Kapitel neun
Zum Glück endeten Sarahs Verpflichtungen als ehrenamtliche Bürgermeisterin am Sonntagabend zusammen mit dem Dickens-Festival. Aber auch wenn sie froh darüber war, nicht länger im Rampenlicht zu stehen, musste sie zugeben, dass sie mit einem gewissen Bedauern den Arbeitern dabei zusah, wie sie die kleinen Verkaufsstände abbauten und die Überbleibsel beseitigten. Man musste nur ein paar Bretter entfernen und Besen und Kehrblech zur Hand nehmen, um das Fantasiebild von England im viktorianischen Zeitalter verschwinden zu lassen. Wie einfach es war, eine imaginäre Welt zu zerstören.
Aus dem Fenster ihres Zimmers im Merry Cherub konnte Sarah auf die Ostseite des Stadtplatzes blicken. Sie saß auf dem malvenfarbenen Zweisitzer am Fenster, den Laptop auf dem Schoß, und beobachtete beim Schreiben, wie sich Twilight zurückverwandelte in eine ganz normale Kleinstadt. Die Stadt glich einem Chamäleon, das musste man ihr lassen. Sie passte sich den Jahreszeiten und Feiertagen an und ließ nichts ungenutzt, um den Tourismus anzukurbeln.
Von Montag bis zum Plätzchentausch des First Love Cookie Clubs am Freitag konnte sie wieder frei über ihre Zeit verfügen. Sie konnte sich in ihrem Zimmer verstecken und sich erholen und den köstlichen grünen Tee mit Himbeeraroma trinken, den Jenny zubereitete. Und sie konnte schreiben. In aller Stille. Das war Sarahs Vorstellung vom Paradies.
Zu ihrer Freude floss das Buch auch weiterhin aus ihr heraus wie Wasser, sie sprudelte nahezu über vor Ideen. Zwar hatte sie noch immer kein Ende gefunden, aber sie war zuversichtlich, dass ihr etwas Passendes einfallen würde.
Außer dem Schreiben nahm noch etwas anderes ihre Aufmerksamkeit in Anspruch: der Wunschzettel, den sie zusammen mit Jazzys Engelsschmuck beim Wunschbaumschmücken im Sweetheart Park in die Tasche gesteckt hatte. Sie ging einkaufen und fand alles, was Jazzy aufgeschrieben hatte, abgesehen natürlich von der neuen Mommy, die ganz unten auf dem Zettel gestanden hatte. Diesen Wunsch konnte nur Travis seiner Tochter erfüllen. Weil sie an Weihnachten nicht in Twilight sein würde, hatte Sarah vor, die Geschenke einzupacken und bei einer der Damen des First Love Cookie Clubs zu lassen, die sie zusammen mit den anderen Wunschbaum-Geschenken verteilte.
Sarah musste zugeben, dass Jazzy ihr ans Herz gewachsen war und dort einen Platz gefunden hatte wie noch kein anderer zuvor. Sie schloss nicht schnell Freundschaften, und normalerweise fühlte sie sich in der Gegenwart von Kindern nicht wohl, aber irgendetwas an diesem kleinen Mädchen rührte sie. Es lag an Jazzys liebenswertem Lächeln, das einen an Sonnenschein, Regenbogen und Frühlingsblumen denken ließ.
Am Mittwochabend, nachdem sie den ganzen Tag mit Schreiben verbracht hatte, wollte Sarah sich beim Funny-Farm-Restaurant am Stadtplatz etwas zu essen besorgen und es wie an den beiden vorhergehenden Abenden mit auf ihr Zimmer nehmen. Immerhin hatte sie endlich ihren Schlafanzug ausgezogen, den sie den ganzen Tag über getragen hatte – ein Luxus, der Schriftstellern vergönnt war –, sich die Haare geflochten und eine Jeans, einen roten Pulli und ihre hochhackigen schwarzen Stiefel angezogen. In Manhattan hätte sie sich nicht die Mühe gemacht, Make-up aufzulegen, nur um sich etwas zu essen zu holen, doch in Twilight konnte es ihr passieren, dass sie jemandem über den Weg lief, den sie kannte. Schließlich musste sie ihr Sadie-Cool-Image aufrechterhalten. Also legte sie Lippenstift und Wimperntusche auf und zog sich ihre Jacke über.
