Kapitel zwei
Travis Walker blickte in die aufgeweckten jungen Gesichter von Mrs. Tilsons vierter Grundschulklasse an der Jon Grant Elementary und grinste. Er liebte den Berufsinformationstag. Nein, er liebte Kinder. Sie waren so offen und ehrlich und mitteilsam, Eigenschaften, die er aufrichtig bewunderte.
»Jagdaufseher bewachen unsere Wälder, Seen, Küsten und Wildreservate«, erklärte er. »Wir schnappen Wilddiebe und sorgen dafür, dass die Jagd- und Fischereiverordnungen eingehalten werden, und wir verhaften Leute, die das Gesetz brechen.«
»Genau wie die Polizei?« Ein Junge aus der vorderen Reihe musterte die Dienstwaffe, die in ihrem Holster an Travis’ Hüfte steckte.
»Ja, genau wie die Polizei.«
»Ist das eine echte Waffe?«
»Ja.«
Die Augen des Jungen weiteten sich. »Wahnsinn. Haben Sie schon mal auf jemanden geschossen?«
Travis dachte daran, wie er auf ein illegales Marihuanafeld gestoßen war, als er einem verwundeten Rotwild durch die Niederungen am Brazos River gefolgt war. Plötzlich hatte er in die Mündung einer Flinte Kaliber 12 geblickt. Aber diese Geschichte war nicht geeignet für seine Zuhörer.
»Ich habe noch nie jemanden umgebracht«, antwortete er wahrheitsgemäß, wobei er der Frage geschickt auswich. Doch er hatte auf jemanden geschossen.
Ein anderer Junge hob die Hand.
Travis deutete auf ihn. »Ja?«
»Weshalb haben Sie letzte Woche meinen Onkel ins Gefängnis geworfen?«, fragte er und kniff herausfordernd die Augen zusammen. »Er hat nichts weiter getan, als auf seinem eigenen Boot ein Bierchen zu trinken.«
Travis kannte diesen Blick. Das Kind war aufgewühlt und zornig. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sich selbst genauso trotzig gegenüber Autoritätspersonen verhalten. Als seine Mutter gestorben war und sein Vater sich in sich selbst zurückgezogen hatte, hatte Travis den Halt verloren. Wütend auf das Leben, hatte er Krawall geschlagen, nur um zu sehen, wer darauf reagierte.
»Jimmy«, sagte die Lehrerin, »diese Frage ist nicht angebracht.«
»Das ist schon in Ordnung, Mrs. Tilson, es macht mir nichts aus, sie zu beantworten.« Travis schritt durchs Klassenzimmer auf Jimmy zu, der auf seinem Stuhl immer kleiner wurde. »Ich habe deinen Onkel verhaftet, weil er gegen das Gesetz verstoßen hat. Meine Aufgabe ist es, die Flüsse und Seen für all diejenigen sicher zu machen, die sich daran erfreuen wollen. Betrunken Boot zu fahren ist dasselbe, wie betrunken Auto zu fahren.«
»Er hat niemandem Schaden zugefügt«, murmelte Jimmy.
»Das hätte aber passieren können, hätte ich ihn nicht verhaftet«, sagte Travis ruhig, und dann erzählte er der Klasse als warnendes Beispiel mit sachlicher Stimme die Geschichte von dem betrunkenen Bootsfahrer, der im letzten Sommer auf dem Lake Twilight eine Wasserskifahrerin überfahren und ihr ein Bein abgetrennt hatte. Travis war als Erster an der Unfallstelle eingetroffen, und die Erinnerung daran hatte sich in sein Gehirn eingebrannt.
»Wow«, sagte der Junge, der ihn gefragt hatte, ob er schon mal auf jemanden geschossen habe. »Cooler Job. Wenn ich erwachsen bin, möchte ich auch Jagdaufseher werden.«
»Dann musst du gut aufpassen, vor allem in Naturwissenschaften und Mathematik.« Travis sah sich im Klassenzimmer um. »Gibt es sonst noch Fragen?«
»Können Mädchen auch Jagdaufseher werden?«, erkundigte sich ein nachdenklich dreinblickendes Mädchen mit ernsten blauen Augen und karamellfarbenem Haar.
