Kapitel fünfzehn

Das ist also eine Jagdhütte.« Sarah blickte sich in dem kleinen Blockhaus mit nur einem Raum um. Hier müsste dringend mal wieder sauber gemacht werden. Spinnweben hingen in den Ecken und erinnerten an Halloween. Ein Campingkocher, der in den 1950ern vermutlich bessere Tage gesehen hatte, stand neben dem grob gezimmerten Tisch aus Kiefernholz. Zerbeulte Töpfe und Pfannen hingen an Haken von der Wand. Der rußige Kamin machte einen lebensgefährlichen Eindruck. An der Wand gegenüber stand ein Doppelbett, auf dem ein hoher Stapel verblichener Decken lag.

Travis drückte auf den Lichtschalter, aber nichts passierte. »Frank muss den Strom abgestellt haben, weil er dieses Jahr nicht vermietet.«

»Dann heißt das jetzt wohl: du und ich allein in dieser Hütte.«

»Ja.«

Na prima. Jetzt saßen sie also hier zusammen in der Falle. Ein leicht klaustrophobisches Gefühl beschlich sie. Sie trat ans Fenster und spähte hinaus. Der Hagel prasselte vom Himmel wie ein grauer Vorhang und schlug mit einem lauten Klink, Klink, Klink gegen die Fensterscheiben.

»Ich bin nicht wirklich ein Naturkind«, gab sie zu.

»Ach nein? Die Stilettos, die du hier tragen wolltest, und die schicken Handschuhe waren in der Tat ein verräterisches Zeichen. O ja, nicht zu vergessen das kleine Designer-Täschchen.«

Sarah presste ihre Dooney&Bourke-Handtasche an ihre Brust. »Was hast du gegen meine Handtasche? Da steckt alles drin, was man zum Leben braucht: Make-up, Geld, Kreditkarten, Führerschein, Pfefferminz, Taschentücher.«

»Genau das Richtige für einen Tag in Manhattan.«

»Stimmt.«

»Nur dass wir uns auf entlegenem Weideland einer der größten Ranches in Nordtexas befinden und draußen ein Eissturm tobt. Hast du wenigstens Streichhölzer da drin?«

»Ich rauche nicht.«

»Keine Sorge. Ich finde schon eine Möglichkeit.«

»Oh, dann kümmert sich der echte Kerl also um das arme, schlecht ausgerüstete Mädchen aus der Stadt?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber gemeint.«

»Das lasse ich mir nicht unterstellen, und ich werde mich auch nicht auf ein Verbalgefecht mit dir einlassen, zumal du als Schriftstellerin über die besseren Waffen verfügst.«

»Waffen?«

»Du benutzt deinen Intellekt, um die Leute auf Distanz zu halten.«

Tat sie das tatsächlich? Vielleicht. »Ach, bitte. Diese Auseinandersetzung beruht offensichtlich auf einem Missverständnis.«

Er lächelte, als würde er sich über sie amüsieren.

Sein Lächeln ärgerte sie. »Warum grinst du?«, fragte sie schnippisch.

Er verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte nichts, aber sein Lächeln hatte sich tatsächlich in ein Grinsen verwandelt. Ein Blick von ihm, und sie war überdreht wie ein Hundewelpe aus dem Tierheim am Tag der offenen Tür. Am liebsten wäre sie davongelaufen.

»Du bist nervös«, stellte er fest.

Sarah zog die Nase kraus. »Es tut mir leid. Nerve ich dich?«

»Nein«, sagte er freundlich. »Und mach dir keine Sorgen«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, »wir werden schon klarkommen.«

Er öffnete den Rucksack, den er aus dem Pick-up mitgenommen hatte, und fing an, darin herumzuwühlen. »Wasser«, sagte er dann und stellte mehrere Flaschen auf den Tisch. »Geräucherter Truthahn.« Er legte das dicke Paket neben die Wasserflaschen.