Dann ging sie die Treppe hinunter. Doch gerade als sie die Lobby betrat, kamen Travis und Jazzy hereinspaziert, die Glöckchen an der Eingangstür klingelten fröhlich. Jazzy klammerte sich an die Hand ihres Vaters.
»Hallo«, begrüßte sie Travis. »Da kommt ja die Frau, zu der wir wollen. Jazzy möchte dich etwas fragen.«
Jazzy machte einen Schritt nach vorn. Sie sah aus wie ein winziger Engel in ihrem grün-weißen Samtkleid und den schwarzen Spangenschuhen. Das blonde Haar ringelte sich über ihre Schultern. Ihre Haut war weiß wie Alabaster, ihre Lippen und Wangen erdbeerrot. Um ihre engelhafte Erscheinung zu vervollständigen, fehlten nur noch Flügel und ein Heiligenschein. »Kommst du heute Abend mit uns zum Krippenspiel in die Kirche?«
»Wenn du nichts anderes vorhast«, ergänzte Travis. »Es dauert nur eine Stunde, und wir könnten nachher bei Pasta Pappa etwas essen gehen.«
»Sie machen echt gute Pepperoni-Pizza«, fügte Jazzy hinzu.
Sarah war nicht mehr in einem Krippenspiel gewesen, seit … nun, seit Gramma Mia sie damals mitgenommen hatte.
»Wir verstehen, wenn du zu beschäftigt bist.« Travis legte seine Hand in Jazzys Rücken. »Schließlich kommen wir hier auf den letzten Drücker …«
»Bitte komm mit«, flehte Jazzy.
Wie konnte sie diesem Kind etwas abschlagen? »Liebend gern«, sagte Sarah.
»Vielen Dank.« Travis begegnete ihrem Blick.
»Ja, dann komm.« Jazzy nahm Sarahs Hand und zog sie in Richtung Tür.
Sarah warf Travis einen hilflosen Blick zu.
»Sie ist eine wahre Naturgewalt.« Travis lachte und flitzte um sie herum, um ihnen die Tür aufzuhalten. »Meine Tochter.«
Sarahs Schulter streifte leicht die seine, als sie an ihm vorbeiging. Sofort wurde sie von Wärme durchflutet und wandte sich rasch ab, damit er ihr nicht ansah, dass sie sich immer noch von ihm angezogen fühlte.
Angezogen fühlte?
Wem machte sie etwas vor? Das Verlangen war zehnmal stärker als das, das sie als Teenager für ihn empfunden hatte. Damals war lediglich ihr albernes, verliebtes Herz beteiligt gewesen, doch jetzt, als Erwachsene, zog ihr die sexuelle Chemie den Boden unter den Füßen weg.
Na und? Sie würde am Sonntag nach Manhattan zurückkehren, und er würde hierbleiben, sein Leben mit seiner Tochter weiterleben. Was sollte da schon groß zwischen ihnen passieren?
Es sei denn …
Nein. Sie würde sich nicht auf einen One-Night-Stand mit Travis einlassen. Das kam überhaupt nicht infrage, nicht zuletzt, weil sie befürchtete, dass ihr eine Nacht mit Travis nicht genug wäre und sie nicht die mentale Kraft aufbringen würde, erneut mit einem gebrochenen Herzen fertig zu werden.
Sie legten die kurze Strecke zur presbyterianischen Kirche von Twilight zu Fuß zurück. Die Abendluft war frisch, aber nicht eisig. Weihnachtslämpchen blinkten an fast jeder Ladenfront und jedem Haus, an dem sie vorbeikamen. Als Touristenstädtchen musste Twilight seinem Image gerecht werden. Seine Besucher willkommen heißen. Ungeachtet ihres Zynismus erlag Sarah diesem Zauber, atmete die Düfte ein, die aus den Geschäften auf dem Stadtplatz zu ihr herüberdrangen – frisch gebackenes Brot, Zimt, Kürbiskuchen. Wenn man Twilight mit einem Geschmack in Verbindung brächte, dann mit dem von üppigem Strudel, so sündig und süß wie bei einem guten alten Kaffeeklatsch.
Die Leute strömten in die Kirche, die meisten lächelnd und winkend. Manche sagten Hallo.
