Kapitel acht
Nachdem sie Sarah den ganzen Tag lang durch die Stadt begleitet hatte, wollte Raylene nichts anderes, als sich mit Earl vor den Fernseher zu kuscheln und abzuschalten. Nicht dass es ihr etwas ausgemacht hätte, Sarah durch die Gegend zu kutschieren, damit sie ihren Verpflichtungen als ehrenamtliche Bürgermeisterin nachkommen konnte. Ganz im Gegenteil: Raylene hatte es genossen, mal aus ihrer täglichen Routine herauszukommen. Doch sie war daran gewöhnt, rund um die Uhr mit ihrem Ehemann zusammen zu sein, und sie hatte den alten Kauz vermisst.
Freitagabends kam Earl früher von der Arbeit heim und übertrug Linc, ihrem Chef-Barkeeper, die Verantwortung für das Horny Toad. Zu dieser Jahreszeit nahm Raylene an den Freitagabenden an den Treffen des First Love Cookie Clubs teil, die normalerweise gegen zwanzig Uhr vorbei waren. Raylene hatte vor, es sich mit Earl und einer großen Schüssel Popcorn auf dem Wohnzimmersofa bequem zu machen und einen Film anzuschauen, wenn sie nach Hause kam – einen Monty-Python-Klassiker und vielleicht sogar ihren persönlichen Favoriten, Ein Fisch namens Wanda. Dieser alberne Streifen brachte sie jedes Mal zum Lachen. Vielleicht würde sie aber auch bei einem DVD-Verleih vorbeifahren und irgendwas Neues mitnehmen. Sie hatte gehört, Denzel Washingtons jüngster Thriller sei gerade auf DVD erschienen. Raylene liebte Denzel Washington.
Dotty Mae setzte sie nach ihrem Plätzchenclubtreffen ab und brauste davon, das Klappern ihres uralten VW Käfers hallte durch die Woodbury Estates. Einen Augenblick blieb Raylene in der Dunkelheit stehen und atmete die vielfältigen Gerüche des vorweihnachtlichen Twilight ein. Der Rauch eines Holzfeuers, vermischt mit dem Duft nach Kiefern, lag in der Luft, darunter der schwache Geruch des Sees.
Lichter in Form von Eiszapfen blinkten an den Dachtraufen ihres Hauses und wechselten in gleichmäßigen Abständen die Farbe: erst rot, dann grün und dann weiß, bevor alles wieder von vorne losging. Als Dotty Maes Käfer nicht mehr zu hören war, vernahm Raylene andere Geräusche: Nebenan stritten sich die temperamentvollen Scarpettis, der Burlington-Northern-Zug gab sein schwermütiges Tuten von sich, während er ein paar Meilen entfernt über die Gleise in der Nähe des Futtermittel- und Getreidelagers ratterte, der Wind strich flüsternd durch die Paternosterbäume in ihrem Vorgarten.
Sie dachte an die Plätzchen, die sie für den Plätzchentausch am kommenden Freitag backen würde. Gewürzkekse. Die Damen im Club gaben ihren Plätzchen gern weihnachtliche Namen. Raylene hatte ihre Sorte Weihnachtsmann-Gewürzkekse genannt. Das Rezept stammte ursprünglich von ihrer schwedischen Urgroßmutter. Ein paar der Mitglieder des First Love Cookie Clubs mochten keine Gewürzkekse. Zu würzig, behaupteten sie. Nun, das war genau das, was Raylene reizte: Sie liebte exotische Gewürze. Der Hauch ferner Länder, vermischt mit reinem weißen Zucker und Mehl, verlieh den Plätzchen etwas Außergewöhnliches und unterschied sie von den langweiligen Vanilleplätzchen. Zumindest war das ihre Meinung.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, um sich vor der Brise zu schützen, die vom See heraufblies, und eilte mit gesenktem Kopf die Stufen der hinteren Veranda hinauf. In der Küche blieb sie stehen, um sich ein halbes Glas Rotwein einzuschenken, streifte ihre Schuhe ab und tappte in Richtung Wohnzimmer.
Earl lag ausgestreckt auf der Couch unter einer blau-silbernen Dallas-Cowboys-Decke, die sie für ihn gestrickt hatte. Der Fernseher lief. Ihr Gatte schnarchte geräuschvoll. Das Haus war aufgeräumt, der Fußboden frisch gesaugt, die Tische abgewischt. Earl hielt das Haus besser in Schuss als sie selbst.
Eine Schulter an die Türzarge gelehnt, blieb sie stehen und betrachtete ihn. Earl hatte ein freundliches Gesicht. Er lächelte oft, lachte viel und ließ sich nur schwer in Rage bringen. Über die Jahre war er ein bisschen runder geworden, aber er hatte kein Übergewicht. Sein Haar war immer weniger geworden, aber er sah gut aus mit Glatze. Nicht so gut wie Yul Brunner, aber immer noch attraktiv.
Alle mochten Earl. Er war der Typ Mann, der einem nicht nur sein letztes Hemd gab, sondern auch noch seine Hose und seine Schuhe, wenn man sie brauchte. Er war völlig unvoreingenommen, ein Mann, dem man ein Geheimnis anvertrauen konnte.