»Ich hoffe, du hast Zahnseide bei dir«, sagte sie und fühlte sich definitiv geschlagen. Er war wirklich gut ausgerüstet.

»Sogar Zahnbürsten.« Wunderbarerweise zog er neue Zahnbürsten, Zahnpasta und Zahnseide aus einer Seitentasche. »Zahnhygiene bedeutet mir viel.«

»Ja, stimmt, dein Dad war Zahnarzt. Ich erinnere mich. Kein Wunder, dass du so super Zähne hast.« Sie kicherte.

Er sah sie zärtlich an. »Ich liebe es, dich lachen zu hören.«

Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie lachte gern, stellte sie fest.

»Äpfel«, fuhr er fort. »Vier große Red Delicious.«

»Beeindruckend, Officer Ich-bin-auf-jede-Katastrophe-vorbereitet.«

»He, ich habe schon mal in der Wildnis festgesessen. Aus mir spricht die Erfahrung.«

»Was für ein Glück, dass ich zusammen mit Daniel Boone in diesen Eissturm geraten bin.«

»Danke für das Kompliment. Der gute alte Daniel war wirklich ein ganz ausgezeichneter Pionier.« Travis grinste und durchforstete weiter seinen Rucksack. »Nüsse.« Er zog drei kleine Plastikbeutel hervor. »Pekannüsse, Cashews und Walnüsse.«

»Hm, Cashews, meine Lieblingsnüsse.«

»Club-Kräcker und Käse.«

»Du bist ein echter Naturbursche.«

»Zwei Dosen Hühnersuppe.« Er hielt sie in die Höhe. »Mit runden Nudeln, die isst Jazzy am liebsten.«

»Wenn du auch noch Kekse mit Schokosplittern dabeihast, werde ich dich heiraten.« Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, hätte sie sich die Zunge abbeißen können.

»So sehr machen dich Schokosplitterkekse an?«

Sie zuckte lachend die Schultern. »Nun, du weißt schon … Schokolade.«

»Bringt selbst vernünftige Frauen dazu, den Kopf zu verlieren?«

Travis legte den Kopf schräg und blickte sie von der Seite an. Sie spürte, wie ihr ein angenehmer Schauder über den Rücken lief.

»Ähm … so was in der Art.«

»Du frierst«, stellte er fest.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Drückten sich etwa ihre Brustwarzen durch BH und Pullover? »Nein, nein, ich friere nicht.« In Wirklichkeit war ihr heiß, sehr heiß.

»Ich werde ein Feuer anzünden.«

»Ich dachte, du hättest keine Streichhölzer bei dir.«

»Nein«, erwiderte er, »du hattest keine Streichhölzer bei dir. Ich schon.«

»Angeber.«

»Komm schon, gib’s zu, es gefällt dir, dass ich so gut ausgerüstet bin.«

»Was mich anbelangt, so finde ich, dass du viel zu selbstsicher bist.«

»Ich bin nicht annähernd so selbstbewusst, wie du vielleicht glaubst.« Seine unverstellte Aufrichtigkeit überraschte sie. »Die Wahrheit ist, dass ich mich genauso beklommen fühle wie du, weil wir hier zusammen gestrandet sind.«

»Wirklich?«, flüsterte sie.

»Sarah …« Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie wich nicht zurück. »Seit ich dich an jenem Abend aus dem See gezogen habe, habe ich an nichts anderes denken können, als mit dir zu schlafen, dich zu lieben. Als du abgereist bist, dachte ich: Okay, das war’s, aber dann bist du zurückgekommen …«

Er schlang die Arme um sie und zog sie an seine Brust. Sie verschränkte die Arme in seinem Nacken.

Sie atmete seinen Duft ein, saugte seine Unterlippe in ihren Mund und knabberte leicht daran.

Er stöhnte und schloss die Augen. »Wenn du so weitermachst, steckst du in ernsthaften Schwierigkeiten.«

Sarah trat einen Schritt zurück. Er hatte recht. Das hier führte nur zu einem Ziel. Wollte sie das wirklich? Wollte sie diesen Sprung wagen?