Als Sarah an dem majestätischen, hundert Jahre alten Gebäude emporblickte, zögerte sie. Vor neun Jahren war sie dieselben Stufen hinaufgerannt, wild entschlossen, die Hochzeit zwischen Travis Walker und Crystal Hunt zu verhindern. Sie spürte, wie die alte Verlegenheit in ihr aufstieg, und verspannte sich.
Travis legte ihr die Hand in den Rücken. Die Wärme seiner Finger drang durch ihre Jacke. Er beugte sich zu ihrem Ohr, und sie konnte seinen betörenden Duft riechen, nach Männlichkeit und herber Seife. »Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest.«
Trotz seiner tröstlichen Worte versteifte sie sich. Es war, als würde er durch ihr Gehirn stapfen und genau wissen, was sie dachte. Das gefiel ihr ganz und gar nicht. Es war zu persönlich. Zu intim.
Als hätte er verstanden, nahm er seine Hand weg, und augenblicklich wünschte sie sich, er hätte sie liegen gelassen. Oh, was zum Teufel war nur los mit ihr?
»Komm schon.« Jazzy, die keine Ahnung von Sarahs traumatischem Erlebnis in diesem Gebäude hatte, fasste nach Sarahs Hand. »Nun trödel doch nicht so.«
Sarah warf Travis einen Blick zu.
Der zuckte die Achseln.
»Naturgewalt«, sagten sie beide gleichzeitig und lachten.
Es fühlte sich gut an, mit ihm zu lachen. Gut und merkwürdig. Sehr merkwürdig. Es kam ihr vor, als wäre sie in einer der Fantasien gelandet, die sie sich als Fünfzehnjährige zurechtgesponnen hatte. Sie und Travis, die mit ihrer bezaubernden kleinen Tochter zu einem Krippenspiel gingen.
Ihr seid kein Paar, Jazzy ist nicht deine Tochter, und zum Teufel … du willst nicht mal in diese Kirche gehen, warum bist du dann da?
Die blonde Naturgewalt ließ ihr nicht viel Zeit zum Grübeln, sondern zerrte sie die Stufen zur Eingangstür hinauf. »Nun beeil dich, wir wollen unbedingt gute Plätze weit vorne kriegen. Wenn du nicht schnell machst, musst du hinten sitzen, und dann kannst du die Kostüme nicht richtig sehen. Ich möchte die Kostüme aber unbedingt von Nahem anschauen. Die Kostüme sind das Beste.«
»Was soll ich dazu sagen? Meine Tochter liebt es, sich in Schale zu werfen.«
Jazzy voran eilten sie im Laufschritt durch die Kirche nach vorne, wo es ihnen gelang, sich die restlichen drei Plätze in der ersten Reihe zu sichern. »Ist das nicht perfekt?«, fragte Jazzy. »Drei freie Plätze für uns.«
»Absolut perfekt«, bestätigte Travis.
»Als hätten sie gewusst, dass wir kommen.« Jazzy lächelte zufrieden und lehnte sich gegen die Kirchenbank.
Sarah bemerkte den Ausdruck, der auf Travis’ Gesicht trat, wann immer er seine Tochter anschaute: reine, unverfälschte Liebe.
»Du ahnst ja gar nicht, wie erstaunlich das ist«, sagte er. »Bis vor drei Monaten konnte sie kaum das Zimmer durchqueren, ohne in Atemnot zu geraten. Bis sie dieses Wundermedikament bekommen hat.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin verblüfft darüber, wie sie sich gemacht hat. Sie holt die verlorene Zeit auf.«
»Ich freue mich so sehr für sie«, sagte Sarah. »Sie verdient das Beste, das die Welt zu bieten hat. Und ich freue mich auch für dich. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was du durchgemacht haben musst.«
Travis legte beiläufig den Arm auf die Banklehne. Er war so unbefangen im Umgang mit seinem eigenen Körper, so unbefangen anderen Menschen gegenüber. Hatte sein Arm auf der Lehne etwas zu bedeuten? Oder wollte er ihn einfach nur ausstrecken? Warum musste sie alles bis ins letzte Detail analysieren und sich damit verrückt machen?
Nach einer Weile lehnte er sich dichter an sie heran und flüsterte: »Schau jetzt nicht hin, wir werden beobachtet.«
»Erzähl mir doch nicht, dass ich nicht hinschauen darf. Nun muss ich mich erst recht umsehen, eben weil du mir das gesagt hast. Weißt du das denn nicht?«
»Offenbar nicht.« Er grinste.
