe. Seit sechs Wochen bekam sie nun das neue Medikament, gerade war ihr die dritte Dosis verabreicht worden. Was machte es da schon, dass die siebentausendfünfhundert Dollar, die er dafür hatte ausgeben müssen, seine Ersparnisse gefährlich nahe an null gebracht hatten? Er hätte für sie liebend gern selbst seinen letzten Cent gegeben. Natürlich machte er sich Sorgen, wovon er die nächste Dosis bezahlen sollte, die unmittelbar vor Weihnachten fällig wurde, zumal er beabsichtigte, Jazzy das Weihnachtsfest so zu gestalten, wie sie es verdient hatte. Er könnte ein paar Dinge verkaufen: eine antike Schrotflinte, die sein Großvater ihm hinterlassen hatte, sein Fischerboot, die gebrauchte Kawasaki, die in der Garage stand, seit Jazzy in sein Leben getreten war und seine wilden Zeiten beendet hatte. Außerdem war da noch ihr College-Fonds. Diese Ersparnisse wollte er nicht anrühren, aber zumindest wären sie da, wenn er sie brauchte.

Aber was ist mit der Injektion danach und all den weiteren?

Travis schob seine Besorgnis beiseite. Darum würde er sich kümmern, wenn es an der Zeit war. Im Augenblick freute er sich über die Tatsache, dass seine Tochter stabil genug war, um an einem kalten Tag auf dem offenen Umzugswagen mitzufahren, ohne ein Anzeichen von Atemnot zu zeigen.

Jazzys blaue Augen waren ungewohnt fröhlich. Sie hatte die Haare zu Zöpfen geflochten und war angezogen wie die Isabella aus Das magische Weihnachtsplätzchen – rosa Trägerkleid und blaue Baumwollschürze. Seine Tante Raylene hatte ihr die Sachen genäht, nachdem sie sich in das Buch verliebt hatte. Über ihrem Kostüm trug sie ein rosa-blaues Kurzmäntelchen mit einer flauschigen Mütze. In den Händen hielt sie ihre abgegriffene Isabella-Puppe, ihre Wangen waren gerötet.

Vor Aufregung? Das war in Ordnung, aber was wäre, wenn sie Fieber hatte? Er streckte die Hand aus und legte sie ihr auf die Stirn.

Jazzy zuckte zurück und sah ihn irritiert an. »Es geht mir gut, Daddy.«

»Ich wollte nur mal fühlen.« Er lächelte.

»Der Weihnachtsmann.« Belinda Murphey hatte dafür zu sorgen, dass alle rechtzeitig auf den Umzugswagen saßen. Sie hielt ein Klemmbrett in den Händen, trug eine Lesebrille auf der Nasenspitze und eine Trillerpfeife um den Hals. »Travis, du und Jazzy könnt schon aufsteigen.«

Travis bückte sich um Jazzy hochzuheben, aber sie schüttelte energisch den Kopf. »Ich kann selber laufen. Ich bin zu groß, um getragen zu werden.«

Das stimmte nicht wirklich, aber nun gut. Vielleicht übertrieb er es tatsächlich ein wenig mit seiner Fürsorglichkeit. Es war schwierig, die rechte Balance zu finden. Einerseits musste er wachsam sein, andererseits wollte er sie so viel wie möglich selbst machen lassen, damit sie so sein konnte wie die anderen Kinder. »Natürlich kannst du das, Süße.«

Sie fing an, die Stufen hinaufzuklettern, und er legte ihr eine Hand in den Rücken. »Daddy …«, ermahnte sie ihn.

»Tut mir leid, tut mir leid.« Er zwang sich, seinen Arm herunterzunehmen.

Oben angekommen ging Jazzy zu dem Schlitten, der in der Mitte des Umzugswagens stand, und stieg mit affektierten, damenhaften Schritten ein. Jedes Mal, wenn er sie anschaute, tat sein Herz ein klein bisschen weh. Er liebte sie so sehr und mit einer Intensität, die ihm ins Herz schnitt wie ein Messer. Bevor er ein Kind gehabt hatte, hatte er nicht gewusst, dass diese Art von Liebe existierte. Er konnte immer noch nicht verstehen, wie Crystal Jazzy hatte verlassen können.