Sie kannte Earl Pringle, seit er ihr auf dem Spielplatz die Zöpfe langgezogen hatte. Er war so sehr Teil ihres Lebens, wie es ihre eigenen Geschwister waren. Er hatte ihr die Bücher von der Schule nach Hause getragen und ihr erklärt, dass er sie eines Tages heiraten würde, und er hatte Raylene mit elf Jahren am Valentinstag ihren ersten Kuss unter dem Liebesbaum gegeben. Er war ihr Ein und Alles, war ihr erster Freund, ihr erster Liebhaber gewesen, und er würde auch ihr letzter sein. Dennoch war er nicht der Einzige gewesen.
Raylene nahm einen Schluck Wein, holte tief Luft und kehrte einundvierzig Jahre in ihrer Erinnerung zurück, als sie gerade achtzehn geworden war und erfahren hatte, dass sie als Cheerleaderin der Dallas Cowboys auserwählt worden war. Es war einer der entscheidenden Momente in ihrem Leben gewesen, und der Erste, dem sie davon erzählen wollte, war Earl.
Sie spürte ihn im örtlichen Tante-Emma-Laden auf, der inzwischen längst durch einen riesigen Wal-Mart ersetzt worden war, wo er die Regale auffüllte. Sie war so aufgeregt gewesen, dass ihr gar nicht in den Sinn gekommen war, Earl könne ihre Freude nicht teilen.
»Ich freue mich für dich«, sagte er mit dem traurigen Gesicht eines getretenen Hundewelpen.
»Du siehst nicht gerade glücklich aus.«
Er bemühte sich um ein Lächeln. »Du wirst mich verlassen. Du wirst von professionellen Football-Spielern umgeben sein, die alles haben, was ich nicht habe: Geld, Macht, Ruhm.«
Sie hatte seine Schulter getätschelt. »Sei nicht albern. Ich liebe dich, Earl Pringle, selbst wenn du genauso heißt wie eine Kartoffelchips-Marke. Ich werde dich nicht verlassen.«
Doch genau das hatte sie.
Er hatte recht gehabt. Als die Football-Spieler mit ihr geflirtet hatten, war sie dahingeschmolzen wie Butter in der Sonne. Sie hatte Earl verletzt. Zutiefst verletzt.
Im Fernsehen fing eine aufgezeichnete Talkshow mit Roy Firestone an, der hinter einem Schreibtisch saß und darüber nachgrübelte, ob es die Cowboys ins Finale schaffen könnten. Sie hatten eine äußerst durchwachsene Saison hinter sich. Raylenes Meinung nach waren sie nicht mehr dieselben, seit Tom Landry in den Ruhestand gegangen war.
Sie nahm einen weiteren Schluck Wein und hätte sich fast verschluckt, als Roy Firestones Gast auf die Bühne geschlendert kam. Lance Dugan, ehemaliger Runningback der Dallas Cowboys, wirkte auch mit über sechzig noch ausgesprochen attraktiv mit seinen grau melierten Haaren und seinem schlanken, muskulösen Körper. Damals hatte er ihr den Atem geraubt.
Der Anblick ihres Exmanns nahm ihr die gute Laune, denn Raylene hatte ein Geheimnis, das so groß war, dass sie es in sechsunddreißig Jahren niemandem anvertraut hatte. Mitunter nagte es an ihr, trotz der sorglosen Grundhaltung, die sie nach außen hin zur Schau trug. Die Dinge, die sie getan hatte, die Lügen, die sie diesem liebenswerten Mann aufgetischt hatte, der da auf dem Sofa schlief und den sie seit ihrem sechsten Lebensjahr geliebt hatte, machten ihr zu schaffen.
Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Melancholie, und sie ging zurück in die Küche, wo sie sich noch ein halbes Glas Merlot einschenkte. Das Glas in der Hand ging sie zu der Schiebeglastür, die hinaus in den Garten führte. Unterwegs griff sie nach ihrem Handy auf dem Küchentisch, wo sie es abgelegt hatte, als sie hereingekommen war, und nahm es mit nach draußen.
Die Nachtluft war frostig, aber das war nicht schlimm, denn sie trug einen dicken Schurwollpullover, den sie gestrickt hatte, als sie mit Earl junior schwanger gewesen war. Sie ließ sich auf die Liege fallen und wählte die Nummer der einzigen Freundin, die um diese Uhrzeit mit Sicherheit auf den Beinen sein würde. Patsy litt ebenso an Schlaflosigkeit wie Raylene. Verdammte Wechseljahre. Sie waren beide neunundfünfzig, da sollte man doch davon ausgehen, dass dieser Mist mittlerweile vorbei war.
Raylene lauschte dem Tuten, nahm einen Schluck Wein und blickte hinauf in die Sterne, die am Nachthimmel funkelten. »Hallo, Patsy.«
»Ähm … bist du das, Raylene?«
»Jetzt tu mal nicht so, als hätte ich dich geweckt.«
»Nein, ich habe nicht geschlafen«, sagte Patsy, aber sie klang merkwürdig.