»Du hast meine Neugier geweckt. Wenn ich sie jetzt nicht befriedige, drehe ich durch.«
»Okay, dann dreh dich um und guck.«
»Warte mal.« Sie legte den Kopf schräg. »Ist das ein Trick, damit ich nicht hinschaue?«
»Was denkst du denn?«
»Genau das.« Sarah drehte sich um und blickte über die Schulter. Praktisch die gesamte Gemeinde starrte sie an wie einen Käfer unter dem Mikroskop. Sie hätten sich doch lieber nach hinten setzen sollen.
»Ach du liebe Güte.« Sie wandte sich wieder nach vorn. »Jetzt verstehe ich, warum du gesagt hast, ich soll nicht hinschauen.«
»Ich hab’s dir ja gesagt.«
»Das setzt einen ganz schön unter Druck. Ich kann praktisch fühlen, wie sie atmen. Starren und atmen.«
»Das Krippenspiel fängt bald an, denk nicht dran.«
»Nun erzählst du mir schon wieder, was ich nicht tun soll, sodass ich erst recht …«
»… Daran denke«, beendete er den Satz für sie.
»Richtig.«
»Das ist schon in Ordnung.«
»Ist es nicht. Sie starren und ziehen Schlüsse und bilden sich ein Urteil«, flüsterte sie.
»Das ist die Kehrseite des Kleinstadtlebens. Alles, was man tut, ist Futter für den Klatsch.«
»Sie werden mehr in das hier reininterpretieren, als es in Wirklichkeit ist.«
»Garantiert.«
»Vielleicht denken sie sich jetzt gerade die Legende von Travis und Sarah aus.«
»Genau wie bei Jon Grant und Rebekka Nash.«
»Glaubst du?«
»Berühmte Autorin entflammt erneut für umwerfend gut aussehenden alleinerziehenden Vater?«, neckte er sie. »O ja, das ist der Stoff, aus dem Legenden gemacht sind.«
»Entflammt erneut? Ich entflamme nicht erneut. Zunächst einmal muss etwas in Flammen gestanden haben, bevor es erneut entflammen kann.«
»Du bist nervös.«
»Zum Teufel …« Sarah warf Jazzy einen Blick zu. »Na schön, ja«, gab sie zu.
»Du redest ganz schön viel, wenn du nervös bist. Meistens bist du ziemlich still, aber wenn du aufgeregt bist …«
»… Fange ich an zu plappern. Verstehe. Eine nervöse Schwätzerin. Genau das bin ich.« Wenn sie weiterplapperte, hörte er vielleicht auf, über ihren Klatschgehalt als Paar zu reden. Schließlich waren sie kein Paar. Sie saßen lediglich bei einem Krippenspiel in der Kirche nebeneinander. Mehr nicht.
»Ich werde daran denken, dich nervös zu machen, wenn du das nächste Mal mauerst.« Er sagte das so, als würde es noch viele gemeinsame nächste Male geben. Als würde sie nicht schon in ein paar Tagen die Stadt verlassen.
»Schsch.« Jazzy legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Sie fangen gleich an.«
Immer noch drängten Leute in die Kirche, aber alle verstummten, als sich der Vorhang teilte und das Krippenspiel begann. Sarah versuchte, sich auf die Weihnachtsgeschichte zu konzentrieren, doch sie wurde von Travis’ Oberarm abgelenkt, der ihre Schulter berührte, und von seinem frischen Duft. Der Kerl roch einfach zu gut. Eine betörende Kombination aus frischer Luft, Kiefernholz und frisch gewaschener Wäsche. Und dann war da noch sein muskulöser Oberschenkel, der an ihren gepresst war …
Sie warf ihm einen Blick zu. Er hatte beide Hände auf die Knie gelegt und die Finger locker gespreizt. Alles an ihm war locker. Sein allgegenwärtiges Lächeln (irgendwann einmal würde sie ihn fragen müssen, wie ein Mann mit so vielen Problemen so oft lächeln konnte), sein Haar, das ihm lässig in die Stirn fiel, sein ruhiges, gleichmäßiges Atmen. Er war ein wandelndes Gegenmittel für ihre eigene starre, angestrengte Lebensweise. Wie konnte ein Mensch ohne Medikamente nur so entspannt sein? Vermutlich musste man dazu geboren sein. In der Lage sein, den Mond, die Sterne, Regenbogen und Sonnenschein zu sehen und die Schlaglöcher, den Unrat, Dornen und spitze Kieselsteine unter den Füßen zu ignorieren. Womöglich nahm er doch irgendwelche Pillen. Vielleicht war ein Antidepressivum der Grund für seine übersprudelnde Art.