Sie erinnerte ihn an ein anderes ernstes Mädchen mit blauen Augen und karamellfarbenem Haar, das er einst gekannt hatte – die kleine Sarah Collier. Er fragte sich, wo sie jetzt wohl sein mochte, was aus ihr geworden war. Er hatte sie immer gemocht, und er hatte den Kontakt zu ihr verloren, nachdem ihre Großmutter gestorben war.
»Selbstverständlich können Mädchen Jagdaufseher werden«, sagte er. »Aber denk dran: Jagdaufseher arbeiten draußen, und zwar bei Wind und Wetter. Wir werden nass und frieren, und manchmal brüten wir auch in der Sonne. Wir kämpfen uns durch Sumpfgebiete und stoßen nicht selten auf Spinnen, Schlangen, Käfer und Frösche.«
Das Mädchen reckte das Kinn in die Höhe, was ihn noch mehr an Sarah erinnerte. »Ich mag Spinnen und Schlangen.«
»Das ist gut.«
Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer, und eine Hilfskraft steckte den Kopf herein. »Officer Walker?« Ihre Stimme klang angespannt, nervös.
»Ja?«
»Könnten Sie bitte mit mir kommen, Sir?«
Travis wurde unruhig, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Aber sicher. Ich komme gleich.«
»Sie müssen bitte sofort mit mir kommen.«
Jetzt bekam er wirklich Angst. »Auf Wiedersehen, Kinder, und lernt fleißig.« Er hob die Hand und folgte der Hilfskraft aus dem Klassenzimmer. »Was ist los?«, fragte er, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
»Es geht um Jazzy«, sagte die Frau.
Genau das hatte Travis befürchtet. Er ballte die Hände zu Fäusten und spürte, wie Adrenalin durch seine Adern schoss. Rasch drehte er sich um und eilte zum Klassenzimmer seiner Tochter, die Hilfskraft auf den Fersen.
»Was ist passiert?«, bellte er über die Schulter.
»Sie ist gelaufen …«
Er blieb abrupt stehen und wirbelte zu ihr herum. »Jazzy ist gelaufen?«
»Sie hat es hinter unserem Rücken getan, wir waren …«
»Es ist Ihre Aufgabe, auf sie aufzupassen«, knurrte er zornig. »Sie kennen ihren Gesundheitszustand.«
Besorgt verzog die Frau das Gesicht. »Das stimmt, aber Jazzy ist eigensinnig und macht gern, was sie möchte …«
Er hatte keine Zeit, die Frau zur Verantwortung zu ziehen oder wütend zu sein. Seine Tochter brauchte ihn. Jazzy war für ihn das Wichtigste. Er ließ die Hilfskraft stehen und lief weiter.
»Ähm … Mr. Walker … sie ist im Büro der Schulkrankenschwester. Ich bringe Sie hin.«
Er wusste, wo sich das Büro der Schulkrankenschwester befand. Er war öfter dort gewesen, als er zählen konnte. Jetzt stürmte er seinem Ziel entgegen und stieß ohne anzuklopfen die Tür auf. Zur Hölle mit der Höflichkeit! »Jazzy!«
»Daddy.« Ihre Stimme klang schwach, keuchend.
Er schob den weißen Vorhang beiseite, der an einer Schiene an der Decke befestigt war. Jazzy lag auf der Liege, die Lippen in der gewohnten dunklen Farbe, die blauen Augen vor Angst geweitet. In ihrer kleinen Nase steckte ein dünner grüner Sauerstoffschlauch. Eine Schwester in einem rosa Kittel mit braunen Teddybären stand neben Jazzy und maß ihren Puls. Travis’ Herz zog sich zusammen.
Seine Tochter streckte ihm die zerbrechlichen Ärmchen entgegen, und er machte einen letzten großen Schritt und schloss sie in die Arme. »Rufen Sie Dr. Adams an. Wir kommen zu ihm ins Krankenhaus«, blaffte er.
»Ich …«, sagte die Schwester.
»Tun Sie’s einfach«, fiel er ihr ins Wort.