»Lass es uns langsam angehen«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Wir haben die ganze Nacht. Bei diesem Eissturm wird keiner hier rauskommen, um uns zu retten. Ich mache uns ein Feuer an, dann haben wir es warm und gemütlich.«

Wie um seine Worte zu unterstreichen, toste draußen der Wind und schleuderte eine neue Salve von Hagelkörnern gegen die Fensterscheiben.

Travis vermittelte ihr eine Geborgenheit, die sie nie zuvor gekannt hatte. Sie hatte so viele Jahre für sich selbst gesorgt, dass das ein berauschendes Gefühl war. Zu wissen, dass er sich um sie kümmern würde, komme, was da wolle.

»Versprichst du mir, mich anschließend nicht halb nackt auf die Veranda zu stoßen?«, neckte sie ihn.

»Sarah«, murmelte er und nahm ihr Gesicht zwischen seine Handflächen. »Es tut mir so leid.«

»Ich will dich doch nur aufziehen.«

»Nur zum Teil«, widersprach er und bedachte sie mit seinem durchdringenden Blick. »Ich habe dich wirklich verletzt.«

»Aber ich verstehe dich«, sagte sie. »Jazzy kommt an erster Stelle.«

»Das tut sie, aber das gibt mir nicht das Recht, dich so in Verlegenheit zu bringen.«

»Normalerweise bringe ich mich selbst in Verlegenheit, wenn es um dich geht.«

»Ich denke, es ist an der Zeit, das zu ändern.«

»Ach? Und wie?«

»Was hältst du davon, wenn du offiziell meine Freundin wirst?«

»Wie bitte, Officer Walker, bitten Sie mich etwa darum, mit Ihnen zu gehen?«

»Und was würdest du sagen, wenn?« Seine grauen Augen bohrten sich in ihre.

Ihr Herz hüpfte, und ihr Kopf füllte sich augenblicklich mit wundervollen Fantasien, doch sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, nicht zu viel Hoffnung in Tagträumereien zu legen. »Ich denke, Fernbeziehungen funktionieren nur selten.«

»Und ich würde dem entgegenhalten, dass Schriftsteller überall arbeiten können. Ohnehin scheint dir die Arbeit in Twilight leichter von der Hand zu gehen als in New York.«

»Bittest du mich etwa gerade, meine Wohnung in Manhattan aufzugeben?«

»Gibt es irgendetwas, das dich dort hält?«

Sie hielt seinem durchdringenden Blick stand. »Gibt es etwas, das hier auf mich wartet?«

Er zögerte. Sein Zögern dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber es war lang genug, um den Anflug von Hoffnung zu ersticken, der in ihr aufkeimte. »Du hast viele Freunde hier.«

»Ja«, sagte sie, kämpfte die in ihr aufsteigende Traurigkeit nieder und zwang sich zu einem Lächeln. »Das habe ich jetzt wohl.«

»Sarah, ich …«

»Du musst dich nicht dafür entschuldigen, dass du mir nichts versprechen kannst. Das ist schon in Ordnung. Du bist ein guter Vater, der sichergehen muss, dass seine persönlichen Entscheidungen nicht das Wohlbefinden seines Kindes beeinträchtigen.«

»Sarah«, flüsterte er, »du bist die liebenswürdigste, verständnisvollste Frau, die ich kenne.«

»Das ist es nicht«, widersprach sie. »Der Grund ist, dass ich mich ebenfalls um Jazzy sorge.«

»Also machen wir einen Schritt nach dem anderen?«

»Selbst die längste Reise beginnt mit einem ersten Schritt, hab ich recht?«

»Ja.«

»Ähm … bevor wir das noch weiterspinnen, habe ich eine Frage«, sagte sie.