»Hast du noch Lust auf eine Pizza?«, fragte Travis, als das Krippenspiel zu Ende war und sich die Menge zerstreute.
»Ähm, vielleicht sollten wir nicht noch mehr Wasser auf die Klatschmühlen gießen.«
»Ach, wen kümmert das schon? Das ist doch nur Tratsch. So weit sind wir jetzt schon gekommen, was macht da noch eine gemeinsame Pizza? Die einzige Frage ist: Hast du Hunger?«
Sarah wollte schon verneinen, als ihr Magen ein Knurren von sich gab, das laut genug war, um noch sechs Countys weiter Tote zu wecken.
Jazzy brach in Lachen aus. »Sie ist am Verhungern, Daddy.«
Und das gab den Ausschlag.
In der einen Minute saß sie in der Kirche und überlegte, wie sie die Flucht zurück in ihr Zimmer im B&B antreten sollte, in der anderen saß sie in einem gemütlichen Eckchen beim Italiener. Auf dem Tisch lagen die üblichen rot-weiß karierten Tischdecken.
Das Pasta Pappa wurde jedem Klischee gerecht, bis hin zu Dean Martin, der »That’s Amore« schmalzte, und der Kerze in der Chianti-Flasche in der Tischmitte. Es roch köstlich nach Knoblauch, Zwiebeln und Basilikum, und die Pizza, die man ihnen servierte, war heiß und dick belegt mit geschmolzenem Mozzarella. Sie tranken Coca-Cola mit rot-weißen Strohhalmen aus Rot- und Weißweingläsern und verdrückten ihre Peperoni-Pizza, Dean Martin besang die Liebe, und man hatte den Eindruck, einer Szene aus Susi und Strolch beizuwohnen.
»Was ist deine Lieblingssüßigkeit?«, fragte Jazzy mit vollen Backen.
Travis deutete auf seinen Mund. »Wie steht’s mit den guten Manieren?«
Jazzy schluckte. »Man darf nicht mit vollem Mund reden. Entschuldigung.«
»Hmm, was ist meine Lieblingssüßigkeit?« Sarah überlegte. »Lass mich mal nachdenken. Da gibt es so einige Leckereien.«
»Ich mag am liebsten Erdnussbutter-Schokolinsen. Mmmh.« Jazzy rieb sich ihr Bäuchlein.
»Und was ist mit Erdnussbutter-Törtchen?«
Jazzy legte den Kopf schief, als wäre das ein sehr ernstes Thema. »Ich mag sie, aber sie sind nicht so gut wie die Erdnussbutter-Schokolinsen. Die sind nämlich knusprig.«
»Verstehe.«
»Weißt du jetzt, was du am liebsten magst? Daddys Lieblingssüßigkeiten sind Lutscher mit Karamellfüllung, stimmt’s, Daddy?«
»Das stimmt.« Travis nickte.
»Erzähl Sarah mal, weshalb du sie am liebsten isst.«
Seine Augen begegneten Sarahs. »Sie sind außen hart, was manche Leute verwirrt, aber mir gefällt es, so lange zu lecken, bis man zu dem weichen, bissigen Karamellkern in der Mitte vordringt. Da hat man gleich zwei verschiedene Köstlichkeiten in einem.«
Sarah hatte das befremdliche Gefühl, er würde sich gar nicht auf die Lutscher beziehen.
»Ich weiß, ich hatte selbst eine Schwäche dafür«, gab sie zu und fragte sich, ob das etwas mit der Zeit zu tun hatte, in der er nach seiner Schicht im Lebensmittelladen den Rasen ihrer Großmutter gemäht hatte. Er hatte einen Lutscher mit Kirschfüllung aus der Tasche gezogen und ihn ihr mit den Worten »Für dich, du Zwerg!«, zugeworfen.
»Wisst ihr, was wir jetzt machen sollten?«, fragte Jazzy.
»Ich ahne etwas«, sagte Travis.