Die Schwester nickte und eilte zu dem Telefon auf ihrem Schreibtisch, während Travis vorsichtig den Schlauch aus Jazzys Nase zog und sie zur Tür trug. Ihr Atem ging schnell, jedes Mal, wenn sie zitternd ausatmete, ertönte ein lang gezogenes Pfeifen. Ein vertrautes Geräusch, das er nur allzu gut kannte. Sie klang wie jemand, der seit dreißig Jahren drei Schachteln Zigaretten am Tag rauchte.
Er drückte sie an sich und konnte ihre zarten Armknochen durch ihre weiche Haut hindurch spüren. Gott, sie war so verletzlich, sein zäher kleiner Engel. Travis verließ steifbeinig die Schule und ging auf den braunen Pick-up mit der großen Fahrerkabine zu, den ihm der Staat Texas für seine Tätigkeit als Jagdaufseher zur Verfügung gestellt hatte.
»Alles wird gut, Süße«, murmelte er, den Mund dicht an ihrem Ohr. »Daddy ist da.«
Sie klammerte sich an ihn und vergrub ihr Gesichtchen an seinem Hals. Er konnte ihren Kleinmädchenduft riechen, so süß und unschuldig. Sie mochte zwar schon acht Jahre alt sein, aber sie wog kaum zwanzig Kilo. Er schnallte sie in ihrem Autositz an, dann lief er um den Wagen herum zur Fahrerseite. Travis drückte aufs Gas; einerseits wollte er sie so schnell wie möglich in die Notaufnahme bringen, andererseits wollte er sie nicht beunruhigen.
Jazzy war äußerst feinfühlig und nahm sehr schnell die Gefühle ihrer Mitmenschen wahr. Sie hatten das jetzt so viele Male durchgemacht, dass es fast zur Routine geworden war. Dennoch durfte er ihre Krankheit nicht als Alltag betrachten. Jeder mühsame Atemzug, den seine Tochter machte, konnte ihr letzter sein.
Eine Erinnerung kam in ihm hoch, scharf und schmerzlich, wie so oft, wenn seine Tochter in akute Atemnot geriet. Er dachte an seine Mutter, Penelope Walker, die fast seine gesamte Kindheit über an schwerem Asthma gelitten hatte. Es war ein ganz normaler Bestandteil seines Lebens gewesen, nichts Besonderes, dass ihre zahlreichen Allergien sie davon abgehalten hatten, mit ihm in den Park zu gehen wie andere Mütter oder sich seine Spiele bei der Little League anzuschauen.
Doch trotz ihres Zustands war seine Mutter ein Goldstück gewesen. So hatte sein Vater sie stets genannt: sein Goldstück. Strahlend und treu, etwas, auf das man zählen konnte. Sie lächelte jeden Tag und war eine vielfältige Künstlerin: Sie zeichnete mit Kohle auf weißes Wachspapier und fing Travis’ Silhouette ein, während er vom Baby zum Kleinkind, dann zu einem Jungen mit Zahnlücken und später zum schlaksigen Vorpubertierenden wurde. Sie verzierte seine Schlafzimmerwände mit selbst gemalten Lastwagen, Flugzeugen und Rennautos. Sie strickte mit Merinowolle, Mohair, Angora und Alpaka, machte Schals und Fausthandschuhe, Umschlagtücher und Pullover, Socken und Mützen in allen Regenbogenfarben. Die einheimischen Frauen, denen es an Talent oder Zeit fehlte, ihre eigenen Sachen herzustellen, kamen jede Woche zu ihnen, um die Dinge zu kaufen, die seine Mutter gefertigt hatte.
Penelope verbrachte die meisten Tage im Bett oder auf dem Sofa, zeichnete und malte und strickte, wenn ihr das Asthma nicht gerade den Atem raubte. Wenn er als kleiner Junge zum Schmusen in ihr Bett gekrabbelt kam, hatte er aufpassen müssen, sich nicht eine Stricknadel ins Knie zu stechen, ihre Kohle zu zerbrechen oder gar ihr Sauerstoffgerät zu beschädigen. Obwohl seine Mutter durch die Krankheit eingeschränkt gewesen war, hatte sie sich nicht davon beherrschen lassen. Ihre Haut hatte stets geglänzt, und ihr Gesicht war rund und glatt gewesen wie ein weißer Erntemond. Erst später, nachdem Jazzy krank geworden war, hatte Travis realisiert, dass ihr Aussehen von der jahrelangen Höchstdosis an Steroiden hergerührt hatte.