»Und welche?«

»Hast du Kondome im Rucksack?«

Er lachte. »Was denkst du denn?«

»Oh? Du warst dir so sicher?«

»Nein, ich wollte nur nicht unvorbereitet sein.«

»Man sollte dich wirklich als Leiter der Katastrophenschutzbehörde vorschlagen. Du bist weit besser vorbereitet als manch andere, die dort arbeiten.«

»Apropos, jetzt muss ich mich aber um das Feuer kümmern«, sagte er.

»Hast du Hunger? Ich könnte uns eine Dose Suppe zum Mittagessen aufwärmen.«

»Klingt gut.«

Sarah machte sich am Gaskocher zu schaffen und wärmte die Nudelsuppe auf, während Travis den Elementen trotzte und sich auf die Suche nach Feuerholz machte. Was immer heute Nacht in dieser Blockhütte passieren mochte – sie würde den Moment genießen. Keine Fantasien. Keine Erwartungen. Keine Hoffnungen auf ein »Und sie lebten glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage«.

Während die Suppe langsam warm wurde, ging Sarah ins angrenzende Badezimmer – wenn man es denn so nennen konnte –, um sich frisch zu machen. Sie bürstete sich die Haare und zog ihren Lippenstift nach. Als sie wieder herauskam, brannte ein knisterndes Feuer im Kamin, und Travis beugte sich vor, um weitere Scheite hineinzulegen.

Ihr Blick wanderte über seinen muskulösen Rücken und blieb an seinem knackigen Hintern in der Jeans hängen – ein Anblick, den sie genoss.

Er richtete sich auf, drehte sich um und schnappte sichtbar nach Luft. »Mein Gott, du siehst umwerfend aus.«

Sie wurde rot bis zu den Ohrenspitzen. »Er kann das Wetter vorhersagen, einen Wahnsinnsrucksack packen und mit eisigem Holz ein Feuer machen. Was kann sich ein Mädchen mehr wünschen?«

»Wenn du das nicht weißt«, sagte er und streckte eine Hand aus, um sie näher ans Feuer zu ziehen, »dann liegt wohl noch einige Arbeit vor mir.«

»Ich freue mich darauf, von deiner Fachkenntnis zu profitieren.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und knabberte an seinem Ohrläppchen.

Travis stöhnte und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. »Wenn du nicht gleich damit aufhörst, wird die Suppe anbrennen, auch wenn mir das gerade völlig egal ist.«

Sie kicherte, erstaunt darüber, wie unbeschwert sie sich fühlte. »Ruhig, Tiger, ich werde uns etwas Suppe servieren.«

Travis zog den Tisch und die Stühle vors Feuer, dann setzten sie sich einander gegenüber, die dampfenden Suppenteller zwischen sich. Während sie aßen, schaute er sie unentwegt an. Wieder wurde ihr heiß. Nervosität stieg in ihr auf. Nervosität und Erregung. Sie waren in einem Eissturm gefangen, und es gab keinen anderen Ort als diese Blockhütte und nichts anderes zu tun, als …

Ihr Blick schweifte hinüber zum Bett.

Er bemerkte es, und ein Grinsen trat auf seine Lippen. Schnell richtete Sarah ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Suppenteller.

»Erzähl mir, welche Geschichte du als Kind am liebsten gehört hast«, bat er. Offenbar suchte er nach einem unverfänglichen Thema, damit sie sich entspannte.

»Die Zeitfalte von Madeleine L’Engle.«

»Das Buch, das du gelesen hast, als wir dich bei der Schnitzeljagd aufgespürt haben.«

»Ja. Madeleine hat mir als Kind durch so manche schwere Zeit geholfen.«

Ganz besonders, als ich mich deinetwegen so zum Narren gemacht habe. Sie hat mir die Hoffnung gegeben, ich könnte in einem schwarzen Loch versinken und als wieder zurechnungsfähiger Mensch auf der anderen Seite herauskommen.

»Du hast dich Meg sicher sehr verbunden gefühlt«, sagte er.