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja. Warum?«
»Ich habe mich nur gefragt, wie es dir nach Jimmys Tod so geht«, sagte Raylene. Patsys Mann war vor einiger Zeit nach einem langen Kampf gegen die Alzheimerkrankheit gestorben.
»Das ist jetzt fast ein Jahr her. Warum rufst du wirklich an?«
Tja, warum? Eigentlich hatte sie einfach nur reden wollen, aber sie mochte Patsy gegenüber nicht zugeben, wie einsam sie sich fühlte. »Was hältst du von Mias Enkelin?«
»Sarah hat sich ganz schön gemacht.«
»Ich rede nicht von ihrem Aussehen.«
»Sie war immer ein ernstes Mädchen.«
»Ziemlich reserviert, wenn du mich fragst.«
»Wir können nicht alle so gesellig sein wie du, Ray.«
»Ist das eine Stichelei?«
»Nur wenn du das so auffassen möchtest.«
»Warum magst du mich nicht?«
»Ich mag dich sehr.«
»Nein, das tust du nicht.«
Patsy zögerte.
»Bist du noch dran?« Raylene nippte wieder an ihrem Weinglas.
»Ja. Vielleicht mag ich dich nicht immer, Raylene, aber ich liebe dich. Du weißt mehr über mich als jeder andere auf dieser Erde.«
»Außer Hondo.«
Patsy erwiderte nichts.
»Glaubst du, wir haben einen Fehler gemacht, dass wir sie nach Twilight zurückgeholt haben?«
»Sprichst du von Sarah?«
»Von wem sonst?«
»Nein, ich denke nicht, dass wir einen Fehler gemacht haben. Hast du gesehen, wie glücklich Jazzy gestern Abend bei dem Umzug war?«
»Ich habe gesehen, wie Travis Sarah auf der Party geküsst hat. Er geht viel zu schnell ran. Damit hätte ich nie gerechnet.«
»Raylene?«
»Ja?«
»Trink deinen Wein aus und geh ins Bett.«
»Woher weißt du …« Im Hintergrund hörte Raylene eine Männerstimme murmeln. »O mein Gott, du hast einen Mann bei dir.«
»Hab ich nicht«, widersprach Patsy.
»Du lügst doch wie gedruckt.« Raylene setzte sich in ihrem Liegestuhl auf.
»Das ist der Fernseher.«
»Ach, versuch doch nicht, mir so einen Unsinn aufzutischen. Ist das Hondo Crouch? Patsy Calloway Cross, hast du etwa den Sheriff in deinem Schlafzimmer?«
»Ich lege jetzt auf.«
»Jaja, leg du nur auf und geh mit Hondo ins Bett. Auf diese Wiedervereinigung läuft es doch seit vierzig Jahren hinaus.«
»Es ist keine Wiedervereinigung, es ist bloß …«
»Dann ist es also tatsächlich Hondo«, frohlockte Raylene. »Ich wusste es. O Patsy, ich freue mich so für dich!«
»Stell den Wein weg, Ray, und geh ins Bett.«
»Patsy hat einen Freund.«
»Ich lege jetzt wirklich auf. Gute Nacht.«
Raylene blieb fröstelnd in der Dunkelheit sitzen und trank ihren Wein. Ein Teil von ihr wollte hineingehen, ihren Mann an der Schulter schütteln, ihn aufwecken und ihm erzählen, was sie ihm seit sechsunddreißig Jahren hätte erzählen sollen. Doch wenn man ein Geheimnis so lange vor der Person verborgen hatte, die man auf der Welt am meisten liebte, wie sollte man bloß damit herausrücken? Und wenn man es tatsächlich ans Tageslicht gebracht hatte, musste man doch irgendetwas diesbezüglich unternehmen. Sie war noch nicht bereit zu diesem Schritt, noch lange nicht.
Noch immer konnte sie ihre Schuldgefühle nicht abschütteln. Mit Patsy zu reden – die Raylene als eine Art Gewissen diente – hatte nicht geholfen. Im Gegenteil, jetzt fühlte sie sich noch schlechter. Ihr Herz schmerzte wegen des Fehlers, den sie gemacht hatte, wegen ihrer falschen Entscheidungen.
Sie griff wieder zum Telefon und tippte eine Nummer ein, die sie seit sehr langer Zeit nicht mehr gewählt hatte. Nach dem fünften Klingeln meldete sich eine verschlafene Männerstimme.
»Hallo«, sagte sie. »Ich bin’s. Es tut mir leid, dass ich so spät anrufe, aber ich habe über die Vergangenheit nachgedacht. Heute ist es sechsunddreißig Jahre her.«
»Ich weiß«, sagte der Mann.
»Dann sag mir, Lance, wie geht es ihr?«
Sarahs Gedanken wirbelten um die Idee für ihre neue Geschichte: Ein kleines Mädchen mit einer tödlichen Krankheit bekommt kurz vor Weihnachten einen magischen Spielzeugsoldaten von einem geheimnisvollen Fremden geschenkt, der in Wirklichkeit ein Engel ist. Der Fremde sagt ihr, wenn sie nur fest genug daran glaube, würde ihr der Spielzeugsoldat an Heiligabend ihren größten Weihnachtswunsch erfüllen.