Als er im Krankenhaus ankam, dachte er an die Nacht, in der sein Vater und er dem Rettungswagen hierher gefolgt waren. Er rief sich ins Gedächtnis, wie die stirnrunzelnden Sanitäter seine Mutter auf einer Bahre hineingeschoben und Travis die Sicht verstellt hatten. Alles, was er von seiner Mutter hatte sehen können, waren ihre Hände gewesen. Die Hände, die einst gemalt und gestrickt und seinen Rücken gestreichelt hatten, wenn er müde gewesen war oder sich nicht gut gefühlt hatte, Hände, die jetzt teigig aussahen und blaue Fingernägel hatten, Hände, die ihn nie wieder festhalten würden.
Er schüttelte den Kopf, schüttelte die Erinnerungen ab, parkte den Pick-up, hob Jazzy vom Rücksitz und trug sie durch die pneumatischen Türen in die Notaufnahme mit ihrem grellen Neonlicht. Der Angestellte hinter dem Empfang entdeckte ihn und sprang auf. Travis kannte den sommersprossigen Mann von der Highschool. Sein Name war Kip Armstrong.
»Wir bringen Jazzy in Untersuchungsraum drei«, rief Kip. »Dr. Adams ist schon unterwegs.«
Travis ging durch die Doppeltüren, vorbei an anderen Patienten, die im Wartebereich saßen. Jazzy bekam eine Sonderbehandlung, was zum Teil daran lag, dass sie so oft hier war. Das Personal war ihr schon fast zur Familie geworden. Zum Teil lag es aber auch an Jazzys übersprudelnder Persönlichkeit. Jeder, der sie kennenlernte, gewann sie auf der Stelle lieb. Auch Mitleid spielte eine Rolle, das wusste Travis. Der alleinerziehende Vater, dessen einziges Kind die unangenehme Angewohnheit hatte, dem Tod an die Tür zu klopfen, tat den Leuten leid. Doch sei’s drum, wenn Mitleid Jazzy zu einer schnelleren Behandlung verhalf, würde er das gern akzeptieren.
Das medizinische Personal scharte sich um ihn, als er Jazzy mit einstudierten Bewegungen wie bei einer Choreografie auf den Behandlungstisch legte. Es war, als würde ein stummer Regisseur auf telepathischem Wege Anweisungen erteilen. Schwester Nummer eins maß ihren Blutdruck. Schwester Nummer zwei schloss das Sauerstoffmessgerät an ihrem Zeigefinger an. Der Laborant nahm aus der Arterie Blut zur Blutgasanalyse ab, während ihr der Atemtherapeut den Albuterol-Vernebler anlegte.
Jazzy saß aufrecht, an Kissen gelehnt, und beugte sich mit an die Brust gezogenen Knien vor, darum bemüht, zwischen den Hustenanfällen, die ihren kleinen Körper schüttelten, wieder Atem zu schöpfen. Travis ballte die Fäuste. Er fühlte sich so verdammt hilflos.
Im Kopf vernahm er die Stimme seiner Exfrau. Sieh der Realität ins Auge, Travis. Sie wird sterben.
Bei ihm nicht, auf gar keinen Fall. Verschwinde aus meinem Kopf, Crystal, knurrte er leise. Du hast gekniffen. Du bist diejenige, die die Menschen aufgibt. Nicht ich. Niemals. Du hast deine elterlichen Rechte verspielt, als du aus unserem Leben spaziert bist, weil du zu schwach warst, dich um deine kranke Tochter zu kümmern.
Warum zum Teufel dachte er eigentlich an Crystal? Er vermutete, dass sein Unterbewusstsein seine Exfrau als Ziel seiner hilflosen Wut zutage gefördert hatte. Er erinnerte sich, wie er vor vier Jahren mit Crystal in ebenjener Notaufnahme stand, als Jazzy ihren ersten Anfall erlitten hatte.
»Das hat sie von deiner Mutter geerbt«, hatte Crystal anklagend hervorgestoßen. »Es ist deine schlechte DNS, die sie krank gemacht hat.«
Er hatte in seinem Leben noch nie den Wunsch verspürt, eine Frau zu schlagen, aber in jenem Moment hätte er es am liebsten getan, hauptsächlich weil sie den Knopf mit seiner schlimmsten Befürchtung gedrückt hatte: dass ein Makel an ihm haftete und dass es seine Schuld war, dass ihre Tochter so krank war. In jenem Jahr waren siebenunddreißig weitere Anfälle gefolgt, einer schlimmer als der andere.