Seine Tochter machte es sich auf dem Sitz bequem, breitete ihren Rock um sich herum aus, dann blickte sie strahlend zu ihm hinunter. »Du kannst jetzt raufkommen, Daddy.«

In seinem Weihnachtsmannkostüm kletterte er die Stufen hinauf. Abgesehen von dem kratzigen Bart liebte er es, mit seiner Tochter hier zu sein und den Santa Claus zu spielen. Es machte ihn wieder fröhlich und unbeschwert – so hatte er sich seit dem Ausbruch von Jazzys Krankheit nicht mehr gefühlt.

Früher war er ein echter Hansdampf in allen Gassen gewesen, hatte nur für sein Vergnügen gelebt und an den falschen Orten nach Abenteuern gesucht. Anders hatte er nicht mit dem Kummer über den Tod seiner Mutter fertig werden können – also hatte er die ganze Zeit über Party gemacht.

Doch ein zartes kleines Mädchen hatte all das verändert.

Die neue Medizin, die Dr. Adams Jazzy verordnet hatte, obwohl sie für ihre Art Asthma gar nicht zugelassen war, hatte wahre Wunder gewirkt. Wie zum Teufel hatte er ein solcher Glückspilz sein können, eine so wunderbare Tochter, eine liebevolle Gemeinde und einen aufgeschlossenen Arzt zu haben? Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter.

Verdammt, Walker, nun werd mal nicht sentimental.

Er setzte sich neben Jazzy. »Darf ich dich auf den Schoß nehmen, oder bist du dafür auch schon zu groß?«

Sie überlegte und nickte schließlich. »Das ist in Ordnung.«

Er zog sie in seine Armbeuge und fühlte ihren Herzschlag, dann warf er einen raschen Blick auf ihre Lippen. Schön rosa. Puh!

Travis zwang sich, sich zu entspannen und sich mental auf seinen Auftritt als Weihnachtsmann vorzubereiten. Nach dem Umzug würde er von einer Schar von Knirpsen umringt sein, die darum bettelten, auf seinem Schoß sitzen und ihm ihre Wunschzettel vortragen zu dürfen. Aber er liebte es, wenn die Kinder ihn wie Bienen umschwärmten und ihn dazu brachten, dass er sich selbst wieder wie ein Kind fühlte.

Er schaute zu den anderen Wagen hinüber und sah ein schwarzes Lincoln Town Car in den Eingang zum Football-Platz einbiegen und neben den anderen Autos anhalten. Der Fahrer stieg aus und öffnete die Fondtür. Eine gertenschlanke Frau mittlerer Größe stieg aus.

Sofort wurde sie von den Leuten umringt. Travis nahm an, dass es sich um Sadie Cool handelte, die berühmte Autorin des Kinderbuches, das Jazzy so sehr liebte. Unverständlicherweise spürte er, wie sein Puls in die Höhe schnellte.

Sie ging auf die Umzugswagen zu, die Menge teilte sich, um sie durchzulassen. Travis’ Blick fiel auf ihre langen, wohlgeformten Beine. Anstelle der Weihnachtskostüme, die alle trugen, hatte sie einen maßgeschneiderten anthrazitfarbenen Bleistiftrock, einen flauschigen weißen langärmeligen Pullover unter einem eleganten, offenen Mantel und mörderische schwarze Stiefel mit hohem Absatz gewählt. Ihre Haltung war majestätisch, die Schultern gestrafft, der Kopf hoch erhoben. Manche würden sie für unnahbar halten, aber irgendetwas sagte ihm, dass sie eher schüchtern war und diese distanzierte Pose als Schutzschild verwendete. Er fragte sich, ob er der Einzige war, der die Verletzlichkeit sah, die sie so bemüht hinter ihrem strahlenden Lächeln zu verbergen versuchte.

In diesem Augenblick hob sie den Kopf, und ihre Augen begegneten seinen. Die Luft wich aus seinen Lungen, als wäre er beim Football von einem bulligen Linebacker zu Boden geworfen worden. Das Verlangen traf ihn wie ein schmerzhafter Schlag, berührte ihn tief in der Seele. Vor seinem inneren Auge konnte er sie sehen, wie sie nackt auf seinem Bett lag und ihm ein echtes Lächeln zuwarf, kokett und einladend.