Nachdem Dotty Mae und Raylene sie am Merry Cherub rausgelassen hatten, war sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufgeeilt, eine Tüte mit Plätzchen unter dem Arm, und hatte sich ihren Laptop geschnappt. Der Drang zu schreiben war überwältigend, eine treibende Kraft, die so grundlegend für sie war wie das Bedürfnis nach Nahrung oder Sex. Sie würde sterben, wenn sie nicht bald schreiben könnte. Verzweifelt, hungrig streifte sie die Schuhe ab, kauerte sich mitten ins Bett und begann zu arbeiten.
Ihre Finger flogen über die Tastatur. Sie konnte kaum mithalten, so schnell flossen die Gedanken, Sätze und Bilder aus ihrem Kopf. Jazzy, Travis, die Frauen des First Love Cookie Clubs und nicht zuletzt die Kleinstadt Twilight hatten ihre Muse auf Hochtouren gebracht.
Sie hörte gar nicht mehr auf zu schreiben, arbeitete weiter bis tief in die Nacht, aß Plätzchen und ließ sich von der Geschichte mitreißen, die sich wie ein Film vor ihrem inneren Auge abspielte. Im Kopf wurde Sarah zu dem kleinen Mädchen, das sie Lilian – Lily – genannt hatte. Alle Gefühle, die Lily verspürte, wallten in ihrem eigenen Herzen auf. Gepackt von der Macht des Erzählens, die durch sie hindurchströmte wie das Blut durch ihre Adern, kostete Sarah vom Paradies, das noch besser schmeckte als die himmlischen Plätzchen. Wenn sie so schrieb wie jetzt, fühlte sie sich komplett frei. Keine Beschränkungen, keine Zwänge, nur eine wilde Freude, als würde man in einem Einweckglas Blitze fangen und die ganze Welt mit dem strahlenden Leuchten der Inspiration erhellen.
Die Morgendämmerung spähte durchs Fenster, als sie zwei Drittel des ersten Entwurfs fertig hatte. Sie brauchte mehr Zeit für den Schluss, musste noch ein wenig experimentieren. Bei Das magische Weihnachtsplätzchen war es genauso gewesen. Unmittelbar vor der Fertigstellung war sie an ihre Grenzen gestoßen, Unsicherheit hatte sich eingeschlichen.
Zeit, das Manuskript zur Seite zu legen und sich eine Pause zu gönnen.
Wenn sie aufwachte, würde sie Benny anrufen und ihm mitteilen, dass er sich entspannen konnte – diesmal würde sie ihren Abgabetermin einhalten.
Lächelnd fuhr Sarah ihren Laptop herunter und schlüpfte unter die Decken, dann fiel ihr ein, dass sie gar nicht auf ihren Plan für den heutigen Tag geschaut hatte. Sie stieg aus dem Bett, durchquerte das Zimmer und zog das Programm aus ihrer Handtasche. Sarah warf einen Blick darauf und stöhnte: In drei Stunden würde sie als Maître de Plaisir die Kindervergnügungen leiten müssen, inklusive Ponyreiten, Jonglieren, Zaubervorführung, Wandmalerei und einer Scrooge-Schnitzeljagd.
Ohne Frage: Die Bewohner von Twilight erwarteten von ihr, dass sie sich das vierstellige Honorar verdiente.
Um fünf vor neun am Samstagmorgen wartete Travis mit den restlichen Eltern in der Schlange vor der Fassade von Piccadilly Circus, die im Sweetheart Park errichtet worden war. Jazzy hielt seine Hand und wand sich vor Begeisterung.
»Nun mal langsam, du springende Bohne«, sagte er sanft. »Du willst doch nicht, dass das Asthma zurückkommt.«
»Aber Daddy«, protestierte sie, »es geht mir grrroßartig!«
»Dann bist du jetzt also Tony der Tiger?«
»Ja.« Sie nickte heftig mit dem Kopf. »Und ich kann es kaum erwarrrten, dass endlich die Schnitzeljagd losgeht.«
»Vielleicht solltest du dir lieber etwas weniger Anstrengendes aussuchen, als einem Schatz hinterherzurennen. Wie wär’s mit Wandmalerei?«
»Schatzsuche, bitte, Daddy. Ich verspreche, dass ich aufhöre, sobald ich anfange zu keuchen.«
»Wenn du anfängst zu keuchen, ist es zu spät.«
»Ich habe mein Asthmaspray dabei.« Sie hielt es hoch, damit er es sehen konnte. Seit sie das neue Medikament bekam, hatte sie es nicht mehr gebraucht.
Er wollte es ihr verbieten, aber wie konnte er einem solchen Gesichtchen widerstehen?
Vor allem, da sie so viele Jahre auf fast alle Freuden hatte verzichten müssen. Wer wusste schon, wie lange dieses Glück anhielt? Da konnte er sie genauso gut eine schöne Zeit verleben lassen, solange das möglich war.