Sie hatten Jazzy von Spezialist zu Spezialist geschleppt und zwei Wochen in einer pädiatrischen Klinik für Atemwegserkrankungen in Austin verbracht. Ein Quacksalber hatte vorgeschlagen, ihren rechten Lungenflügel zu entfernen, welcher stärker betroffen zu sein schien als der linke. Häufig stellte sich zusätzlich zu den Asthmaanfällen Fieber ein, und niemand konnte ihnen wirklich erklären, warum, abgesehen von der Tatsache, dass Erkältungen und grippale Infekte oftmals Asthmaanfälle auslösten. Jazzy hatte Test um Test über sich ergehen lassen, während die Ärzte nach den Auslösern suchten und wieder und wieder mit leeren Händen dastanden.
»Vielleicht verwächst es sich«, hatten sie hoffnungsvoll gesagt. Aber es hatte sich nicht verwachsen. Im Gegenteil: Je älter sie wurde, desto schlimmer wurden auch die Symptome.
Dann kam die Nacht, in der es bei Jazzy als Folge eines Belastungstests in der Kinderklinik zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand gekommen war und die Ärzte gezwungen gewesen waren, sie an ein Beatmungsgerät anzuschließen und auf die Intensivstation zu verlegen.
Crystal und er hatten im Wartezimmer gesessen und in ihre Becher mit kaltem Kaffee gestarrt, während die Ärzte um Jazzys Leben kämpften. Seine Exfrau hatte ihren Kopf gehoben und ihn angeschaut wie ein Kojote in der Falle. »Ich werde nach Hause fahren und Wäsche zum Wechseln holen.«
Er hatte sie ungläubig angestarrt. »Die Rückfahrt nach Twilight dauert drei Stunden.«
»Ich weiß, ich weiß. Ich muss einfach mal raus hier, frische Luft schnappen, einen freien Kopf bekommen.«
»Jazzy braucht dich.«
Crystal hatte ihren Ehering gedreht. »Du bist besser bei diesem Krankenzeugs als ich.«
»Du haust nicht einfach ab und lässt sie hier allein.«
»Ich kann das nicht ertragen. Ich brauche eine Pause.«
Er erinnerte sich daran, dass er die Kiefer aufeinandergepresst und die Hände zu Fäusten geballt hatte, um nicht irgendetwas zu sagen oder zu tun, was er hinterher bereuen würde. »Na schön«, hatte er gemurmelt. »Dann nimm dir deine Pause.«
Ohne einen Blick zurückzuwerfen, war sie aus dem Wartezimmer geflüchtet, und Travis hatte sie nie wiedergesehen. Als Jazzy und er nach Hause gekommen waren, waren Crystals Sachen verschwunden gewesen. Auf dem Esszimmertisch lag eine Nachricht. Es tut mir leid. Ich bin einfach nicht für das Mutterdasein geschaffen. Verzeiht mir.
Um ehrlich zu sein, hatte er ihr schon vor langer Zeit verziehen. Er zählte nicht zu der Sorte Mann, die nachtragend war. Crystal war eben Crystal, und er konnte sie nicht ändern. Alles, was er tun konnte war, seine Liebe zu Jazzy zu verdoppeln, und das war ihm ein Leichtes. Er dachte an seine Tochter mit ihren großen blauen Augen und ihrem lockigen blonden Haar, und sein Herz zog sich zusammen. Er hatte noch nie jemanden so geliebt wie dieses Kind. Das war es, was er an Crystal nicht verstehen konnte: Wie konnte sie fortgehen, wenn sie Jazzy liebte? Und wie war es möglich, dass eine Mutter ihr eigenes Kind nicht genug liebte, um mit ihm durch dick und dünn zu gehen?