Einen Augenblick mal.

Er verwarf seine nicht jugendfreien Gedanken. Sie war eine Fremde. Eine berühmte Schriftstellerin und damit gleich mehrere Nummern zu groß für ihn. Eine umwerfende Schönheit in Designer-Klamotten mit – das konnte er auf einen Blick feststellen – wirklich ansehnlichen Brüsten.

»Daddy?«

»Hm-hm?«, fragte er, ohne seine Tochter anzuschauen.

Die Frau kam ihm merkwürdig bekannt vor, aber Travis konnte sie nicht einordnen. Sie hatte ihr glattes, karamellfarbenes Haar, das glänzte wie poliertes Kiefernholz, zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fiel. Die seitlich ins Gesicht frisierten Stirnfransen verliehen ihr ein exotisches Aussehen.

Je näher sie kam, desto überzeugter war er, dass er sie kannte. Er zermarterte sich den Kopf, aber es wollte ihm absolut kein passender Name zu diesem umwerfenden Gesicht einfallen. Kannte er sie? Wenn ja, wie um alles in der Welt hatte er eine Frau wie sie vergessen können?

»Daddy.« Jazzy zupfte an seinem Ärmel.

Er riss seinen Blick von der Frau los und wandte sich zu ihr um. »Was ist, Süße?«

»Ist sie das? Ist das Sadie Cool?« Ihr kleiner Körper vibrierte wie eine Stimmgabel, und sie strahlte übers ganze Gesicht.

»Ich denke schon.«

»Sie ist so hübsch«, hauchte Jazzy. »Wie Rapunzel mit ihrem langen Haar.«

»Ja«, stimmte Travis zu. »Das ist sie.« Wieder betrachtete er die Frau eingehend. Sie kam direkt auf den Umzugswagen zu, auf dem er mit Jazzy saß, Belinda Murphey an ihrer Seite.

Sein Puls beschleunigte sich, und als sie vor dem Wagen stehen blieben und die Holzleiter hinaufkletterten, spürte Travis, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Sein Magen verknotete sich.

»Lieber Weihnachtsmann«, sagte Belinda. »Das ist Sadie Cool.«

Er streckte seine behandschuhte Hand aus, um ihre zu schütteln. »Hohoho«, sagte er lahm.

»Ich bin Jazzy«, rief seine Tochter aus und sprang von seinem Schoß, um die Arme um Sadie Cools schlanke Taille zu schlingen. »Und ich liebe Sie!«

Überwältigt blieb Sarah stehen, die Arme des kleinen Mädchens drückten sie fest. Wie sollte sie sich aus dieser Umarmung lösen? Sarah zählte nicht gerade zu den gefühlsbetonten Menschen, und sie wusste absolut nicht, wie man mit Kindern umging. Vor allem nicht mit den überschwänglichen ohne Berührungsängste. Vielleicht waren aber auch alle Kinder so. Woher sollte sie das wissen? Sie war Einzelkind gewesen, und als Babysitter hatte sie sich auch nie verdingt. Benny hatte sie gefragt, warum sie ausgerechnet ein Kinderbuch geschrieben hatte, und sie konnte es ihm nur so erklären, dass sie es für das Kind verfasst hatte, das sie einst gewesen war. Von den Eltern übersehen und unterschätzt, hatte sie eine überreiche Fantasiewelt entwickelt. Dieses Kind hier, dieses aufgeschlossene, anhängliche, fröhliche, offenbar viel geliebte Zwerglein, überrumpelte sie.

»Sie ist noch nie einer Fremden begegnet«, erklärte der Mann in dem Weihnachtsmannkostüm.

Du meine Güte, hätte sie am liebsten gesagt, hast du noch nie die Abendnachrichten gesehen? Es vergeht doch kaum eine Woche, in der nicht irgendeine Tragödie passiert, nur weil ein Kind zu vertrauensselig war. Bring deiner Tochter bei, dass Fremde gefährlich sein können. Dann wiederum fiel ihr ein, dass sie hier in Twilight war. Ob das richtig war oder falsch, die Menschen hier waren einfach argloser.