»Du kennst die Hauptfigur? Du hast das Buch gelesen?«

»Wieso klingst du so überrascht? Ich kann lesen.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Es ist auch eins von Jazzys Lieblingsbüchern. Aber Das magische Weihnachtsplätzchen ist immer noch die Nummer eins auf ihrer Liste. Du hast ihr geholfen, mit ihrem Leben zurechtzukommen, so wie Madeleine L’Engle dir geholfen hat.« Travis legte den Kopf schräg und betrachtete sie lange.

»Was ist?«, fragte sie ein wenig ungehalten.

Er schüttelte den Kopf. »Ich komme immer noch nicht darüber hinweg, dass du Sadie Cool bist. Es ist einfach …«

»Unglaublich?«

»Beeindruckend, das wollte ich sagen.«

Sie zuckte die Achseln. »Nicht beeindruckender, als allein ein Kind großzuziehen.«

»Möchtest du jemals heiraten? Kinder bekommen?«

Wollte sie das? Wieder zuckte sie die Achseln. »Ehrlich gesagt, habe ich noch nie darüber nachgedacht.« Das stimmte nicht ganz. Sie hatte darüber nachgedacht, sie war lediglich davon ausgegangen, nie und nimmer einen Mann zu finden, der bereit war, über ihre Narbe und persönlichen Macken hinwegzusehen. »Ich bin ja erst vierundzwanzig.«

»Als ich vierundzwanzig war, war ich bereits verheiratet und Vater einer dreijährigen Tochter.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Manche von uns erblühen eben später.«

»Man könnte auch sagen, dass du schon sehr früh wusstest, was du wolltest.«

Sprach er von der Schriftstellerei oder von sich selbst? Sarah rutschte auf ihrem Stuhl herum und konzentrierte sich auf ihre Suppe.

Sie schwiegen, dann sagte Travis: »Weshalb bist du mitgekommen, um mit mir den Baum für den Stadtplatz zu fällen?« Er griff über den Tisch und fuhr mit dem ausgestreckten Finger über die Rückseite ihrer Hand, zog sanft die blaue Ader nach, die von ihrem Zeigefinger zu ihrem Handgelenk führte. »Versteh mich nicht falsch, ich freue mich wirklich, dass du mich begleitest, aber ich dachte, du hättest es nicht so mit dem ganzen Weihnachtsgedöns.«

Sie zuckte die Achseln. »Moe hat mir irgendwie keine Wahl gelassen.«

»Du hättest Nein sagen können. Ich hatte damit gerechnet.«

Sie senkte die Augenlider und spürte, wie sich ein erneutes Hitzegefühl in ihr breitmachte. »Ich weiß nicht. Ich denke, ich wollte einfach …«

»Was?«

»Ich wollte einfach bei dir sein«, gab sie zu.

Seine Finger wanderten von ihrem Handgelenk zum Ellbogen und zurück. »Ich bin wirklich froh darüber.«

»Rat mal, was ich in meiner Handtasche gefunden habe, als ich mich frisch gemacht habe?«, sagte sie, um das Thema zu wechseln und eine Entschuldigung dafür zu finden, dass sie ihm den Arm entzog, bevor sie vor Anspannung zerbarst.

»Was?«

Sie griff nach ihrer Handtasche und zog zwei Lutscher mit Kirschfüllung heraus. »Nachtisch.«

Er lachte.

»Warum werden sie eigentlich Lutscher genannt?«, fragte sie und wickelte ihren aus. »Warum nicht ›Lecker‹? Manche Leute lecken daran, und was ist mit denen, die sie einfach im Mund schmelzen lassen?«

»Und dann gibt es noch die Beißer, die keinerlei Rücksicht auf ihre Zähne nehmen. Sie wollen bloß an die Füllung«, sagte Travis und setzte einen lüsternen, verführerischen Blick auf.