Als Crystal festgestellt hatte, dass sie schwanger war, hatte sie abtreiben lassen wollen. Er war strikt dagegen gewesen, wollte, dass sie heirateten und das Baby bekamen. Crystal hatte davon geträumt, eine Country- und Westernsängerin zu werden und in Nashville große Karriere zu machen. Sie hatte zunächst Travis und dann Jazzy dafür verantwortlich gemacht, dass ihre Träume geplatzt waren. Es war ihm zu Ohren gekommen, dass sie tatsächlich nach Nashville gegangen war, doch anstatt berühmt zu werden, kellnerte sie.
Vielleicht war es falsch gewesen, auf die Ehe zu bestehen, aber es war auf keinen Fall falsch gewesen, Jazzy zu behalten. Sie war das Beste, das ihm je passiert war. Ohne sie wäre er nur ein halber Mann gewesen.
Ein Bild schoss ihm durch den Kopf. Sein Hochzeitstag. Er musste an den entsetzten Ausdruck in Crystals Augen denken, als sie dort vor dem Altar stand und die Ereignisse eine überraschende Wendung nahmen, als die junge Sarah Collier zur Tür hereingestürmt kam und der Kirchengemeinde lauthals verkündete, Travis dürfe Crystal nicht heiraten, da er ihr Seelenverwandter sei.
Bei dem Gedanken trat ein flüchtiges Lächeln auf sein Gesicht.
Dr. Adams kam durch die Tür gestürmt, die weißen Schöße seines Kittels flatterten hinter ihm her. Er warf einen Blick auf Jazzy, und die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer. Rasch zog er ein Stethoskop aus der Tasche und sprach leise mit Jazzy, bevor er das Bruststück aufsetzte.
Travis trat näher, sah ihm dabei zu und wartete, während der Arzt seine Tochter untersuchte. Nach einigen Minuten hob Dr. Adams den Kopf, ratterte eine Liste von Anweisungen an die Krankenschwestern im medizinischen Fachjargon herunter, rollte das Stethoskop zusammen und steckte es wieder in die Tasche. »Können wir uns draußen unterhalten, Mr. Walker?«
Stumm nickte Travis dem Doktor zu, dann sagte er zu Jazzy: »Daddy geht nur kurz raus auf den Gang.«
»Daddy«, keuchte sie.
Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Ja, Liebes?«
»Kannst … du …« Sie hielt inne und atmete unter ihrer grünen Plastikmaske, die ihr der Atemtherapeut übers Gesicht gestreift hatte, schnaufend den Dampf aus dem Vernebler ein.
»Sprich nicht.«
»Isabella«, flüsterte sie. »Buch.«
»Ich soll dir Isabella und Das magische Weihnachtsplätzchen bringen?«
Sie nickte. Diese beiden Dinge boten ihr den meisten Trost.
»Das mache ich«, sagte er und riss sich von ihr los.
»Was gibt’s, Dr. Adams?«, fragte er, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Sie haben gesagt, das letzte Medikament, auf das wir sie gesetzt haben, müsse Wirkung zeigen. Sie nimmt jetzt vier verschiedene Mittel am Tag, und trotzdem sind keinerlei Anzeichen von Besserung zu erkennen.«
Dr. Adams fuhr sich mit der Handfläche übers Gesicht. »Lassen Sie uns irgendwohin gehen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.«
Oh, oh, das klang gar nicht gut. Travis gab sich alle Mühe, die Furcht, die in ihm aufstieg, zu unterdrücken. Dr. Adams führte ihn in den leeren Aufenthaltsraum und ließ sich am Kopf eines kleinen Konferenztisches in einen Stuhl fallen. »Nehmen Sie Platz.«
Obwohl er am liebsten stehen geblieben wäre, kam Travis der Aufforderung des Arztes nach.
Dr. Adams holte tief Luft. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Travis. Jazzy ist auf die Höchstdosis jedes wirksamen Medikaments eingestellt, das wir in unserem Arsenal haben.«
Travis verspürte einen eisigen Schauder, der bis in seine Seele drang. »Was wollen Sie mir damit sagen?«
Der Mediziner schüttelte den Kopf und spreizte die Hände. »Ich weiß nicht mehr weiter.«
»Bedeutet das, dass eine weitere Runde bei den Spezialisten vor uns liegt?«, fragte er. Er war bereit, alles zu tun, damit es seiner Tochter wieder gut ging, aber der Gedanke, sie weiteren Tests, weiteren Blutabnahmen auszusetzen, weitere Krankenhäuser aufzusuchen, behagte ihm gar nicht. Jazzy war ein alter Hase, aber das arme Kind hatte bereits so viel durchgemacht. Wo sollte das hinführen?