»Der Weihnachtsmann ist mein Vater.« Jazzy kicherte und strahlte Sarah an.

Na schön, dieses Kind konnte die jahreszeitlich bedingte affektive Störung mit einem dieser Eine-Million-Watt-Grinsen wettmachen. Jetzt wusste Sarah, wie sich der Grinch in Anwesenheit der couragierten Cindy Lou Hoo gefühlt haben musste. Geschlagen. »Na, dann bist du ja ein glückliches kleines Mädchen«, murmelte Sarah, die nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.

Jazzys blonde Korkenzieherlocken hüpften vor Begeisterung. »Er ist der beste Daddy auf der ganzen Welt.«

Jetzt fiel Sarah auf, dass die Kleine genauso angezogen war wie ihre Heldin Isabella aus Das magische Weihnachtsplätzchen. Ein merkwürdiges Gefühl überkam sie, das angenehm war und dann auch wieder nicht.

»Setzen Sie sich, Miss Cool«, bat Belinda Murphey. »Die Parade geht gleich los.«

Sarah blickte sich um und stellte fest, dass es nur einen freien Platz gab – neben Santa Claus auf seinem Schlitten.

Er klopfte auf den Sitz neben sich und zwinkerte Sarah mit seinen grauen Augen hinter seiner Weihnachtsmannbrille verschmitzt zu. Graue Augen, die sie an Travis erinnerten. »Pflanzen Sie sich hierher, Sadie.«

Ein flapsiger Weihnachtsmann? Nicht gerade viktorianisch. Zögernd nahm Sarah neben ihm Platz, während er Jazzy auf seinen Schoß zog. Sie hörte, wie der Motor des Umzugswagens rumpelnd zum Leben erwachte.

Auch seine Stimme erinnerte sie an Travis.

Du bist einfach überempfindlich. Komm darüber hinweg. Er ist nicht Travis.

Nein, aber früher oder später würde sie Travis über den Weg laufen, und genau das machte sie so unruhig. Nervös strich sie eine unsichtbare Falte aus ihrem knitterlosen Rock und vermied es, Santa anzublicken. Zusammen mit den anderen Umzugswagen holperte der Laster, auf dessen Ladefläche sie saßen, vom Football-Platz. Zwischen den Wagen fuhren Kutschen, Dudelsackspieler und die Cheerleader der Highschool marschierten mit dem Zug.

Jazzy lehnte sich über ihre Seite des Schlittens und winkte begeistert in die Zuschauermenge entlang der Umzugsstrecke. Als die Sonne am Horizont im See versank, flackerten die schwarzen, schmiedeeisernen Gaslaternen auf. An den Straßenständen wurden die unterschiedlichsten Gerichte angeboten, von gebratenen Putenschlegeln über Steaks am Spieß bis hin zu Shepherd’s Pie – mit Kartoffelbrei überbackenes Hackfleisch vom Lamm. Die Luft war erfüllt von dem Geruch sautierter Zwiebeln, Knoblauch und kräftigen Gewürzen.

Viele Leute trugen viktorianische Kostüme. Sarah entdeckte Beefeaters – die königlichen Leibgardisten – und Londoner Bobbys, wie die Polizisten dort genannt wurden, außerdem jede Menge Figuren aus den Romanen von Charles Dickens: Scrooge, Marley und Tiny Timm, Miss Havisham, Oliver Twist und David Copperfield. Kinder thronten auf den Schultern ihrer Väter. Mütter trugen farbenfroh dekorierte Picknickkörbe. Teenager, cool wie immer, blickten gelangweilt drein und tippten SMS’ in ihre Handys. »Weihnachtsmann! Weihnachtsmann!«, riefen die Knirpse aufgeregt, als ihr Umzugswagen vorbeifuhr.

Jazzy lehnte sich über den Schoß ihres Vaters, um Sarah etwas ins Ohr zu flüstern. »Du musst winken.«

»Wie bitte?«, fragte Sarah überrascht.