»Zu welchem Typ zählst du?«, fragte sie. »Bist du ein Lutscher, ein Lecker oder ein Beißer?«

»Ein Lecker bis zum Schluss.« Seine Augen sprühten vor Schalk. »Und was ist mit dir?«

»Ich lasse ihn einfach im Munde zergehen.«

»Hm. Dann weiß ich ja jetzt Bescheid. Man weiß nie, wann sich so ein Wissen als nützlich erweist.« Er zwinkerte.

Ein Schauder rieselte ihr Rückgrat hinab, und sie fühlte … Nun, was fühlte sie? Das war die Frage. Sie war sich nie sicher, ob ihre Gefühle echt waren oder lediglich etwas, das nachließ, sobald ein wenig Zeit verstrichen war. Meistens traf Letzteres zu. Gefühle änderten sich stets. Sie waren nichts, worauf man langfristig bauen konnte.

»Weshalb verbringst du die Feiertage nicht mit deinen Eltern?«, fragte er und leckte langsam an seinem Lutscher.

Ihr Blick war auf seinen Mund gerichtet. »Sie haben auch nichts übrig für dieses Weihnachtsgedöns.«

»Ihr seid nicht besonders familienorientiert.«

»Das kann man wohl sagen.«

Seine Zungenspitze fuhr um seinen Lutscher herum. »Das klingt nach der Kurzversion«, sagte er. »Wir werden hier wohl für eine Weile festsitzen, du kannst mir also ruhig die lange Version erzählen.«

»Meine Eltern sind hervorragende Chirurgen. Sie zählen zu den besten der Welt. Sie leben voll und ganz für ihren Beruf; sie hätten nie ein Kind in die Welt setzen dürfen.«

»Obwohl ich verdammt froh bin, dass sie es getan haben.« Er hörte auf, an seinem Lutscher zu lecken, und sah sie einfach nur an.

Sarah schluckte überwältigt. »Ich habe mich mutterseelenallein gefühlt, aber ich habe mich nicht dagegen aufgelehnt. Ich habe mir keine große Mühe gegeben, ihre Liebe zu gewinnen. Stattdessen habe ich mich einfach in mein Schicksal gefügt und begriffen, dass ich von ihnen nichts erwarten durfte.«

Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Wie schmerzhaft für ein kleines Mädchen.«

»Ehrlich, das ist für mich in Ordnung. Was ich aus meiner Kindheit am deutlichsten erinnere, ist die Stille in dem großen Haus. Meistens war ich allein dort mit der Haushälterin. Meine Eltern waren ständig im Krankenhaus oder auf irgendwelchen Vorträgen. Aber selbst wenn sie da waren, waren wir keine richtige Familie. Die beiden bildeten stets ein Paar, und ich stand allein da, als schwebten wir in verschiedenen Umlaufbahnen und es gäbe keine Möglichkeit, dass sich unsere emotionalen Wege jemals kreuzten. Meine Eltern waren völlig im Einklang miteinander. Ihre Gespräche drehten sich immer nur um Medizin. Ich fühlte mich stets wie ein Beobachter, der ihnen nur zuschaute, aber nie aktiv teilnahm. Ich denke, sie wussten einfach nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Wenn sie versuchten, mich einzubeziehen, war es, als würden wir verschiedene Sprachen sprechen. Ich schätze, deshalb haben sie mich so schnell wie möglich aufs Internat verfrachtet. Ich erinnerte sie daran, dass sie als Eltern versagt hatten.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, Jazzy fortzuschicken.« Travis’ Stimme klang brüchig vor Emotionen. »Wie war es auf dem Internat für dich?«

»Es war in Ordnung. Ich habe mir nicht gern das Zimmer mit jemandem geteilt.« Sie verzog das Gesicht. »Privatsphäre ist mir sehr wichtig, und ich war in Gesellschaft schon immer unbeholfen. Deshalb habe ich viel Zeit in der Bibliothek verbracht, und wenn ich mich mit den anderen auseinandersetzen musste, übernahm ich einfach ihre Gesichtsausdrücke und Gewohnheiten und sprach, wie sie sprachen, um mich anzupassen. Ich habe beobachtet, gelernt und nachgeahmt. Und du?«

»Ich? Wenn ich mit Menschen zusammen bin, ist es, als stünde ich unter Strom. Ich bin voller Energie, und ich denke darüber nach, was ich tun kann, damit es für alle Beteiligten noch lustiger wird«, sagte er.