»Na gut«, gab er nach, »aber sobald du außer Atem gerätst, kommst du zu mir und sagst es mir.«
»Abgemacht«, erwiderte sie keck und streckte eine Hand aus, damit er sie schütteln konnte.
Vor ihnen in der Schlange wartete eine vierköpfige Familie mit einem Mädchen im Teenager-Alter, das ohne erkennbaren Grund kicherte, während sich hinter ihnen zwei nach Bier stinkende Jungs im College-Alter kabbelten und sich ständig gegenseitig auf die Oberarme boxten. Vor langer Zeit war er auch einmal so albern gewesen, trotzdem stellte sich Travis unweigerlich die Frage, was die jungen Männer – die ganz offensichtlich noch vom Vorabend betrunken waren – an einem Samstagvormittag im Sweetheart Park auf einer Kinderveranstaltung zu suchen hatten. Dann sah er, wie einer von beiden dem Mädchen zuzwinkerte, das erneut kicherte, und jetzt war es ihm klar.
»He«, sagte er scharf. »Diese Veranstaltung ist für Kinder, also verschwindet.«
»Ach?«, lallte einer der jungen Rabauken verächtlich. »Sagt wer?«
Travis öffnete seine Jacke und zeigte schnell seine Dienstmarke. Sie mussten ja nicht wissen, dass es eine Jagdaufseher-Marke war. »Ich. Euch wird Erregung öffentlichen Ärgernisses zur Last gelegt.«
Der junge Mann hob abwehrend die Hände. »He, Kumpel, nichts für ungut. Wir hängen hier bloß ein bisschen rum.«
»Nun, dann hängt woanders rum, wo keine Kinder sind. Verderbt ihnen nicht den Spaß.«
Der Junge blickte zögernd zu dem Mädchen hinüber. Der Altersunterschied zwischen den beiden war etwa so groß wie der zwischen Travis und Sarah. Was zwischen fünfzehn und zwanzig wie ein riesiger Abstand wirkte, schrumpfte zwischen vierundzwanzig und neunundzwanzig. Was für einen Unterschied neun Jahre doch machten!
»Du bist zu alt für sie«, tadelte Travis.
Gerade in diesem Augenblick kam eine Frau in Richtung des provisorischen Tors geeilt, das den Bereich mit den Kinderattraktionen absperrte. Sofort erkannte er den langen karamellfarbenen Zopf und die schwarzen Stiletto-Stiefel.
Sarah.
»Alter.« Einer der beiden Jungs stieß seinen Freund mit dem Ellbogen in die Rippen und betrachtete Sarah interessiert. »Sieh dir diese heiße Schnitte an. Die ist für mich.«
»Für eine Frau wie diese seid ihr zwei wiederum zu jung«, sagte Travis betont. »Ich denke, es ist Zeit, dass ihr euch vom Acker macht.«
Der Größere der beiden sah aus, als wollte er Travis herausfordern, aber etwas in seinem Blick musste den Jungen gewarnt haben, denn er zuckte die Achseln und sagte: »Und wenn schon. Das ist sowieso voll langweilig.«
»Hi, Sadie!« Jazzy winkte Sarah zu.
Sarah, die gehetzt wirkte, blieb stehen, um seine Tochter anzulächeln. »Hallo, Jazzy, bist du wegen der Scrooge-Schnitzeljagd hier?«
»Hm-hm.« Seine Tochter nickte heftig. »Ich will den Hauptpreis gewinnen.«
»Was ist denn der Hauptpreis?«
»Vier Eintrittskarten für den Six-Flags-Freizeitpark.«
»Ich drücke dir die Daumen«, versprach Sarah.
»Guten Morgen«, begrüßte Travis sie.
»Ich muss los.« Sie deutete auf die Bühne in der Mitte des Piccadilly Circus. »Ich bin der Maître de Plaisir.«
Er hob die Hand, aber sie hatte sich bereits umgedreht und eilte davon. Hm, hatte sie ihm soeben eine Abfuhr erteilt? Sie hätte wenigstens Hallo sagen können.
Sarah nahm ihren Platz vor dem Mikrofon ein. Es war eindeutig, dass sie nicht für öffentliche Auftritte geschaffen war. Sie las vom Blatt ab, begrüßte die Besucher der Dickens-Veranstaltung und erklärte die Regeln für die Schnitzeljagd. Die Teilnehmer hatten die Wahl unter drei verschiedenen Routen, auf denen sie ihre Aufgabenlisten abhaken mussten. Sie konnten im Park auf die Suche gehen, in den Geschäften am Stadtplatz oder eine Fotojagd machen, bei der sie sich mit verschiedenen Leuten und Wahrzeichen im Stadtgebiet knipsen lassen mussten. Bis drei Uhr nachmittags mussten sie mit den ausgefüllten Listen zurückgekehrt sein.
»Was möchtest du machen?«, wandte sich Travis an Jazzy, wobei er hoffte, dass sie sich für die Schnitzeljagd im Park entscheiden würde.