»Sie ist sehr kontaktfreudig«, erklärte der Weihnachtsmann und winkte wie verrückt in die Menge. »Jazzy kennt sich mit diesen Dingen aus. Sie sollten besser winken.«

»Oh, ja, richtig.« Sarah kam sich vor wie ein Dummkopf, doch sie zwang sich zu einem Lächeln, verfluchte Benny insgeheim für das, was er ihr angetan hatte, und winkte, als würde sie am Wettbewerb um den Titel der Miss USA teilnehmen.

»Perfekt«, lobte Jazzy.

»Sie haben ja eine ganz persönliche Benimm-Dame«, sagte Sarah an Santa gewandt.

»Sie hält mich ganz schön auf Trab.« Er legte einen Arm um Jazzys Schulter. In Sarah machte sich ein Gefühl der Sehnsucht breit, so stark, dass es wie zartbittere Schokolade schmeckte. Wie oft hatte sie sich eine so liebevolle aufmerksame Beziehung zu ihrem eigenen Vater gewünscht?

»Seht nur, dort ist Isabella mit dem Weihnachtsmann«, rief ein Kind in der Menge.

Wie surreal, zusammen mit dem Weihnachtsmann und der Protagonistin ihres Buchs auf einem Umzugswagen zu sitzen! Sarah kam es so vor, als wäre sie in die Seiten von Das magische Weihnachtsplätzchen geschlüpft, was ihr irgendwie gefiel.

Jazzy stand jetzt auf dem Sitz zwischen Sarah und dem Weihnachtsmann und sonnte sich in der Begeisterung der Zuschauer. Das Kind strahlte heller als die Sonne. Sarah wünschte sich, sie hätte eine Sonnenbrille aufgesetzt.

Santa neigte den Kopf. »Sie kommen mir bekannt vor. Kenne ich Sie irgendwoher?«

»Das höre ich oft. Ich muss wohl eins von diesen Allerweltsgesichtern haben.« Was sollte sie schon sagen? Bestimmt erinnern Sie sich an mich als molligen, verzweifelten Teenager, der sich bei einer Hochzeit an Weihnachten vor neun Jahren zum Narren gemacht hat.

»Nein.« Er strich sich über seinen künstlichen weißen Bart und rückte ihn wieder an Ort und Stelle. Sie fragte sich, ob ihn das Ding kratzte. Es sah jedenfalls kratzig aus. »Ich bin Ihnen schon einmal begegnet, ich weiß nur nicht mehr wo.«

Musste das jetzt sein? Vertieft in ein Gespräch mit dem Weihnachtsmann auf einem in Charles-Dickens-Manier dekorierten Umzugswagen, mitten auf dem Stadtplatz von Twilight, durch die dürren Beinchen des Shirley-Temple-Verschnitts, der auf dem Sitz zwischen ihnen stand?

Komm schon, gib einfach zu, wer du bist. Früher oder später wird dich ja doch jemand erkennen.

»Es sind Ihre Augen«, sagte er. »Sie sind von einem ungewöhnlichen Blau. Beinahe violett. Die Farbe eines Gebirgszugs.«

»Warum, lieber Weihnachtsmann, graben Sie mich an?«, fragte sie, nicht weil sie wirklich glaubte, dass er sie anmachte, sondern einfach, um den Spieß umzudrehen und ihn in die Defensive zu treiben.

Er blickte sie so lange mit einem leicht amüsierten Ausdruck in den Augen an, dass sich Sarah auf ihrem Platz wand. »Aber Miss Cool, wie könnte der Weihnachtsmann so etwas vor seiner Tochter tun?«

»Ich hatte keine Ahnung, dass der Weihnachtsmann überhaupt eine Tochter hat.«

Sein Grinsen wurde breiter.

»Und wie fühlt sich die Frau des Weihnachtsmanns dabei?«

»Der Weihnachtsmann hat keine Frau.«

»Ach du meine Güte, sie ist unter die Hufe eines Rentiers geraten, hab ich recht?«, stichelte Sarah. Manchmal, wenn sie sich fehl am Platze fühlte, glich sie ihre Unsicherheit mit Spötteleien aus. Ihr Sinn für Humor brachte manche Leute aus dem Gleichgewicht, doch nicht Jazzys Vater.