»Was denn?« Jazzy tat ganz unschuldig.
»Ich meine, dass du mir einen Wink mit dem Zaunpfahl gibst.«
»Wer, ich?«
Travis strubbelte seiner Tochter durch das Haar. »Du willst, dass wir auf dem Heimweg beim Candy Bin vorbeischauen.«
»Nun, wenn du das schon vorschlägst, Daddy …«, sagte sie. »Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Idee.«
Travis blickte Sarah an und legte die hohle Hand ums Ohr. »Hörst du das?«
»Was?«
»So hört es sich an, wenn ich mich um den kleinen Finger wickeln lasse.«
»Sie ist eine Meisterin, wenn es darum geht, Leute zu bezirzen.« Sarah grinste. »Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.«
»Heißt das, wir schauen beim Candy Bin vorbei?«, fragte Jazzy.
Travis warf seiner Tochter ein klägliches Lächeln zu. »Bestand jemals ein Zweifel daran?«
Sie gingen zu Fuß vom Pasta Pappa zum Candy Bin, das direkt auf der anderen Straßenseite lag, und suchten sich etwas aus. Erdnussbutter-Schokolinsen für Jazzy, einen Grapefruit-Lutscher für Travis und einen mit Kirschfüllung für Sarah.
Anschließend kehrten sie schweigend zum Merry Cherub zurück. Jazzy war mit ihren Erdnussbutter-Schokolinsen beschäftigt, und Sarahs Nervosität hatte sich so weit gelegt, dass sie nicht länger das Bedürfnis verspürte zu plappern. Die Uhr am Rathaus schlug neun. Auf der untersten Stufe der Verandatreppe des Merry Cherub blieb Travis stehen.
»Das hat Spaß gemacht«, sagte er.
»Selbst wenn wir die Gerüchteküche zum Brodeln gebracht haben?«
»Ich mache mir keine Sorgen um meinen guten Ruf«, sagte er. »Du etwa?«
»Nein. Ich hatte einen schönen Abend.«
Sie blickten einander an, während Jazzy fröhlich »Santa Claus Is Coming to Town« summte. Der Augenblick fühlte sich absolut perfekt an. So perfekt, dass sich ein sehnsüchtiger Knoten in Sarahs Brustkorb breitmachte.
»Nun«, sagte Travis. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.« Sarah hob grüßend die Hand und lehnte den Kopf gegen den Pfosten des Verandageländers. Als sie den beiden nachschaute, die sich langsam entfernten, schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass das die schönste Einladung gewesen war, die sie jemals bekommen hatte.
»Daddy?«
Sie waren auf dem Heimweg. Travis hatte die Hand in ihren Rücken gelegt, spürte das gleichmäßige Heben und Senken ihres Brustkorbs und versicherte sich, dass die Anstrengung nicht zu viel für sie war. »Was denn, Süße?«
»Wieso hat Sarah zwei Namen? Ich dachte, sie hieße Sadie Cool?«
»Der eine Name ist ihr richtiger, der andere ein Pseudonym.«
»Was ist ein … Pseudonym?« Jazzy sprach das Wort langsam aus, ließ es sich auf der Zunge zergehen.