Doch seine Tochter wusste, wie man für bleibende Erinnerungen sorgte. »Ich möchte auf Fotojagd gehen, Daddy, dann habe ich hinterher ein Bild von mir und den anderen Leuten.«
»Okay«, sagte er. »Dann geh und hol uns eine lila Aufgabenliste.«
Jazzy ging zu der Helferin, welche die verschiedenfarbigen Listen für die verschiedenen Schnitzeljagden verteilte, und kam mit der für die Fotojagd zurück. Als erste Aufgabe stand darauf: Lass dich mit einem einheimischen Prominenten fotografieren. Die Teilnehmer konnten wählen zwischen Emma Parks, der Schauspielerin, die vor Kurzem den Tierarzt von Twilight, Dr. Sam Cheek, geheiratet hatte; Bürgermeister Moe Schebly; Sheriff Hondo Crouch, Held im Vietnamkrieg, oder der Autorin Sadie Cool.
»Ich will mit Sadie fotografiert werden. Komm schon, Daddy.« Sie nahm seine Hand und zerrte ihn in Richtung Bühne.
»Wir müssen warten, bis die Schnitzeljagd offiziell beginnt«, sagte er.
Patsy Cross, eine der Organisatorinnen, nahm Sarah das Mikrofon ab. »Wir wollen es euch nicht zu leicht machen«, sagte sie, »zumal Miss Cool eine der zu fotografierenden Prominenten bei der Fotojagd ist. Daher geben wir ihr einen Vorsprung, damit sie sich verstecken oder sich verkleiden kann. Keine Sorge, allzu weit wird sie sich nicht entfernen, sie bleibt im Park oder in der Gegend um den Stadtplatz, genau wie die anderen Personen auf der Liste. Aber auch sie dürfen Kostüme tragen, also werft einen zweiten Blick auf alle Leute, die euch begegnen.«
Sarah schlüpfte von der Bühne. Travis beobachtete, wie sie die Straße überquerte und durch die Hintertür des Buffalo Nickel trat, eines originellen kleinen Kuriositätenladens voller Antiquitäten und Souvenirs des Bundesstaates Texas.
»Okay, Teilnehmer, seid ihr bereit?«, fragte Patsy in die Menge.
»Ja!«, brüllte Jazzy.
»Auf die Plätze, fertig, los!«
Alle setzten sich gleichzeitig in Bewegung, stürzten in verschiedene Richtungen davon. Travis nahm Jazzys Hand, damit sie in dem Ansturm nicht verloren ging.
»Wohin ist sie gegangen, Daddy?«
»Sie ist durch die Hintertür ins Buffalo Nickel gegangen, aber ich glaube, ich weiß, wo wir sie finden können.«
»Aber woher denn?«
»Sadie … Sarah … und ich waren früher einmal Freunde, als sie ungefähr in deinem Alter war.«
Jazzys Augen weiteten sich. »Wirklich? Weshalb seid ihr dann jetzt nicht mehr befreundet?«
»Nun …« Er zögerte, versuchte, einen Weg zu finden, seiner Tochter die komplizierte Situation zwischen Sarah und ihm zu erklären. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und führte sie den Gehweg entlang. »Es ist nicht so, dass wir keine Freunde mehr sind, es ist nur, nun … ich bin ein bisschen älter als sie, und wenn man jung ist, ist es schwer, mit jemandem befreundet zu sein, der nicht genauso alt ist wie man selbst.«
»Wie ich und Mitchell Addison.«
Travis blickte auf seine Tochter herunter. »Was ist mit dir und Mitchell Addison?«
»Nun …«, sagte sie und griff seine Hinhaltetaktik auf. »Mitchell steht auf mich, aber er ist erst sechs, und auch wenn ich weiß, dass ich wie sechs aussehe, bin ich nicht sechs. Ich lese Bücher für Achtjährige, und er mag Comics und …«
»Du magst Mitchell doch auch.«
»Ja schon, aber er ist halt noch ein Kind.«
Travis lächelte.
»Er hat mir einen Ring gekauft«, erzählte Jazzy.
»Wie bitte?« Er war erstaunt über den Beschützerinstinkt, der sich in ihm meldete. Sie war doch erst acht. Es gab keinen Grund, sich wegen eines Sechsjährigen Sorgen zu machen, der für seine Tochter schwärmte, doch plötzlich sah er die Zukunft vor sich aufblitzen. Jazzy war blond, blauäugig und zuckersüß und noch dazu unglaublich freundlich. Um ehrlich zu sein, hatte er sich noch nie Gedanken darüber gemacht, was wäre, wenn sie einst in die Pubertät käme, so konzentriert war er darauf gewesen, jeden einzelnen Tag zu überstehen. Ein Nachteil, wenn man ausschließlich den Moment lebte, war, dass man vergaß, dass die Zukunft gleich hinter der nächsten Ecke wartete.