Dr. Adams schüttelte den Kopf. »Wir könnten es versuchen, aber ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass wir ein anderes Ergebnis erzielen werden als in der Vergangenheit.«
Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. »Was soll das heißen? Dass es keine Hoffnung mehr gibt?«
»Es gibt immer Hoffnung, Sie müssen nur daran glauben, Travis.«
»Was können Sie für uns tun?«
Dr. Adams wandte sich ihm direkt zu. »Es ist ein neues Medikament auf den Markt gekommen, aber …«
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«, fiel Travis ihm ins Wort, von einer Woge der Hoffnung überflutet.
»Es ist sehr teuer, und Ihre Versicherung wird nicht dafür aufkommen.«
»Das ist mir egal. Ganz gleich, was es kostet, ich werde das Geld zusammenbringen.«
»Es kostet zweitausendfünfhundert Dollar pro Injektion, und Jazzy wird alle drei Wochen eine Spritze benötigen.«
Eine Injektion würde ein ganzes Monatseinkommen verschlingen. Travis schluckte. »Wenn nötig, werde ich mein Haus verkaufen.«
»Es sind nicht nur die Kosten.« Dr. Adams presste die Lippen zusammen. »Der Grund, weshalb die Versicherung für dieses Medikament nicht aufkommt, ist der, dass es für eine andere Lungenfunktionsstörung gedacht ist, und nicht für schweres Bronchialasthma. Wenn ein Medikament zulassungsüberschreitend eingesetzt wird, wird das als Versuch betrachtet. Obwohl es sich in Kanada bei schweren Asthmaerkrankungen bewährt hat.«
»Na schön, dann ziehen wir eben nach Kanada um«, sagte Travis vollkommen ernst, selbst wenn er sein ganzes Leben in Twilight verbracht hatte. Sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater waren alle in dieser Stadt geboren und groß geworden, und er liebte diesen Ort von ganzem Herzen und ganzer Seele, doch seine Tochter liebte er noch mehr. Er würde Twilight binnen einer Nanosekunde verlassen, könnte er Jazzy dadurch gesund machen.
»So einfach ist das nicht.«
Das war es nie. »Sie säen diese Hoffnung in mir, und dann nehmen Sie sie mir wieder, Doktor. Was zum Teufel soll das?«
Dr. Adams hielt seinem Blick stand. »Ich bin bereit, mich aus dem Fenster zu lehnen und Jazzy dieses Medikament gegen ihr Asthma zu verschreiben.«
Eine zweite Woge der Hoffnung überflutete ihn. »Danke«, sagte er. »Vielen Dank.«
Dr. Adams hielt abwehrend die Handflächen in die Höhe. »Bevor wir uns da hineinstürzen, gibt es noch eine Menge zu überlegen. Vielleicht schlägt das neue Medikament gar nicht an.«
»Es ist einen Versuch wert.«
»Es gibt Nebenwirkungen.«
»Nebenwirkungen gibt es auch bei den Medikamenten, die sie im Augenblick nimmt.«
»Ja, aber dieses Mittel ist noch neu auf dem Markt, und es ist, wie gesagt, für andere Anwendungsgebiete zugelassen. Ich habe ein wenig recherchiert, ein paar Experten angerufen und einen provisorischen Plan für den zulassungsüberschreitenden Einsatz erstellt, aber im Grunde genommen starten wir einen Blindflug. Es ist durchaus möglich, dass wir russisches Roulette mit Jazzys Leben spielen.«
Stille breitete sich zwischen ihnen aus.