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte sie.

»Also …« Er zögerte. »Wie ist es für dich, in einer romantischen Beziehung zu sein?«

Wie sollte sie ihm erklären, dass sie die meiste Zeit ganz glücklich ohne eine romantische Beziehung war? So merkwürdig das für manche Leute auch klingen mochte, es gefiel ihr, abstinent zu leben, denn es befreite sie von persönlichen Verpflichtungen.

Zugegeben, manchmal, wenn sie draußen auf der Straße einander küssende oder Händchen haltende Paare sah, fühlte sie sich einsam und fing an, ihre Zurückgezogenheit zu hassen. Doch immer, wenn sie mit jemandem zusammen war, stellte sie fest, dass sie sich erst hinterher richtig wohlfühlte, wenn sie wieder allein war und in Gedanken alles noch einmal durchgehen konnte. Es war, als wäre die Erinnerung an die Verabredung bereichernder als die Beziehung an sich. Auf lange Sicht hatte sie sich in der Vergangenheit mit einem Partner oft einsamer gefühlt als ohne, was in ihr die Frage aufwarf, ob sie überhaupt zu spontanen Gefühlen fähig war, wenn die Sache ernster wurde.

Einmal hast du dich auf spontane Gefühle eingelassen. Und diese Gefühle galten genau jenem Mann, der dir jetzt gegenübersitzt.

Tja, und nun schau, was daraus geworden ist.

Aber es war ihr wieder passiert; obwohl sie sich mit aller Macht dagegen gewehrt hatte, hatte sie sich doch in ihn verliebt. Vielleicht hatte sie nie aufgehört, ihn zu lieben, sondern die Erinnerung an ihn neun Jahre lang verdrängt.

»Verrätst du mir, wovor du wirklich Angst hast?«, fragte er.

Sarah blickte auf seine Hand und fuhr mit dem Zeigefinger seine kräftigen Muskeln nach. Ein Scheit im Kamin knackte und schickte einen Funkenregen den Schornstein hinauf. Sie blickte in Travis’ Augen und verstand plötzlich, dass dieses Gefühl für ihn genauso aufreibend war wie für sie. Also nahm sie all ihren Mut zusammen und sagte:

»Ich habe Angst … weil, nun, weil ich nicht weiß, wohin das hier führt. Ich weiß nicht, was ich mir wünsche, wohin es führen soll. Und ich habe Angst, weil ich dich mehr begehre, als ich sollte.« Sie zögerte, wandte den Blick ab und schaute ins Feuer.

»Ja«, sagte er. »Ich verstehe, dass dir der Gedanke, mit mir zusammen zu sein, Angst macht.«

Meinte er das sarkastisch? Hatte sie seine Gefühle verletzt? »Vor dir habe ich keine Angst«, stellte Sarah klar. »Ich habe vor mir selber Angst. Ich hatte noch nie eine richtige Beziehung. Ich weiß noch nicht mal, ob ich dazu in der Lage bin.«

»Du hast Angst davor, zu viel zu empfinden.«

Das traf den Nagel auf den Kopf. Sarah runzelte die Stirn.