»Obwohl, ich glaube nicht, dass er ihn wirklich gekauft hat, ich denke, er hat ihn aus einer dieser Greifermaschinen. Er liebt es, im Bowlingcenter mit diesen Dingern zu spielen. Blöderweise wollte er ihn mir vor all meinen Freundinnen schenken, da musste ich ihm doch sagen, dass ich ihn nicht leiden kann und seinen Ring nicht will.«
»Jasmine Dawn Walker, warst du gemein zu dem kleinen Jungen?«
Jazzy senkte den Kopf und malte mit der Zehenspitze im Staub. »Ich habe versucht, es nett zu sagen.«
»Du hast seine Gefühle verletzt.«
»Daddy«, sagte Jazzy kläglich, »seine Unterlippe hat angefangen zu zittern. Ich hatte Angst, dass er anfängt zu weinen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
Travis verspürte Mitleid sowohl mit seiner Tochter als auch mit dem kleinen Mitchell Addison.
»Es hat mir auch wehgetan«, flüsterte Jazzy. »Weil ich ihn wirklich mag, aber nicht mit ihm befreundet sein kann. Ist das so wie bei dir und Sarah?«
»So ähnlich.«
Jazzy hob den Kopf und blickte ihren Vater an. »Magst du sie?«
»Ja.«
»Aber du mochtest sie nicht, als sie ein Kind war?«
»Doch, aber es war so ähnlich wie bei dir und Mitchell. Sie war zu jung für mich.«
»Aber jetzt ist sie erwachsen.«
Travis nickte. »Das ist sie.«
»Nun«, erklärte Jazzy. »Ich mag sie, und ich mag ihr Buch. Und jetzt lass sie uns suchen und das Foto machen, damit wir diese Schnitzeljagd gewinnen. Ich wollte immer schon in einen Freizeitpark fahren.«
Irgendetwas sagte Travis, dass Sarah aus dem Buffalo Nickel in den Buchladen, das Ye Olde Book Nook, geschlüpft war. Seine stärkste Kindheitserinnerung an Sarah war die, dass sie immer die Nase in einem Buch stecken hatte, genau wie Jazzy. Obwohl er den Eindruck hatte, dass aus seiner Tochter, wäre sie bei besserer Gesundheit, kein so großer Bücherwurm geworden wäre. Jazzy war von Natur aus extrovertiert, während man Sarah als introvertiert bezeichnen konnte.
»Lass uns hier reingehen«, schlug er vor und drückte die Tür zum Buchladen auf.
Sarahs Buch stand auf einem Ständer in der Ladenmitte, umgeben von den beliebtesten Charles-Dickens-Büchern, die gern von den Besuchern des Festivals gekauft wurden – Ein Weihnachtsmärchen, Große Erwartungen, David Copperfield, Oliver Twist, Eine Geschichte aus zwei Städten. Er hatte sie Jazzy alle vorgelesen. Eine Geschichte aus zwei Städten gefiel ihm am besten. Er liebte die Eingangszeile. Die ziemlich gut das Paradoxon seines eigenen Lebens mit einer kranken Tochter auf den Punkt brachte: Es war die beste und die schlimmste Zeit …
Im Augenblick, da Jazzy so strahlend und gesund wirkte und Sarah wieder in Twilight war, hatte er das Gefühl, die allerbeste Zeit zu erleben.
Sie gingen suchend an den Regalen entlang, aber sie fanden sie nicht. Gerade als Travis anfing zu glauben, er habe sich geirrt, entdeckte er ein Paar schwarze Stiefelspitzen, die ihm bekannt vorkamen. Sie schauten unter dem mit Büchern bedruckten Vorhang hervor, der den Geschäftsbereich vom Lager abteilte.
Travis legte einen Finger auf die Lippen, nahm Jazzy bei der Hand und deutete auf die Stiefelspitzen. »Da ist sie«, flüsterte er.
Jazzy machte einen Schritt nach vorne und zog den Vorhang zur Seite.
Dort saß Sarah in einem alten, dick gepolsterten Sessel, der dasselbe Muster hatte wie der Vorhang. In der Hand hielt sie eine Ausgabe von Die Zeitfalte. Ihr Zopf fiel über ihre Schulter nach vorne auf die Brust. Obwohl Travis nicht darauf starren wollte – und schon gar nicht vor seiner Tochter –, konnte er den Blick nicht von der wohlgeformten Wölbung unter dem flauschigen blauen Pullover wenden, der die gleiche Farbe hatte wie ihre Augen.
»Treffer!«, krähte Jazzy. »Hol dein Handy raus, Daddy, und fotografier uns!« Und ohne sich bitten zu lassen, sprang seine von Berührungsängsten freie Tochter auf Sarah zu und setzte sich auf ihren Schoß.
Sarah machte ein Gesicht wie ein Reh, das von Autoscheinwerfern geblendet wird. »Komm rein und zieh schnell den Vorhang zu, bevor wir hier belagert werden«, sagte sie zu ihm.
Travis betrat den gemütlichen Schlupfwinkel und schloss den Vorhang hinter sich. Jazzy schlang einen Arm um Sarahs Hals, während er sein Handy hervorholte. »Sag cheeeese«, wies er seine Tochter mit einem breiten Grinsen an.