»Zack!« Er schüttelte den Kopf, zog ein trauriges Gesicht und klatschte in die Hände. »Ein Fettfleck auf der Straße. Diese tieffliegenden Rentiere sind ganz versessen auf Ehefrauen.«

»Großmütter ebenfalls, hab ich gehört.«

»Sie sollten sich besser vorsehen …« Sein Lächeln hinter dem weißen Bart war jetzt wahrhaft frevlerisch. Er flirtete tatsächlich mit ihr.

»Weil der Weihnachtsmann allmächtig und allwissend ist und alles sieht?«

»Genau.«

Sarah schnalzte mit der Zunge. »Muss eine ganz schöne Last sein.«

»Sie haben ja keine Ahnung.«

»Armer Weihnachtsmann. Schließlich sind Sie dafür verantwortlich, dass alle glücklich sind.«

Dramatisch spreizte er eine weiß behandschuhte Hand vor der Brust. »Das ist das Kreuz, das ich tragen muss.«

»Wie wär’s, wenn Sie mal ein Jahr Pause machen? Gönnen Sie sich einen langen Urlaub auf den Fidschi-Inseln. Zeigen Sie der Welt Ihre liebevolle Strenge und lassen Sie die Menschen selber die Bedeutung von Weihnachten herausfinden.«

»Aha«, sagte er. »So eine sind Sie also.«

»Was? Ein Freigeist?«

»›Grinch‹ ist das Wort, das mir dazu einfällt.«

Eigenartigerweise fand Sarah Gefallen an dieser hitzigen Stichelei. Es machte ihr Spaß, sich mit Santa Claus einen Schlagabtausch zu liefern. Wer hätte gedacht, dass er mit ihr mithalten könnte? Sie fragte sich, wie er wohl aussah unter seinem rot-weißen Kostüm. »Weihnachten ist nicht gerade die Zeit im Jahr, die ich am liebsten mag, das gebe ich zu. Ich war schon mal am 25. Dezember auf den Fidschi-Inseln, und es war phänomenal. Das sollten Sie auch mal probieren.«

Er blickte sie an, als wollte er irgendeine bissige Bemerkung machen, doch er wurde von seiner Tochter unterbrochen.

»Daddy, Daddy!« Jazzy zupfte an Santas Mütze. »Dort drüben ist Tante Raylene.« Sie hob die Stimme, hüpfte auf und ab und winkte noch begeisterter, was Sarah rein körperlich für unmöglich gehalten hätte. Das Kind war Pollyanna, Pippi Langstrumpf und Miss Merry Sunshine in einem. »Hallo, Tante Ray!«

Froh über die Unterbrechung drehte Sarah den Kopf in Richtung Tante Raylene. Sie hatte blond gefärbtes Haar, war stark zurechtgemacht und trug einen grünen Rock, der zu kurz und zu eng für ihr Alter war, aber sie sah immer noch heiß aus. Sarah stellte fest, dass sie die Frau kannte.

Raylene Pringle war eine Freundin ihrer Großmutter Mia gewesen. Früher einmal war Raylene Cheerleader bei den Dallas Cowboys und berühmt-berüchtigt für ihre halbseidenen Affären mit bekannten Football-Spielern gewesen. Später hatte sie sich als Model versucht und war so zu Geld gekommen, dann war sie nach Hause zurückgekehrt und hatte Earl geheiratet, ihren Liebsten von der Highschool. Gram hatte behauptet, Sarah sei zu jung, um Raylenes Geschichten zu hören, aber jedes Mal, wenn diese zu Besuch gekommen war, hatte sich Sarah im Flur herumgedrückt, begierig darauf, die saftigen Unterhaltungen zwischen Raylene, Gram und ihren Freundinnen zu belauschen.

Da fiel Sarah wie ein Blitz aus heiterem Himmel etwas äußerst Beunruhigendes ein: Raylene Pringle war Travis’ Tante, und Jazzy hatte sie gerade eben Tante Ray gerufen. Bedeutete das etwa …?

Sie hatte keine Zeit, ihren Gedanken zu Ende zu bringen, denn der Weihnachtsmann reckte eine Hand in die Höhe und rief aus: »Jetzt hab ich’s! Ich weiß, wer du bist! Du bist die kleine Sarah Collier, die erwachsen geworden ist.«