»Das ist ein Name, den Schriftsteller oder Schauspieler für die Öffentlichkeit annehmen.«
Jazzy kräuselte die Nase. »Also ein falscher Name?«
»So kann man das vermutlich auch betrachten.«
»Aber ist das nicht so, als würde man lügen? Wenn man seinen Namen nennt, aber eigentlich ist das gar nicht der richtige Name?«
»Nein, es ist ein Geschäftsname. Die Leute, die das Candy Bin führen, heißen zum Beispiel Hollister.«
»Ja schon, aber Candy Bin ist kein Personenname. Warum nimmt sie nicht einfach ›Sarah‹ als Geschäftsnamen? Es ist ein schöner Name.«
»Um ihre Privatsphäre zu schützen, könnte ich mir denken.«
»Was bedeutet das?«
»Wenn Leute versuchen, sie ausfindig zu machen, erwischen sie sie nicht.«
»Sie will nicht gefunden werden?«
»Nicht von bösen Menschen.«
Jazzy blickte zu ihm auf, Sorge stand in ihr Gesicht geschrieben. »Böse Menschen sind hinter ihr her?«
Warum hatte er das gesagt? Wie dumm von ihm. »Nein, nein, das meinte ich nicht. Keine bösen Menschen … Es ist bloß so: Wenn man so berühmt ist wie Sarah, finden sich immer Menschen, die die ganze Zeit um einen herumschwirren, obwohl die berühmten Leute diese Menschen kaum kennen und wünschten, sie würden verschwinden.«
»Oh, so wie bei der Schnitzeljagd, als Sarah sich vor den Leuten versteckt hat?«
»Ja, genau so.«
»Ist Sarah nicht gerne berühmt?«
Travis hielt inne und dachte nach. »Nein, ich denke nicht, dass ihr ihre Berühmtheit gefällt. Sie ist ein Mensch, der sehr gern allein ist.«
»Wie Mommy?«
Travis schnaubte. Das hatte Crystal Jazzy erklärt, nachdem sie sie verlassen hatte. Dass sie einfach eine Weile für sich allein sein müsse. Nun, vier Jahre waren eine ziemlich lange Weile. »Hast du schon alle Erdnussbutter-Schokolinsen aufgegessen?«, fragte er und versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
»Ja.« Sie grinste zu ihm hinauf. »Weißt du, wenn ich berühmt wäre, würde ich mich niemals vor den Leuten verstecken. Ich mag Menschen. Auch die sonderbaren.«
»Ich weiß, Liebes. Und alle mögen dich.«
»Alle außer Mommy. Sie ist nicht gern mit mir zusammen.«
»Aber nein!«, widersprach Travis heftig. Jazzy blickte ihn verwirrt an. Ihm fiel auf, dass er zu schroff gesprochen hatte, und er senkte die Stimme. »Mommy hat dich sehr, sehr lieb. Sie war nur noch nicht bereit dafür, eine Mommy zu sein.«
»Aber du warst bereit, ein Daddy zu sein.«
»Ja, das war ich, und zwar hundertprozentig.«
»Warum warst du dazu bereit und Mommy nicht?«
»Menschen sind unterschiedlich, Jazzy, das ist alles. Keiner ist wie der andere.«
Sie gingen jetzt den Lakeshore Drive entlang. Der Wind vom See war kalt. Er hätte das Auto nehmen sollen. Warum hatte er es bloß stehen lassen? Jazzy mochte es zwar im Augenblick gut gehen, aber schon eine leichte kühle Brise konnte sie zum Husten bringen. Er blieb stehen und ging in die Hocke. »Komm her.«
»Was ist denn, Daddy?«
»Ich will dir den Mantel gut zumachen und die Mütze unter dem Kinn zusammenbinden. Schließlich sollst du dich nicht erkälten.«
»Es geht mir gut.« Sie drehte den Kopf, und ihr rosa-blaues Allwetterkurzmäntelchen raschelte.
»Sei nachsichtig mit deinem alten Vater, okay?«
»Du bist nicht alt.« Jazzy kicherte, als er ihr den Reißverschluss bis unters Kinn zog und auch noch die Mütze mit dem rosa Band festzurrte.
»Vielen Dank.« Er küsste sie auf die Nasenspitze, und sie kicherte wieder.
Ein paar Minuten später kamen sie zu Hause an. Jazzy nahm ein Bad und machte sich bettfertig, dann kam er in ihr Kinderzimmer, um das Ritual durchzuführen, das er jeden Abend durchführte: seiner Tochter eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, bevor er die Decke um sie feststopfte. Heute bat sie um Das magische Weihnachtsplätzchen. Travis hatte das Buch so oft gelesen, dass er es auswendig kannte. Und so trug er seiner kleinen Tochter die Geschichte von dem kleinen Mädchen vor, das sich von einem magischen Weihnachtsplätzchen wünschte, eine eigene Familie zu bekommen, und das von einem wunderschönen goldenen Schlitten zum Nordpol gebracht wurde. Dort, bei dem Weihnachtsmann und seiner Frau und all ihren Wichteln, fand es die Liebe und das Glück, nach dem es immer gesucht hatte.
Als die Geschichte vorbei war, gab er Jazzy einen Gutenachtkuss auf die Stirn und stand auf.
»Daddy?«
Travis blieb an der Tür stehen, die Hand auf dem Lichtschalter. »Was ist denn?«
»Glaubst du, Sarah wäre vielleicht bereit, eine Mommy zu sein?«