»Ich hätte dich nicht mitnehmen sollen. Ich hätte darauf bestehen sollen, dass wir noch warten. Ich wusste, dass ein Sturm aufzieht, ich dachte nur, wir könnten es noch schaffen, und ich dachte …« Seine Augen waren rätselhaft. »Wem mache ich eigentlich etwas vor? Ein Teil von mir hat sich gewünscht, dass ich mit dir in dieser Hütte in einem Eissturm festsitze.« Er atmete hörbar aus und fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles, zerzaustes Haar. »Nicht bewusst, sondern auf einer unterbewussten Ebene. Ich dachte, es sei die einzige Möglichkeit, dich festzunageln.«

»Aber jetzt«, sagte sie, »bist du selbst festgenagelt.«

»Ja.« Er lächelte schief. »Wenn ich clever wäre, würde ich mich zu Fuß auf den Weg in die Stadt machen und mit dem Räumfahrzeug anrücken, um dich zu retten.«

»Bitte tu das nicht. Ich möchte nicht, dass du gehst.«

»Und genau aus dem Grund sollte ich vermutlich tatsächlich aufbrechen, aber ich kann dich nicht einfach so allein lassen, und das nicht, weil es unritterlich wäre. Ich genieße deine Gesellschaft.«

Sie holte tief Luft und gestand ihm zögernd ihre eigenen Gefühle. »Ich genieße deine Gesellschaft auch. Und ich will mehr.«

»Bist du dir sicher?«

Sie schluckte. »Ich denke seit Tagen an nichts anderes, Travis.«

Er nahm ihre Hand, drehte die Handfläche nach oben und strich sanft mit den Fingern darüber. Die Berührungen waren unschuldig, aber die Gefühle, die sie in ihr auslösten, waren eindeutig erotischer Natur. »Bevor wir hiermit weitermachen, solltest du mir erzählen, wie du zu der Narbe gekommen bist.«

Sie erstarrte und spürte, wie sie sich in sich selbst zurückzog. Er streichelte weiter ihre Hand und hielt ihr Handgelenk mit zwei Fingern umfasst, damit sie sie nicht zurückziehen konnte.

»Nein«, sagte er. »Weglaufen gilt nicht. Wenn du das hier so sehr willst, wie ich es will, müssen wir offen und ehrlich miteinander sein. Keine Geheimnisse. So funktionieren innige Beziehungen.«

»Hat es so bei Crystal und dir funktioniert?«

»Nein«, sagte er. »Ich weiß nur, wie es nicht funktioniert. Wenn wir das hier auf eine andere Ebene bringen wollen, müssen wir zunächst ein paar Mauern einreißen.«

»Willst du das wirklich?«, fragte sie. »Willst du mich, oder willst du Sadie Cool? Mein Alter Ego. Ich bin nicht wie sie.«

»Das weiß ich, und ich weiß, wer du bist, Sarah Collier. Ich kenne dich, seit du acht Jahre alt warst.«

»Ich habe Angst«, flüsterte sie.

»Wovor?«

»Wenn du mich erst richtig siehst …« Sie holte tief Luft. »… Wirst du mich bestimmt nicht mehr attraktiv finden.«

»Du unterschätzt mich«, sagte er, und seine kräftigen Finger schlossen sich um ihre.

»Das behauptest du jetzt …«

»Ich meine es ernst. Du bist für mich die verführerischste Frau auf der ganzen Welt, und das nicht nur wegen deines Äußeren. Es ist dein majestätisches Auftreten und die Art und Weise, wie gelassen du alles nimmst. In einem Eissturm gefangen zu sein, zum Beispiel. Du zuckst nicht mal mit der Wimper, wenn dir klar wird, dass wir die Nacht zusammen in einer Jagdhütte verbringen müssen. Crystal wäre ausgeflippt.«

»Ich habe es nie für eine angemessene Strategie gehalten, wegen etwas auszuflippen, das man nicht kontrollieren kann.«

»Genau.« Er hielt ihren Blick fest, und sie wich ihm nicht aus. Wollte ihm nicht ausweichen. »Ich werde dir etwas erzählen, worüber ich für gewöhnlich nicht viel spreche. Es geht um die Narbe, die du nicht sehen kannst. Um die Narbe auf meiner Seele, die ich dir zeigen möchte.«