Der Sachverhalt, den der Arzt benannt hatte, kam langsam richtig bei ihm an. »Aber es könnte genauso gut sein, dass das Medikament dazu führt, ihre Krankheit unter Kontrolle zu bringen, ist das richtig?«
»Das ist möglich. Die vorläufigen Resultate sind äußerst vielversprechend. Sie müssen in Ruhe und gründlich darüber nachdenken, Travis.«
»Ich möchte nur, dass es ihr gut geht.«
»Ich weiß«, sagte Dr. Adams, »aber eventuell überwiegen die Risiken die möglichen Vorteile.«
Travis stieß die Luft aus, und erst da realisierte er, dass er den Atem angehalten hatte. »Na schön«, sagte er. »Danke, dass Sie aufrichtig zu mir waren.«
»Keine Ursache.«
Dr. Adams kehrte zu Jazzy ins Untersuchungszimmer zurück, während Travis hinaus zu seinem Pick-up ging. Er fuhr die drei Meilen zu ihrem Häuschen am See, fand Isabella und Das magische Weihnachtsplätzchen, dann kehrte er eilig zum Krankenhaus zurück.
Als er das Untersuchungszimmer betrat, waren Jazzys Augen geschlossen. Ihr Atem ging jetzt leichter. Travis nahm Isabella und drückte sie seiner Tochter sanft in die Armbeuge, dann setzte er sich auf den schäbigen blauen Plastikstuhl neben ihre Liege, öffnete das abgegriffene Deckblatt von Das magische Weihnachtsplätzchen und begann zu lesen – ein mittlerweile so eingefleischtes Ritual, dass er gar nicht mehr nachdenken musste.
»Butterfly Books«, fing er an, »in der Verlagsgruppe Jackdaw Publishing. Erste Auflage. Sämtliche Rechte vorbehalten.« Er las immer die Angaben auf der Urheberrechtsseite mit vor, um sie zu necken, genau wie es seine Mutter bei ihm getan hatte.
Normalerweise sagte Jazzy in einem Ton der Verzweiflung »Dad-dy«, aber diesmal sagte sie nichts.
Travis saß dort, betrachtete sein völlig erschöpftes kleines Mädchen und trug ihm die Geschichte vor, die er auswendig kannte. Die Maske lag noch auf Jazzys Gesicht; kleine Nebelstöße entwichen aus den Luftschlitzen an der Seite und verpufften in der Luft, während er ihr von magischen Plätzchen, vom Weihnachtsmann und von Weihnachtswundern vorlas, und das eine Woche vor Halloween.
Das Untersuchungszimmer war ein furchteinflößender Ort. Ein Abgrund von Hoffnung und Katastrophe. Ein neues Medikament. Neue Hoffnung. Wie oft hatte er wieder Hoffnung geschöpft? Wie oft war sie zerstört worden?
Jazzy drehte sich auf der Liege um, öffnete die Augen und nahm die Maske vom Gesicht. »Daddy?«
»Was ist, Liebling?«
»Es tut mir leid. Ich hätte auf dem Spielplatz nicht rennen sollen. Ich wusste es doch.«
»Schon gut. Mach dir keine Gedanken. Du hast nichts Falsches getan. Du wolltest bloß Spaß haben.«
»Daddy?«
»Hm-hm?«
»Werde ich sterben, so wie deine Mommy gestorben ist?«
Travis biss sich auf die Innenseite seiner Wange. Er hatte Jazzy niemals erzählen wollen, wie ihre Großmutter gestorben war, aber Crystal hatte es ihr gesagt, als sie sie danach gefragt hatte. Travis machte ihr das immer noch zum Vorwurf. »Nein«, sagte er, »ganz bestimmt nicht. Ich bin dein Daddy, und ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt, egal, was. Verstanden?«
»Werde ich je ein ganz normales Kind sein?«, fragte sie.
»Du bist ein ganz normales Kind«, sagte er.
»Du weißt schon, was ich meine. Werde ich je in der Lage sein, zu rennen und zu spielen wie die anderen Kinder?«
Es war ein Versprechen, für das er keine Garantie bieten konnte, aber er gab es ihr trotzdem. »Ja«, erklärte er. »Eines Tages wirst du in der Lage sein, zu rennen und zu spielen wie die anderen Kinder.«
Sie lächelte zaghaft und schloss die Augen. »Also, wo ist Isabella jetzt? Ist sie schon am Nordpol?«
»Noch nicht.« Er griff über die Liege und drückte ihre Hand, dann fuhr er fort, ihr von Isabella vorzulesen. Er hatte seinen Entschluss gefasst. Sie würden das neue Medikament ausprobieren, denn Jazzy hatte es verdient, um die Chance auf ein echtes Leben zu kämpfen.