Travis drückte auf den Auslöser und besah sich anschließend das Bild auf dem Display. Jazzy hatte sich auf Sarahs Schoß gekuschelt und sah so süß aus wie immer. Doch was ihn wirklich überraschte – was ihm beinahe den Atem nahm –, war der liebevolle mütterliche Ausdruck auf Sarahs Gesicht, als wäre sie ganz vernarrt in sein Kind.
»Wie ist es geworden?«, fragte Sarah.
»Gut.« Er steckte das Handy zurück in die Tasche; aus irgendeinem unerfindlichen Grund wollte er nicht, dass sie das Foto sah.
Da waren sie nun, in einem überfüllten kleinen Lager, umgeben von Büchern. Er sah ihr in die Augen, und sie erwiderte seinen Blick. Travis verspürte ein Kribbeln, das er noch nie zuvor empfunden hatte. Er dachte wieder an den Kuss, den er ihr unter dem Mistelzweig gegeben hatte, und daran, wie sehr er sich wünschte, sie erneut zu küssen.
»Nun«, sagte er.
»Nun«, wiederholte sie.
Er rieb sich mit der Handfläche den Nacken und senkte den Kopf. »Schätze, du hast den ganzen Tag über zu tun.«
»Davon gehe ich aus.«
Er verlagerte sein Gewicht aufs andere Bein. Ihm war klar, dass sie gehen sollten, doch er wäre liebend gern hier, an diesem stillen, engen Fleckchen geblieben, an dem es nach Büchern und Sarahs unaufdringlichem Parfüm roch.
»Ist sonst noch was?«, fragte sie.
»Ähm, nein.« Geh. Aber er blieb stehen.
Jazzy saß immer noch auf Sarahs Schoß und blätterte in Die Zeitfalte. Sie schien die Schnitzeljagd vergessen zu haben und absolut zufrieden damit zu sein, den Tag hier zu verbringen.
»Nun, dann machen wir uns mal wieder auf die Jagd nach weiteren Fotos«, sagte er schließlich.
»Fotos. Richtig.«
»Wir sollten uns besser beeilen, denn …« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Wie du weißt, sind die Leute bei solchen Sachen ziemlich eifrig.«
Sarah nickte.
Verdammt, es war leichter, sich mit einem Einweckglas zu unterhalten. Warum gab er sich eigentlich so viel Mühe?
»Ich erinnere mich an die Geschichte. Sie ist schön. Liest du sie mir mal vor?«, wandte sich Jazzy an Sarah.
»Sicher«, erwiderte Sarah.
Jazzy suchte Sarahs Blick. »Wann?«
»Wann?«
»Ja. Wann liest du sie mir vor?«
»Ähm … ich weiß nicht.«
»Wie wär’s mit Heiligabend? Wir könnten diese Plätzchen aus deinem Buch backen. Du weißt schon, die, die Isabella und ihre Großmutter machen.«
»Schicksalsplätzchen.«
»Ja, wir könnten Schicksalsplätzchen backen, und dann könntest du mir Die Zeitfalte vorlesen.«
»Die Zeitfalte ist ein langes Buch, Jazzy«, sagte Travis. »Das kann man nicht an einem Abend lesen. Und außerdem wird Sarah an Heiligabend nicht in der Stadt sein. Wir beide können zusammen Weihnachtsplätzchen backen und in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr Die Zeitfalte lesen.«
Enttäuscht zog seine Tochter die Mundwinkel nach unten. »Na gut, dann eben so.«
»Vielleicht können wir ein andermal Schicksalsplätzchen backen«, schlug Sarah vor.
Travis verspürte einen Klumpen im Magen, und er warf Sarah einen Blick zu, der besagen sollte: Mach keine Versprechungen, die du nicht halten kannst.
Jazzy schüttelte den Kopf, und ihre Mundwinkel sackten noch tiefer. »Die Schicksalsplätzchen funktionieren nur an Heiligabend.«
»Du weißt doch, dass diese Sache mit den Schicksalsplätzchen nur ein Märchen ist, oder?«, sagte Sarah sanft.
Jazzy zog ein Gesicht, als hätte Sarah ihr soeben mitgeteilt, dass es keinen Weihnachtsmann gäbe. »Ja, sicher, das weiß ich. Ich dachte bloß, es wäre lustig … du weißt schon … so zu tun, als wäre es wahr.«
Das war gar nicht gut. Jazzy mochte Sarah mehr, als gut für sie war. Das Letzte, was er wollte, war, dass seine Tochter verletzt wurde. Er legte seine Hand auf Jazzys Schulter. »Wir müssen jetzt los, Kleines.«
»Okay.« Jazzy sprang von Sarahs Schoß.
Travis zog den Vorhang zurück und entdeckte einen Haufen von Leuten, die den Laden durchstöberten.
»Oh, seht mal!«, rief eine Frau. »Dort ist Sadie Cool!«
»Jetzt weiß ich, wie sich ein Reh während der Jagdsaison fühlt«, murmelte Sarah.
Gleich darauf wurden Travis und Jazzy von einer Horde von Schatzsuchern aus dem Lager und dem Buchladen gedrängt.